Читать книгу Die Anatomie der Potency - Nicholas Handoll - Страница 6
Vorwort zur deutschen Ausgabe
ОглавлениеDie deutsche Ausgabe des Buches von Nicholas Handoll, The Anatomy of Potency, Herfordshire 2000, ist in enger Zusammenarbeit von Martin Pöttner und Christian Hartmann entstanden. Die erste Übersetzung von Martin Pöttner wurde von Christian Hartmann durchgesehen und insbesondere auf osteopathische Genauigkeit hin überarbeitet. Darauf wurde der Text von Martin Pöttner nochmals durchgesehen und geglättet. So ist hoffentlich ein gut lesbarer deutscher Text entstanden, welcher der sprachlichen, rhetorischen und gedanklichen Subtilität des englischen Textes von Handoll einigermaßen gerecht wird. Insbesondere Handolls angelsächsisch geprägte, lapidar-freundliche Distanziertheit sollte in der deutschen Übersetzung nicht untergehen.
Nicholas Handoll ist praktizierender Osteopath und lehrt Osteopathie. Er bezieht sich auf die Kraniale Osteopathie William Garner Sutherlands, die ihm u. a. durch Rollin Becker vermittelt wurde. Darüber ist auch der Zugang zur Osteopathie Andrew Taylor Stills vermittelt. So legt Handoll in seinem Buch Wert darauf, die Prinzipien Stills und insbesondere Sutherlands zu vertreten und neu zu interpretieren. Dabei geht es vor allem um die wechselseitige Beziehung von Struktur und Funktion, die Einheit des Körpers und das Verständnis des Körpers als selbst-heilenden, selbstregulierenden und sich-selbst-anpassenden Organismus. Die z. T. traumatisch verursachten Verformungen des Primären Respiratorischen Mechanismus (PRM) werden als „Muster“ interpretiert, in die ein nach optimaler Gesundheit und Leichtigkeit strebender Körper „entweicht“ (escape), um auf diese Weise den PRM „ausführen“ (express) zu können. Dieses Entweichen folgt dem Evolutionsprinzip des „geringsten Widerstands“ (Herbert Spencer, Die ersten Prinzipien der Philosophie, JOLANDOS, Pähl 2004) – und auf diese Weise legt Handoll seine tiefe Verwurzelung im osteopathischen Denken dar.
Nach Handoll besteht der vollständige PRM demnach aus zwei unterschiedlich quantitativ nicht erfassbaren Komponenten: Einem anamnestisch wesentlich bedeutsameren „Muster“, das sich der gewöhnlichen Palpation entzieht und einer „Fluktuation“ in den Flüssigkeiten als Ausdrucksform eben jenes Musters. Beide Komponenten können nur in einem Zustand „erfühlt“ und anamnestisch zu beurteilt werden, in dem sich das Bewusstsein des Behandlers möglichst frei von den üblichen quantitativen Denkmustern befindet. Dieser Ansatz steht im krassen Gegensatz zu den Prämissen sämtlicher wissenschaftlicher Arbeiten im Sinne der evidence based medicine. Interessanterweise scheinen aber gerade die ganz in diesem Sinne entworfenen und durchgeführten Untersuchungen aufgrund ihrer widersprüchlichen Ergebnisse Handolls These zu stützen.
Darüber hinaus stellt Handolls Konzept historisch betrachtet einen Versuch dar, jene metaphorischen Chiffren zu entziffern, die Sutherland seinerzeit ohne weitere Erläuterungen aufgebaut hatte. Was bewegt die ZSF? Sutherland sprach vom „ATEM DES LEBENS“, vom „flüssigen Licht“, von der „Potency“ als „Flüssigkeit in der Flüssigkeit“ usf. In Sutherlands Texten wird immerhin deutlich, dass er an ein Energiepotenzial denkt (Sutherland-Kompendium, JOLANDOS, Pähl 2004) und bereits in seiner Schule begann schon die Interpretation dieser Idee im Kontext der Quantentheorie (Rollin Becker; vgl. als ersten Ansatzpunkt auch Anm. 186, II, 254 im Sutherland-Kompendium). Für Handoll scheint es recht deutlich, dass der bei Sutherland und in der Sutherland-Interpretation recht schwankende Ausdruck potency als „Potenzial“ wiederzugeben und entsprechend auch zu übersetzen ist (vgl. Seiten 214 f). Für die deutsche Übersetzung wurde jedoch der in der Sutherland-Tradition eingeführte Begriff „Potency“ beibehalten.
Handoll unterstellt die Existenz der mit den herkömmlichen Methoden nicht nachweisbaren Potency. Mithin lautet die Kernfrage in seinem Buch nicht mehr, ob es sie gibt, sondern schlicht: Woher kommt die Potency? Ihm zufolge entstammt sie nicht dem Körper. Sie lässt sich als etwas „wahrnehmen“, dass sich selbst nicht bewegt, aber anderes bewegt. Sie ist ein „Begehren“ (desire), Bewegung auszudrücken. Sie bewegt sich nicht selbst und findet ihre Quelle außerhalb des Körpers. Aber woher? Handolls umfangreicher Versuch, die nachklassische Physik zu rezipieren, soll darauf eine Antwort geben. Sie läuft darauf hinaus, dass es sich um die Energie der Dichte des Vakuums handelt. Dies wird in einzelnen, sehr gut nachvollziehbaren Schritten begründet. Dabei zeigt sich auch, dass das frühere Ideal einer „objektiven“ Messbarkeit gegenstandslos wird. Subatomare Partikel antworten nur auf die Frage, die man an sie stellt. Wird die Frage anders gestellt, antworten sie anders, wie sich besonders nachdrücklich im Doppelspalt-Experiment zeigt. Insofern muss man sich über die schwankenden Ergebnisse bei der Messung der Fluktuation der ZSF nicht sonderlich wundern. Denn offenbar hat es diese mit den fundamentalen Energieverhältnissen im Universum zu tun. Jeder Eingriff bestimmt mithin das Ergebnis mit. Auch die Palpation erweist sich somit nicht als „objektiv“.
Quantentheoretisch belehrt kehrt die Osteopathie der Art Handolls sicherlich bei Still und Sutherland ein. Denn diese hatten ja unterstellt, dass die Behandlung allenfalls die Hemmnisse beseitigen kann, welche die evolutionär ausgebildeten Selbstheilungskräfte des Körpers blockieren. Für Handoll besteht diese Blockade in einem unausgeglichenen Verhältnis der Energie im Körper des Patienten zur homogenen, glatten Energie des Universums. Der Behandler nimmt diese Störung wahr und versucht durch ein Bewusstsein, das auch die umgebenden Energien einschließt dem Patienten eine Möglichkeit zu schaffen, sein Verhältnis zur Energie des Universums wieder zu harmonisieren: „Ein Individuum stellt eine Störung in der Energie des Universums dar. Wenn diese Störung verworren ist, dann entsteht Krankheit. Wenn sie in Harmonie mit dem Universum ist, dann besteht Gesundheit.“ (218) Wenn also zusätzlich zur Störung der Energie des Universums, die in der Existenz des Individuums besteht, eine weitere Störung hinzukommt, dann entsteht Krankheit. Gesundheit besteht, wenn die zusätzliche Störung verschwindet. Die große therapeutische Aufgabe des Behandlers besteht dabei nicht mehr in einem aktiven eingreifenden Veränderungsprozess (Stichwort: Macht), sondern im stillen Gewahrsein der Existenzen von Behandler und Patient innerhalb einer weiter reichenden und für unsere Messmethoden unzugänglichen bestimmten Wirklichkeit. Gelingt es dem Behandler diesen Zustand während der gemeinsamen Zeit mit dem Patienten zu erreichen, wirkt er als stiller Mediator einer vollkommen unabhängig ablaufenden Harmonisierung des PRM-Musters des Patienten mit der Glätte der universellen Energie. Um in Stills Jargon zu sprechen: Der Behandler wird zum Werkzeug des großen Architekten.
Diese Position Handolls wird sicher kritisch erörtert werden. Dazu soll diese Übersetzung beitragen. Mit Handolls Buch wird die Osteopathie aber darüber hinaus insgesamt an verschiedene Diskurse anschlussfähiger. Handoll teilt die Überraschung der Quantenphysiker, dass die klassische Physik nur unter ganz streng definierten Bedingungen gültig ist. Das bleibt aus der Sicht von Außenbeobachtern innerhalb des physikalischen Diskurses und ist insofern gerechtfertigt. Doch die Newtonsche Physik wurde in weiten Bereichen von Philosophie, Wissenschaften und Gesellschaft in der Regel nicht als „gesunder Menschenverstand“ (common sense) empfunden, sondern angesichts der relativ unscharfen und fluktuierenden Alltagserfahrung doch als eher abstrakt. Der Erfolg dieser Theorie im Alltag besteht freilich in ihrer technisch-praktischen Anwendbarkeit. Mit ihr konnten die Dampfmaschine, die Eisenbahn bis hin zum Computer gebaut werden. Diese technischen Produkte bestimmen den Alltag der Menschen, weil sie den ökonomischen Erfolg der westlichen Gesellschaften ermöglicht haben. Aus dieser Perspektive wurde manches andere weggedrängt.
Doch die romantische Physik, die Kunstlehre des Verstehens (Hermeneutik), die antike Philosophie, auch die Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert erkannten auf je eigene Weise, dass die z. T. unscharfe, diffuse Alltagserfahrung sehr viel näher an der Erfassung der Wirklichkeit liegen könnte, als es die technisch klare Anwendung der klassischen Physik vermochte. So war es auch für den bedeutenden Evolutionstheoretiker Herbert Spencer klar, dass es in der Wirklichkeit keine kontradiktorischen Gegensätze geben kann (Wenn etwas der Fall ist, dann kann sein Gegenteil nicht der Fall sein – und umgekehrt). Diese auch sonst in der Philosophie seit Platon beachtete Wahrheit ist durch die Quantenphysik überraschend bestätigt worden. Im subatomaren Bereich zeigt sich, dass unsere oft harten Wirklichkeitskonstruktionen eher illusionär sind und die Frage aufwerfen, warum wir gelegentlich mit kontradiktorischen Gegensätzen arbeiten möchten. Es überrascht eher nicht, dass Werner Heisenberg von seiner experimentellen Erfahrung her Interesse an Goethes Farbenlehre entwickeln konnte. Im Kern der Realität gibt es keine kontradiktorischen Gegensätze, so etwa zwischen Quantitäten und Qualitäten, sondern immer nur Übergänge und das Zugleich verschiedener Möglichkeiten. Mithin kehrt die Physik mit der Quantenphysik aus einer Außenperspektive betrachtet zur allgemeinen Vernunft des Abendlandes zurück, und wird dort – mit Ausnahme der auf harte Fakten pochenden Behandler – gerne begrüßt. In diesem Zusammenhang dürfte es sehr spannend sein zu sehen, welche Möglichkeiten Handolls Buch für die Osteopathie erschließen wird – und welche potency sie tatsächlich besitzt.
PD Dr. Martin Pöttner
Christian Hartmann
Heidelberg/Pähl, 2004