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Cléo, die Göttliche Nymphe

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Was passierte eigentlich im Hause des Kapitäns, nachdem Eldrit mit den vier Räubern abgezogen war? Die erste Zeit geschah nichts Aufregendes, außer dass der Baum im Vorgarten sich nun nicht mehr näher zum Haus bewegte. Die restliche Räuberbande ließ es sich weiter gutgehen; und wenn einer der Nachbarn zu einem Plausch mit Caspar vorbeikam, wurden alle still, um den Anschein zu erwecken, dass niemand daheim sei. Bald aber machte der Meister, dieser Junge in Mädchengestalt, ihnen unmissverständlich klar, dass man nicht wissen konnte, wann der Trollenprinz mit dem Kapitän wiederkehrte. Deshalb machten sich drei der Räuber daran, Caspars Platz einzunehmen. Bei den anderen Gesellen verursachte dieses Schauspiel meistens Gelächter, aber das störte sie nicht weiter. Alle drei hatten in etwa die Statur des Kapitäns, und sie waren wie Fugre durch unglückliche Umstände in die Bande gekommen, weshalb es ihnen nicht weiter schwer fiel, sich zu waschen und abzuschrubben, bis sie glänzten. Durch einige Kleidungsstücke des Kapitäns, welche nicht unbedingt als seine identifiziert werden konnten, machten sie in der Nachbarschaft schließlich den Eindruck, dass der alte Kauz von der Küste ein paar Tage verreist sei und diese netten Herren auf sein Haus aufpassten. Sie schauspielerten wirklich gut. Die drei waren im Gegensatz zu ihren Räuberkumpanen noch die ansehnlichsten Vertreter der Bande, weshalb man in dem Städtchen annahm, dass sie bei irgendeiner Agentur als Sicherheitsleute für Gebäude angestellt waren. So vergingen die Tage, und der Meister diskutierte immer öfter mit dem Stellvertreter von Yhildrat über die momentane Situation. Das erste endgültige Gespräch hielten sie, als in Keptem Linodarmas' Schloss der sadistische Oberst Zerval gerade die Axt des Zweihorns Chakt zu spüren bekam. Wie bei jeder Diskussion saßen der Meister und Yhildrats Stellvertreter am Küchentisch, während zwei der haushütenden Räuber unten am Strand das Schiff des Kapitäns reinigten.

"Es ist lange her, seit Hauptmann Yhildrat ging'', sagte der Räuber gerade. "Eigentlich sollten wir Caspar unterstützen, aber nun sitzen wir hier und drehen Däumchen. Langsam mache ich mir Sorgen.''

Der Meister nickte. Sein langes Haar vibrierte leicht, und seine Augen glänzten.

"Ich stimme dir zu. Zwar kann man nie wissen, wie lange eine Rettungsmission dauert. Dennoch bin auch ich voller Sorge. Aber eher um den Schützling. Solange der Kapitän nicht wieder unter uns weilt, wird niemand ruhig schlafen können, denn schließlich soll er der beste Beschützer für sie sein. Nun, zumindest glauben das alle.''

Der Räuber legte seinen Kopf schief. "Wie meint Ihr das, Meister?''

"Nun, lass mich offen sprechen.'' Er blickte sich um, ob auch niemand zuhörte. Selbst die anderen Räuber sollten nichts mitbekommen. "Caspar mag wohl eine ganz andere Aufgabe zuteil werden; die Geschichte von ihm als Beschützer soll erfunden sein.''

"Und woher habt Ihr das?''

"Von oberster Stelle.''

Der Stellvertreter des Hauptmanns bekam große Augen. Soweit bekannt war, konnten nur speziell ausgewählte Personen den Weg zu den Reichen Traryden beschreiten, wo die Oberen lebten.

"Von oberster Stelle?'' wiederholte er leise. "Verzeiht die Frage, Meister. Ich weiß, dass wir Eure grenzenlose Macht nicht anzweifeln dürfen, aber wie habt Ihr das geschafft?''

Der Meister lächelte. "Es sei dir verziehen. Doch werde ich dir eine Antwort auf ewig schuldig bleiben, denn dieses Wissen zu besitzen bist du nicht berechtigt. Es soll dir genügen, dass ich einen Weg gefunden habe. Und wenn alles stimmt, was ich hörte, dann müssen auch wir bald aufbrechen. Ich möchte zu gerne wissen, was genau mit dem Kapitän geplant ist. Denn das ist es, was ich nicht habe herausfinden können. Lass heute Mittag alle Männer im Wohnzimmer antreten. Ich werde inzwischen unsere Abreise vorbereiten.'' Damit ging der Meister wie schon oft aus dem Haus.

So erfuhr die gesamte Bande am Mittag von der bevorstehenden Reise und wohin sie ging. Obwohl der Meister von einer baldigen Abreise gesprochen hatte, kamen Eldrit und die anderen bereits in Wolkenlauf an, als der Aufbruch stattfand. Wie bei den Gefährten, die mit Kuno im Gasthaus einkehrten, so war es auch bei den Räubern in der Menschenwelt gerade finstere Nacht. Der Meister hatte mit den Oberen die Bedeutung des Baumes im Vorgarten diskutiert, jedoch riet man ihm davon ab, diesen als Portal zu benutzen, weil die Reise dadurch zu lange dauern würde. Man hatte es für besser empfunden, ihn und die Räuber über das Meer zu schicken. Mitten auf See sollte es einen Zugang in eine andere Welt geben, wo sie schon erwartet würden. Also machten sich alle mit der Cerpat auf den Weg. Zum Glück hatte ein schlanker, sportlicher Räuber mit kräftigen Armen Erfahrung mit Schiffen. In dieser Nacht machten sie ordentlich Fahrt, und als das dritte Mal der Mond schien, kam Nebel auf. Der Meister hielt alle dazu an, sich umzusehen. Irgendwo musste bald etwas zu sehen sein, meinte er. Und er behielt Recht: Aus dem Nebel stieß ein kleines Ruderboot hervor, das ohne Besatzung war. Der Meister hatte seine Anweisungen, und so kletterte man in kleinen Gruppen über eine Strickleiter in das Boot und fuhr in den Nebel hinein. Der sportliche Räuber sollte mit der Cerpat zurückfahren, und einer der haushütenden Räuber sollte seine Rolle weiterspielen. Jede Gruppe, die in den Nebel fuhr, fand sich plötzlich in einem weißen, grellen Raum wieder, an dessen Wänden in roter Schrift nur ein Satz geschrieben stand:

Wartet hier!

Das Boot wurde zurückgestoßen, damit die nächste Gruppe herkommen konnte. Als schließlich der Meister mit Yhildrats Stellvertreter und zwei anderen Räubern im Boot saß, wünschten die beiden übrigen ihnen noch viel Glück und das Schiff fuhr davon.

Sie staunten über den Raum. Er schien genau hier aus dem Wasser zu ragen, und das weiße Ufer führte ins Meer hinein. Als alle anwesend waren, versank das Boot und der Raum schloss sich um sie herum; die rote Schrift verschwand. Dann nahm die Helligkeit langsam ab, und sie konnten die Umgebung erkennen: Sie befanden sich in einem Gefängnis. Zu allem Unglück waren sie im Inneren einer großen Zelle gelandet, und es schien ein gewaltiges Gebäude zu sein. Durch die Gitterstäbe konnte man eine große, bräunliche Halle erkennen, die von einigen steinernen Säulen gestützt wurde und an deren Seiten links und rechts auf sieben Ebenen die anderen Zellen verteilt waren. Sie selber waren im Erdgeschoss gefangen und gerade wollte der Stellvertreter des Hauptmanns seinen Unmut äußern, als ...

"Ah, ihr seid da!''

Sie drehten sich um, und hinter ihnen auf einem der vier rostigen Stahlhochbetten lag eine atemberaubend schöne Frau, allem Anschein nach eine Göttliche Nymphe. Ihre dunkelblauen Haare, die sich bis zu den Hüften erstreckten, hüllten sie ein wie eine Decke, und ihre bronzefarbene Haut schimmerte im Zwielicht. Die Augen glichen mandelförmigen Vollmonden. Pupillen besaß sie scheinbar nicht, doch wenn man genauer hinsah, konnte man die grüne Iris als winzigen Punkt ausmachen. Ihre Kleidung ließ darauf schließen, dass sie noch nicht lange hier verweilt hatte, denn wie aus einem Königshaus muteten das mit Diamanten besetzte, knappe Oberteil und der leichte, mit Spitzen versetzte Rock an. Als sie den Meister erblickte, blitzten ihre Augen auf, und sie lächelte.

"Seid willkommen. Ich bin Cléo, eure Begleitung für die nächsten Tage. Niemand kennt sich so gut in dieser Welt aus wie ich, und niemand wird euch helfen, wenn ihr von dem Weg abkommen solltet, den ich euch entlang führe. Tut, was ich sage, das ist die Bedingung. Und nun kommt, ihr starken Männer. Legt euch schlafen.''

Ihre Stimme war wie Glockenklang in ihren Ohren; einzig den Meister konnte sie nicht erreichen, vielleicht auch mit Absicht. Sofort legten sich alle Räuber auf den groben Steinboden und auf die Betten, und rasch waren sie eingeschlafen. Der Meister sah sie mit ernstem Gesicht an.

"Wo ist unser richtiger Kontaktmann? Und warum hast du gerade mich von deinem Schlafzauber verschont?''

Er wusste direkt, dass etwas nicht stimmte, als er Cléos Stimme hörte. Laut seinen Informationen sollte ein Waldkobold auf sie warten. Die Frau lächelte.

"Gut erkannt, mein junger Freund. Ich kenne dich und deinesgleichen. Ihr wart einst ein zahlreiches Volk, aber inzwischen hat man dafür gesorgt, dass es nur noch drei von euch in ganz Bunyarba gibt. Dass du den Trollenprinzen täuschen konntest, wundert mich nicht. Ich frage mich nur, was du dir davon erhofftest.''

Der Meister zuckte mit keiner seiner langen, weiblichen Wimpern. "Erst will ich wissen, was du weißt und warum du hier bist.''

Cléo nickte. "Na fein. Es ist ja kein allzu großes Geheimnis, dass die Bruderschaft den Oberen irgendwann lästig wurde. Nur, dass sie drei Mitglieder übrig gelassen hatten, war ihnen entgangen. Ihr habt eine hervorragende Art, euch zu tarnen und sämtliche Details eurer Vergangenheit zu verwischen. Von dem dummen Kobold hatte ich kurz vor seinem Ableben erfahren, dass bald eine kleine Räubergruppe herkommen soll. Ich dachte eigentlich nur an ein nettes Gemetzel zum Schluss, aber als ich deine Augen sah, war mir sofort bewusst, wen ich vor mir hatte.''

"Und woher kennst du meine Augen?'' fragte der Meister schon mit fast eindeutiger Gewissheit, die Antwort bereits zu kennen.

"In diese Augen habe ich geschaut, als mich der Mörder meiner Schwester anblickte, bevor er abzog. Du hast mich damals verschont. Auch dies ist eines der Rätsel, die du mir aufgibst, junger Freund.''

Natürlich hatte er sie ebenfalls längst erkannt. Diese Haut, diese Haare gab es nicht mehr sehr oft heutzutage. Vor ungefähr zwanzig Jahren hatte er noch seine richtige Gestalt gehabt, und damals hatte es ihm großes Vergnügen bereitet, auf Wunsch anderer oder einfach zum eigenen Spaß irgendwelche Leute zu töten. Das war noch die gute, alte Zeit, bevor die Oberen seinesgleichen umbrachten, da alle wie er waren. Die Bruderschaft nahm Leben, und sie schenkte Leben. Wenn ihnen danach war, konnten sie monatelang jemanden foltern, ihn wahnsinnig machen und zum Schluss töten. Oder sie waren so gnädig und ängstigten ihre Opfer ein paar Mal, bis sie diese dann doch ziehen ließen. Der Meister hatte damals ganz genau gewusst, dass die Schwester seines Opfers zusah. Cléo war schon immer eine kleine Schönheit gewesen, und er hatte sich erhofft, sie als Frau wiederzusehen und sie als Liebesabenteuer in seinem Leben verbuchen zu können. Als die Bruderschaft hingerichtet wurde, war es der Meister – und laut dieser Frau außerdem zwei andere Mitglieder – der überlebt hatte. Der Anführer der Bruderschaft hatte alle gewarnt, doch nur der Meister war schnell und schlau genug gewesen, sich dem Todesurteil zu entziehen. Er ging davon aus, dass sie ihn bezüglich der anderen zwei Überlebenden anlog, denn anderenfalls verloren sich ihre Spuren und er hatte bis jetzt nie wieder von ihnen gehört. Der Meister, ab diesem Tag in seiner ständigen Rolle des Mädchens, fand durch zwielichtige Beziehungen den Weg zu den Oberen, und immer musste er seinen Hass gegen sie unterdrücken, um nicht entlarvt zu werden. Irgendwann, so war seine Hoffnung, würde er es ihnen heimzahlen. Von einem Informanten hatte er schließlich erfahren, dass eine hohe Belohnung warten würde, wenn man einen gewissen Menschen bei seiner Aufgabe, ein Mädchen zu bewachen, unterstützen würde. Geld konnte der Meister immer gebrauchen, also setzte er sich mit Yhildrat und seiner Räuberbande in Verbindung, versprach ihnen einen großen Anteil an der Belohnung und machte ihnen seine Regeln klar. Schon einige Zeit hatte er nun nicht mehr daran gedacht, was sein eigentlicher Plan war. Doch dieses Weibsbild verstand sich perfekt darauf, ihn auf eine Idee zu bringen. Nur warum?

"Jetzt sag mir endlich, weshalb du hier bist. Wenn du mich hättest töten wollen, dann wäre das längst geschehen. Also was soll das Theater?''

Cléo grinste. "Aber, aber, mein junger Freund. Du willst doch nicht böse werden, oder? Es sei denn, du willst auf dich aufmerksam machen. Ich möchte dir ein Geschäft vorschlagen.''

Der Meister blickte misstrauisch in ihre Augen, hörte jedoch aufmerksam zu.

"Wie du es früher geliebt hast, zu töten, so ist es nun meine Leidenschaft geworden. Aber ich hätte gerne deine Selbstbeherrschung und deine speziellen Kräfte dafür. Mir fehlt die nötige Disziplin, ich gebe es zu. Viel zu schnell sind sie hinüber. Weißt du, ich will sie leiden sehen, will sie foltern, will sie quälen. Aber stets passiert mir das gleiche. Ein Hieb, schwupp, und ihre Leben sind dahin. Außerdem hätte ich mit deiner Macht soviel mehr Möglichkeiten. Welche Qualen, welch Leid! Aber ich besitze diese Macht nicht. Doch eure Bruderschaft war stets dafür bekannt, diese und andere Mächte an ausgewählte Leute übertragen zu können.''

Der Meister musste laut lachen. "Du bist ja verrückt! Selbst wenn ich dir diese Macht übertragen würde, was nie der Fall sein wird, du wärst in genau der gleichen Gefahr wie ich. Du könntest nicht mehr morden, wie es dir gerade passt, sondern würdest beim ersten Todesschlag von den Oberen entdeckt und hingerichtet werden. Im Übrigen wirst du bisher nur deswegen überlebt haben, weil du wahrscheinlich als Scharfrichter arbeitest und nur sündenvolle Wesen tötest.''

Die Frau nickte. "Wiederum gut erkannt, junger Freund. Wenn ich nur allein die Sünder dieser Welt schon quälen dürfte, wie ich will, dann wäre es ein Genuss. Doch was die Schattenseite deiner Macht angeht, da kommen wir zum geschäftlichen Teil. Wie du schon richtig sagtest, würde ein qualvolles Massaker nur von den Oberen verhindert werden. Demzufolge, wenn sie nicht wären, könnte man frei tun und lassen, was man will, sehe ich das recht?''

Der Meister nickte; er ahnte, was sie vorhatte.

"Also ist die einzige Lösung für unsere Freiheit, dass man die Oberen tötet.''

"Und wie stellst du dir das bitte vor? Jedes Kind weiß doch, dass sie nicht getötet werden können. Viele haben es bereits versucht und sind gescheitert. Und das Hindernis ist ja auch, dass nicht jeder zu ihnen gelangt. Ich komme zwar hinein, aber wenn ich sie töten könnte, glaubst du nicht, ich hätte es längst getan?''

Cléo sah aus der Zelle hinaus in die Halle.

"Ja, ich weiß. Du hast einen Hass auf sie, wie ich ihn auf jemand anderen hege. Und dennoch, es gibt einen Weg.''

"Und wie?''

Nun blickte sie ihn wieder an, ihre Augen funkelten. "Dir müsste ebenfalls zu Ohren gekommen sein, dass dieser Mensch, auf den du achtest, mehr ist als nur ein Kinderhüter. Aber ich weiß Genaueres. Du erinnerst dich an einen Erfinder namens Yol?''

Der Meister verdrehte die Augen. "Oh nein, komm mir doch bitte nicht mit diesem Kindermärchen! Das Schiff existiert nicht, selbst wenn du ganz Bunyarba danach absuchst.''

Cléos Lippen wurden von einem wissenden Lächeln umspielt. "Ein Kindermärchen nennst du es? Warte mal ab. Yols kleine Tochter ist gesichtet worden.''

"Wo? Und vor allem, wann?''

"Zur Zeit wird in Ryes eine Villa belagert, in der sich die kleine Göre aufhalten soll. Seit ungefähr zwei Monaten weiß man davon.''

Der Meister hätte ausrasten können. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits auf der Suche nach Yhildrats Bande gewesen. Gerüchte hörte man am ehesten in Kneipen und auf nächtlichen Marktplätzen, er aber hatte jegliches Gerede vermieden, um so schnell wie möglich voranzukommen.

"Komm schon, du weißt, was man sich über das Schiff erzählt! Mit dieser Macht könnten wir die Oberen beseitigen und dann tun und lassen, was wir wollen! Was sagst du?'' Dass sie noch einen ganz anderen Plan verfolgte, verschwieg sie.

Und obgleich er ahnte, dass die Oberen nicht der einzige Grund für ihre Motivation waren, meinte er: "Einen Versuch wäre es wert. Erzähl mir alles, was du weißt.''

Tausendfürst

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