Читать книгу Wild leben! - Nick Baker - Страница 13
Klar zu sehen
ОглавлениеAll das erklärt bis zu einem gewissen Grad die Position unserer Augen, aber was ist mit der eigentlichen inneren Mechanik des Auges? In verschiedener Hinsicht ist das sogar noch relevanter für das Thema dieses Buches; schließlich können wir an der Position unserer Augen nicht viel ändern, aber wie wir die sensorischen Informationen in unserem „geistigen Auge“ nutzen und verarbeiten, ist manchmal wahrscheinlich wichtiger für die „Renaturierung“ unseres Kopfes als die Rohmaterialien, die uns zur Verfügung stehen. Darauf werden wir in späteren Kapiteln noch genauer eingehen.
Um uns wirklich zu verstehen, müssen wir die Dinge manchmal wie bei einer Maschine auseinandernehmen, sie zerlegen. Denn wenn wir wissen, woraus wir bestehen, können wir unsere Stärken besser einsetzen und bessere Methoden entwickeln.
Wir verstehen nun also, warum unsere Augen vorn an unserem Kopf sitzen, und was uns das für Vorteile verschafft. Das wirklich Interessante jedoch passiert, wenn Licht in die Augen eindringt. Das menschliche Auge ist bemerkenswert. Es hat grundsätzlich die Fähigkeit, einen außergewöhnlichen Bereich des Lichtspektrums über neun Zehnerpotenzen, zehn Millionen Farben und schwaches Sternenlicht bis helles Tageslicht wahrzunehmen; zu jedem gegebenen Zeitpunkt ist es jedoch auf einen sehr viel kleineren Bereich beschränkt. Das erreicht das Auge durch eine Alchemie aus Licht, Proteinen und Elektrizität. Der Vorgang verläuft so bewundernswert nahtlos, als wäre es Zauberei, und um diesen Lichttrick zu durchschauen, müssen wir hinter die Kulissen sehen und die Geheimnisse des Zauberkünstlers lüften.
Wenn Licht durch die Hornhaut auf die Rückwand des Augapfels fällt, laufen mehrere Prozesse gleichzeitig ab. Zunächst einmal löst die Menge des Lichtes, das auf der Netzhaut auftrifft, unmittelbare physische Anpassungen des Auges an sich aus. Das Auge kann die eintretende Lichtmenge steuern, indem es die Blende in der Iris zusammenzieht, dem farbigen Teil des Auges. So wird ganz einfach die Pupille, das Fenster des Auges, größer oder kleiner (siehe auch S. 66–7).
Die wahre Magie findet aber an der Rückwand des Auges statt, auf der Netzhaut. Sie wandelt die Lichtenergie in elektrische Impulse um, die mit dem Hirn kommunizieren – tatsächlich ist die Netzhaut technisch gesehen ein Teil des Gehirns und der einzige Teil des zentralen Nervensystems, der sich betrachten lässt, ohne zuerst ein Skalpell zur Hand zu nehmen.
Die Oberfläche der Netzhaut besteht überwiegend aus zwei Arten von Zellen, Zapfen und Stäbchen. Wie sie funktionieren und nicht funktionieren, erklärt, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen, und wenn wir ihre Funktionsweise verstehen, hilft uns das gewaltig dabei, unsere Augen zu Höchstleistungen anzutreiben.
Der erste Zelltyp, die Zapfenzellen, sind für das Farbsehen verantwortlich. Sie haben sich für die Sicht am Tage entwickelt. Bei schwacher Beleuchtung reagieren sie jedoch nicht. Stellen Sie sich nur mal vor, Sie betrachten nicht die Seiten dieses Buches, sondern einen leuchtend blauen Morphofalter, der auf einer roten Blüte sitzt, umgeben vom grünen Laub des Regenwaldes. Diese farbenprächtige Szene ist deshalb so farbenprächtig, weil die sieben Millionen Zapfenzellen im Hintergrund Ihres Auges Ihnen auf irgendeine Art vermitteln, dass sie es ist. Weil wir trichromatisch (dreifarbig) sehende Tiere sind, können wir ausgezeichnet einen Farbbereich im visuellen Spektrum erkennen und unterscheiden, vielleicht bis zu zehn Millionen. Das ist der Tatsache geschuldet, dass wir drei verschiedene Arten (daher das „tri“ in trichromatisch) von Zapfenzellen besitzen. Jede davon reagiert auf eine andere Farbe, nämlich auf Blau, Grün oder Rot. Anders gesagt: Unterschiedliche Zapfen sind empfindlich für unterschiedliche Wellenlängen des Lichts – kurze, mittlere und lange Wellenlängen. Das Licht, das vom Flügel des Morphofalters reflektiert wird, verursacht eine starke Fotoerregung in den Zapfenzellen, die für diese Wellenlängen am kurzen Ende des Lichtspektrums empfänglich sind, und wird daher blau wahrgenommen, während gleichzeitig das Licht, das von den Blütenblättern und dem umgebenden Laub reflektiert wird, die Zellen der anderen beiden Arten in helle Aufregung versetzt.
Der andere Zelltyp sind die Stäbchen, von denen wir 150 Millionen haben, und sie reagieren über tausendmal empfindlicher auf einfallendes Licht. Sie sorgen für unsere Nachtsicht. Die Stäbchenzellen als empfindlich zu bezeichnen, ist eine Untertreibung erster Ordnung; sie können ein einzelnes Photon entdecken, den kleinsten gemeinsamen Nenner der Lichtenergie. Am Tag jedoch funktionieren sie nicht – sie sind gesättigt, überstimuliert, unterworfen von den vielen Photonen, die unterwegs sind.
Farben bevölkern die gut beleuchtete Welt; wenn die Anzahl der Photonen sinkt, die uns von der Sonne her erreichen, werden die Zapfen nicht mehr stimuliert und die lichtempfindlichen Stäbchen kommen ins Spiel. Aber da sie nicht zwischen unterschiedlichen Wellenlängen dieses schwachen Lichtes unterscheiden können, sehen wir nur noch Farbtöne, was erklärt, warum die Welt für uns nachts schwarzweiß ist.
Die Art, wie Zapfen und Stäbchen unterschiedlich auf Licht reagieren, ist verantwortlich für mehrere häufig erlebte visuelle Phänomene wie das sensorische Miasma, wenn man eine Taschenlampe ausschaltet oder in die Nacht hinaustritt, die sogenannte „Dunkeladaptation“. In unserer überbeleuchteten Welt ist dieser Anpassungsvorgang ein wesentlicher Bestandteil unseres Verständnisses der persönlichen Renaturierung. Wir müssen lernen, uns von den Lichtern unabhängig zu machen und zu unseren natürlichen Sinnen zurückzukehren.
Zunächst muss man die Grundlagen dessen verstehen, was auf molekularer Ebene in den Zellen selbst vorgeht, die zugrundeliegende Chemie des Sehens.
Das einzige lichtvermittelte Ereignis beim Sehen findet statt, wenn ein Lichtphoton mit den Opsinen (lichtempfindlichen Proteinen) und Rhodopsinen (einem lichtempfindlichen Pigment) in den Stäbchen interagiert. Beide enthalten ein Molekül namens Retinol. Wenn das Opsin oder Rhodopsin von einem Photon getroffen wird, wird es durch die sogenannte Photoisomerisation in einen aktiven Zustand versetzt; es gibt Retinol ab, löst eine komplexe Kette chemischer Reaktionen aus und wird schließlich zum Neurotransmitter, der ein Nervensignal an das restliche optische System und wieder zum visuellen Cortex im Gehirn schickt. Sobald es sein Retinolmolekül in diese Kette abgegeben hat, ist das Opsin im Hinblick auf das visuelle System „chemisch erschöpft“; in diesem Zustand wird es „freies Opsin“ genannt und muss sich selbst wieder auffüllen und in den Vorzustand zurückversetzen, um für das nächste Photon bereit zu sein. Dieses Auffüllen des freien Opsins mit einem unveränderten Retinolmolekül dauert eine Weile, und diese Weile führt zu einer Verzögerung in unserem optischen System – die wir bewusst wahrnehmen, wenn wir uns an unterschiedliche Umgebungen anpassen. Die Zeitspanne, die dafür benötigt wird, ist als „Dunkeladaptation“ bekannt und dauert bei Zapfenzellen und Stäbchen unterschiedlich lange. Zapfen passen sich sehr schnell an Veränderungen der Beleuchtung an – denken Sie an das Hereinkommen von der sonnenhellen Straße in die düsteren Tiefen eines Ladens: Hier dauert die Anpassung etwas länger, als wenn Sie aus dem Laden wieder auf die Straße treten. Stäbchen dagegen sind viel, viel langsamer – ein Umstand, mit dem wir alle zu kämpfen haben und der, wenn wir ihn besser verstehen, uns zu einem visuell viel effektiveren Tier machen kann.