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Die Fremden im Dorf

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Cléo wusste eine ganze Menge. Abgesehen von den Fortschritten bei der Belagerung konnte sie noch mehr berichten. Sie wusste beispielsweise von der Suche nach dem Schalter in Angelswin. Interessant wurde es, als Cléo von dem Abschnittsmagier erzählte, der seinerzeit das Schiff verschwinden ließ. Sie hatte seinen Aufenthaltsort herausfinden können und ebenso seine Identität. Oft schon war spekuliert worden, was mit dem Schiff geschehen war, aber nur die Theorie mit dem Magier machte wirklich Sinn. Cléo schlug darum vor, sich auf direktem Wege zu diesem Magier zu begeben und ihn notfalls zu zwingen, sein Geheimnis preiszugeben. Der Meister war einverstanden, und die Frau stand nun endlich von dem harten Bett auf. Die Räuber schliefen immer noch tief und fest, sie würden erst aufwachen, lange nachdem ihr Meister fort wäre. Cléo stieß sorglos die Zellentür auf und ging durch die große Halle, dicht gefolgt von dem Meister.

"Hast du alle Häftlinge hier getötet?'' wollte er wissen, während er sich umsah. Es schien wirklich wie ausgestorben.

"Was denkst du denn? In jedem Gefängnis besteht die Möglichkeit, dass es Unschuldige gibt. Komm mit, ich zeige dir, was ich meine.''

Sie schritten durch eine schwere Eisentür.

"Ach ja, übrigens'', sprach die Frau erneut. "Wie kann ich dich eigentlich anreden?''

"Ich heiße Nifanzi Latazt Natsadnu, aber im Normalfall nennen mich Freunde einfach Nilana.''

Sie lachte. "Ach, du hast Freunde? Na, wie dem auch sei, ist leichter zu merken. So, wir sind da. Leise jetzt.''

Die beiden schauten vorsichtig in einen langen Gang. Es schien sich um eine besondere Sicherungsanlage zu handeln, denn anstatt durch die üblichen Gefängniszelltüren wurden die Räume durch schwere, nahezu blickdichte Stahltüren verschlossen gehalten. Bis auf eine waren alle Türen aufgebrochen und getrocknetes Blut ließ Nilana ahnen, was hier passiert sein musste. Aus dem einzigen verschlossenen Raum drangen dumpfe Geräusche nach außen. Eine Frau schrie. Cléo schüttelte verbittert den Kopf.

''Stunden hat sie in der schmalen Kammer verbracht, ist beinahe verrückt geworden, hat wie im Wahn mit ihren blanken Fäusten gegen die Wände geschlagen, bis alle Kraft sie verlassen hat, ihre Hände blutig und taub waren und sie vor Erschöpfung eingeschlafen ist. Ich habe sie gesehen, durch die schmale Öffnung in der Tür. Plötzlich war jemand gekommen und hat mit ihr gesprochen. Er hieß René und schien wohl ihr Mann zu sein. Er meinte zu ihr so was wie 'Sie haben Ginny, und hinter mir sind sie auch her. Wenn du hier weg kommst, finde mich. Gemeinsam holen wir sie da raus.' Dann ist er wieder fort. Was das zu bedeuten hatte, weiß ich nicht. Aber seitdem sitzt sie da drin, schreit, schlägt gegen die Wände, wird ohnmächtig, wird wach, schreit und so weiter.''

''Und du willst ihr nicht helfen?'' fragte Nilana ungläubig.

''Wozu? Ich kümmere mich um die Schuldigen. Unschuldige müssen selbst sehen, wie sie zurecht kommen. Zumindest scheint sie zäh zu sein. Wer weiß, vielleicht findet sie tatsächlich einen Weg hinaus und kann ihrem Mann helfen. Das ist nicht unser Problem. Los, lass uns weitergehen.''

Nilana bemerkte beim Gang durch das riesige Gefängnis, dass sämtliche Leichen beseitigt worden waren. Wie sie das geschafft hatte, wollte er sich nicht ausmalen, denn dafür sah sie einfach zu attraktiv aus. Obwohl sie ein wahres Monster zu sein schien, konnte er es sich nicht verkneifen, sie genauer zu betrachten und tatsächlich anziehend zu finden. Die Kleine hatte sich in der Zwischenzeit gemausert. Wenn die Umstände anders gewesen wären, wer weiß, was aus ihnen hätte werden können. Und während er so seinen Privatgedanken nachhing, kamen sie schließlich auf den Vorplatz. Eine große, bräunliche Mauer umgab diesen Ort, und direkt vor ihnen lag ein gigantisches Eisenportal im Sand. Welche Kraft es aus seinen Angeln hatte heben können, war nicht ersichtlich. Das Material war gänzlich unbeschädigt; und das Tor lag etwa fünf Meter von dem Durchgang, den es einst verschlossen hatte, entfernt. Nun aber war die Sicht frei auf die Welt außerhalb des Gebäudes. Ein schmaler Pfad führte steil bergab in ein Tal, wo sich ein größeres Dorf befand. Hütten aus Bast und Holz, teils aus Steinen bestehende Gebäude und einige umzäunte Gebiete sowie ein paar Dutzend Felder gaben dem ganzen die Idylle einer malerischen Landschaft. Viele hundert Meter hinter dem Dorf stieg die Landschaft wieder an und wuchs letztlich zu einem gewaltigen Berg, dessen Gipfel in der Mitte gespalten war. Die Sicht war klar, die Luft frisch, und die Sonne stand tief am Horizont; es würde Nacht sein, bis sie im Dorf ankamen.

"Da unten werden wir uns neu ausstatten. Deinen Proviantbeutel kannst du getrost liegen lassen, denn wo wir hingehen, wird keine Zeit zum essen sein. Wir verpflegen uns in den Gasthäusern. Und jetzt komm.''

Entschlossen ging Cléo den Hügel hinab. Die Landschaft um sie herum leuchtete in einem satten Grün, weit und breit kein Feind, der hätte angreifen können, ohne bemerkt zu werden. Links und rechts des Tals standen vereinzelt Bäume, die einen Weg aus der Senke heraus zierten. Die beiden Erhebungen hatten ihre weitesten Wurzeln dicht beieinander, so dass der Eindruck entstand, man liefe in einen Krater. Auf dem Weg nach unten war Nilana neugierig geworden.

"Wie hast du es eigentlich geschafft, den Magier zu finden? Und warum hast du ihn dir nicht längst selbst vorgeknöpft, wenn du es doch weißt?''

Cléo lachte hell und klar. "Ich habe meine Beziehungen spielen lassen, junger Freund. So einfach ist das. Und was deine zweite Frage angeht, du scheinst nicht zugehört zu haben. Ich brauche deine Macht, um die Leute leiden zu lassen. Deswegen habe ich mich auf den Weg gemacht, um dich zu suchen.''

Es fiel Nilana schwer, zu verstehen, weshalb der Waldkobold sie in einem Gefängnis erwartet hatte. Sollte es ein Hinterhalt werden? Oder hatte es an diesem Ort ein Dimensionstor in eine andere Welt gegeben? Einstweilen musste die Grübelei verschoben werden, denn sie näherten sich den ersten Hütten. War von oben schon keine Menschenseele zu sehen gewesen, so mutete das Dorf nun wie eine wahrhaftige Geisterstadt an. Viele Gebäude waren verfallen, Hütten hoffnungslos auseinandergebrochen und die Ställe, in denen einst Tiere ihr Dasein fristeten, hatten scheinbar ausgedient. Die Frage erübrigte sich, ob Cléo für diesen Zustand verantwortlich war, denn man sah dem Dorf an, dass die Zeit an allem Schuld war. Womöglich hatten die Einwohner vor vielen Jahren in Frieden hier gelebt, bis sie gezwungen waren, zu fliehen.

"Hier werden wir wohl kein Essen bekommen. Ich hätte meinen Beutel doch mitnehmen sollen, jetzt liegt er oben beim Gefängnis.''

Nilana sah in die Vorratskammern; der Schimmel türmte sich auf alten Brotlaiben, die fetten Schinkenstücke waren von Ratten zerfressen worden. Selbst der Rum war ungenießbar, denn unzählige Fliegenschwärme hatten sich in die Flaschen und Krüge verirrt und waren jämmerlich ertrunken; jegliche Korken waren brüchig geworden und auch in den guten Alkohol gefallen.

"Hungern müssen wir dennoch nicht!'' rief Cléo von draußen herein. Nilana ging hinaus. Die anmutige Frau stand im Mondlicht und hatte fünf Ratten erbeutet, was den beiden ein ungenügendes Mahl bescherte. Zeitweise waren ihre Mägen wenigstens etwas beschäftigt.

"Morgen Abend legen wir uns schlafen'', meinte sie, als Nilana sich ein Lager machen wollte. "Heute Nacht gehen wir weiter. Je schneller wir an unser Ziel kommen, desto besser. Komm.''

Er wunderte sich auf dem Weg hinaus ein wenig. War sie nicht an diesem Dorf vorbeikommen, als sie zum Gefängnis ging? Hatte sie nicht bemerkt, dass das Dorf leer stand? Wieso meinte sie dann vorhin, dass man sich hier neu ausstatten könne? Als sie das Dorf verlassen hatten, drehte sich die Nymphe um.

"Seltsam'', murmelte sie. "Ich könnte schwören ...''

Dann ging sie um das Dorf herum und strebte den großen Berg an. Nilana fragte nicht, sondern folgte ihr artig. Aber nach einer Weile drehte sie wieder um und ging nun erneut auf eine der Baumreihen zu, die aus der Senke führten. Kurz, bevor sie die Bäume erreichten, blieb sie abermals stehen.

"Das kann doch nicht sein ...''

Nilana wurde es nun doch etwas zu bunt. "Hör mal, wenn du dir einen kleinen Spaß mit mir erlauben willst, dann lass es. Entweder du setzt deinen Plan richtig um, oder ich gehe wieder.''

Doch Cléo war nicht zu Späßen aufgelegt. "Gut, ich gebe es zu. Ich weiß nicht, was hier vor sich geht. Eigentlich kenne ich den Weg, aber dieser Talkessel verändert sich immer wieder. Und wenn ich ehrlich bin, dann hatte ich auch nicht erwartet, das Dorf leer vorzufinden. Irgendetwas ist hier faul.''

"Also ich bemerke nicht, dass sich etwas verändert, höchstens meine Laune. Vielleicht hast du ja einen Nervenzusammenbruch wegen dem Massaker im Gefängnis. Kommt schon mal vor.''

Sie schüttelte den Kopf. "Nein, Nilana, hier ist was im Busch. Da bin ich sicher. Nur was es ist, möchte ich gerne wissen.''

"Zumindest werden wir jetzt ins Dorf zurückgehen und uns schlafen legen. Vielleicht sieht die Welt morgen ja wieder anders aus.''


Nilana, der zuerst erwachte, traute seinen Augen nicht. Er und Cléo waren von einer Bande dunkler Gestalten umgeben. Sie waren augenscheinlich in lange Kutten gehüllt, die denen von Mönchen glichen. Ihre Kapuzen waren über die Köpfe gestülpt, doch sah man statt Gesichtern nur Schwärze.

"Cléo, wach auf! Wir haben Besuch!''

Die Frau rieb sich die Augen und sah die Verhüllten an. "Was wollt ihr? Wir haben keine Wertgegenstände bei uns, also könnt ihr wieder gehen.''

Eine der Gestalten hob einen Arm, woraufhin die beiden mit erstaunten Gesichtern an die Wand der Hütte gedrückt wurden, in der sie übernachtet hatten.

"Ihr habt das gemacht, stimmt's? Ihr wart das mit der Umgebung. Warum haltet ihr uns auf?''

Cléo versuchte vergeblich, sich von dem unsichtbaren Griff, der sie festhielt, zu befreien. Die Gestalten kamen näher. Immer noch war kein Ton zu hören, nicht mal der Atem dieser Wesen. Plötzlich kamen zu den sieben bisher anwesenden noch drei Geschöpfe hinzu. Sie sahen sich gegenseitig an und nickten dann. Scheinbar hatten sie es auf einmal furchtbar eilig, und sie verließen die Hütte. Nur einer blieb noch zurück; derjenige, der die beiden an der Wand hielt. Etwa vier Meter von ihnen entfernt, holte er mit dem anderen Arm aus und versetzte ihnen durch den folgenden Luftdruck einen solch gravierenden Stoß, dass sie durch die Wand flogen und im Gras liegen blieben. Als sie wieder zu sich kamen, stand eine aufgebrachte Frau über ihnen. Sie trug eine Schürze um ihren rundlichen Körper, und entnervt tippte sie mit dem Fuß auf den Boden.

"Könnter mer mal sahn, wer das nu zusammenflickt? Ich han heue doch schunn genuu ze tun, da kanni noch maar Durcheinanner wirklich nech gebruuche!''

Sie setzten sich aufrecht und sahen nach vorn. Aus dem großen Loch, das nun in der Hüttenwand war, blinzelte ein kleiner Junge ihnen entgegen. Aus dem Dorf waren laute Geräusche zu hören, Stimmengewirr und geschäftiges Treiben. Und die Gebäude sahen nun auch nicht mehr alt und verfallen aus, einige Kühe grasten auf einer umzäunten Weide, und auf den dicht bewachsenen Feldern waren Bauern mit ihren großen Sicheln am Werk. Die Frau ging wutschnaubend ins Haus zurück.

Nilana und Cléo standen langsam auf. Was war nur geschehen? Warum hatte sich das ausgestorbene Dorf wieder in einen von Einwohnern nur so strotzenden Ort verwandelt?

Die beiden gingen durch die Straßen, raubten hier und da ein paar Lebensmittel und setzten sich nahe des Marktplatzes zum Essen hin. Sie brauchten niemanden zu fürchten, schließlich hatten sie ihr Leben kaum mit etwas anderem verbracht als zu morden, zu stehlen und zu heucheln und waren geübt darin, einem Obsthändler selbst die Äpfel unter seiner Beobachtung wegzunehmen. Ratlos unterhielten sie sich über die weitere Reise.

"Wenn man die Fakten auf den Tisch legt, dann wird die Reise nun schwerer als gedacht'', brachte Cléo unter ständigem Kauen eines glänzenden Apfels heraus. "Nicht nur, dass die Suche nach dem Schiff an sich schon viel Zeit kosten wird. Jetzt stellen sich uns auch noch diese seltsamen Kerle in den Weg, die noch dazu über verdammt viel Macht verfügen. Selbst ich konnte mich nicht gegen den Griff dieses Wesens wehren.''

"Ja, du hast Recht'', entgegnete Nilana, der sich einen heißen Apfelkuchen vom Bäcker gönnte. "Mir war, als würde ich eines meiner eigenen Opfer sein und sekündlich an Bewusstsein verlieren. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken …''

"Was denn?'' wollte Cléo wissen.

"Ach, vergiss es. Ist wahrscheinlich bloß Einbildung. Auf jeden Fall dürfen wir uns von diesen Kerlen nicht einschüchtern lassen.''

"Das sowieso nicht.''

"Siehst du. Und es ist wichtig, dass wir rasch voran kommen. Bisher habe ich dich die Führung übernehmen lassen. Aber wenn du die Güte hättest, mir in etwa die Richtung zu sagen, in die wir müssen, dann hätte ich eine schnellere und weitaus gefahrlosere Reisemöglichkeit für uns.''

Cléo musste gegen das Bedürfnis ankämpfen, ihm um den Hals zu fallen. "Aber das ist ja großartig! Lass uns gleich aufbrechen.''

Sie verließen das Dorf und bewegten sich ein Stück weit auf die Grasfläche, dann blieben sie stehen. Nilana kramte in seiner altertümlichen Kleidung, während er sprach.

"Geh am besten etwas zur Seite, und fürchte dich nicht. Er ist ein guter Freund von mir.'' Dann holte er einen winzigen, silbernen Gegenstand hervor und rammte ihn tief ins Erdreich. "Und jetzt müssen wir ein wenig abwarten.''

Es dauerte einige Minuten, und Cléo fragte sich, mit was sie gleich unterwegs sein würden, als auf einmal eine Melodie an ihre Ohren drang, die wie Donnerhall klang. Es war eine verzerrte Melodie, und sie sah sich um, doch niemand war in Sicht. Dann bebte die Erde.

"Nilana, was zum Teufel ist das?'' wollte sie mit heiserer Stimme wissen.

Doch er stand nur grinsend da und sah auf das Erdreich, welches sich nun langsam vor ihnen erhob. Ein Maulwurfshügel war es zuerst, doch dann nahm dieser riesenhafte Größe an. Schließlich wurden sie von dem Aufwurf überragt, und zu Cléos großem Erstaunen und gleichzeitigem Entsetzen trat ein Erdwälzer aus dem Hügel hervor. Selten hatte sie diese Wesen gesehen, und stets hatte sie einen großen Bogen um sie gemacht, wenn es irgendwie ging. Viele Gerüchte hatte sie schon von Gheratij, dem Anführer dieser eigentlich vollkommen grausamen Geschöpfe gehört, die in manchen Welten auch als Erdhaie bezeichnet wurden. Wenn die Geschichten um die Ausmaße des Anführers stimmten, so befand sich vor ihnen lediglich ein niederer Abgesandter, obgleich er doch sehr groß war. Sie wollte ihn nicht unterschätzen, denn zu bekannt waren ihr die grausigen Tötungsmethoden solcher Vielfraße.

"Grüß dich!'' rief Nilana lauthals aus. "Ich hoffe, du kannst uns ein Stück mitnehmen. Meine Begleitung und ich wollen nicht mehr laufen. Tu uns den Gefallen, und du bekommst auch etwas Schönes von mir!''

Der Erdwälzer sah Cléo misstrauisch an, nickte dann aber zustimmend und neigte seinen finsteren, teils entstellten Kopf auf den Boden. Als die beiden aufsaßen, meinte er mit grollender Stimme:

"Gut festhalten! Und bedeckt eure Augen, es könnte Muttererde regnen!''

Mit einem Satz war das Geschöpf wieder im Erdreich und jagte davon. Trotz der Warnung riskierte Cléo ab und an einen Blick nach vorne: Ein gigantisches, unglaublich weit reichendes Netz aus Gängen tat sich vor ihnen auf. Nachdem sie dem Wälzer die ungefähre Richtung gesagt hatte, wusste er sofort, welche Abzweigungen er nehmen musste.








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