Читать книгу Vergiss nicht, mich zu lieben - Nicole Beisel - Страница 6

Brunch mit Folgen

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Der gestrige Abend verlief besser als ich befürchtet hatte. Meine anfängliche Nervosität verflog schnell und ich traf auf einige Kollegen, die sich nach meinem Befinden erkundigten und dabei dennoch diskret blieben. Aber eine Sache warf mich trotzdem völlig aus der Bahn: Timothy.

Nie hätte ich gedacht, dass ich ihn ausgerechnet auf der Feier der UBI wiedersehen würde. Ich bin mir nicht sicher, was Sam darüber denkt, aber ich habe mich so über dieses Wiedersehen gefreut, dass ich Timothy einfach zum Brunch einladen MUSSTE.

Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen und bin noch immer völlig durcheinander. Gleich werde ich ihn wiedersehen. Natürlich war es damals meine Entscheidung gewesen, Cookstown zu verlassen, aber ich habe mich hintergangen gefühlt in meiner damals hilflosen Situation. Als ich ging, habe ich gesagt, dass das Schicksal uns schon zusammenführen wird, wenn es denn so vorherbestimmt sein sollte. Es ist alleine einem Wunder zu verdanken, dass wir uns damals über das Internet quasi wiedergefunden haben, auch wenn Timothy für mich damals noch ein Fremder gewesen war. Und nun treffen wir uns erneut, rein zufällig – und sind beide in festen Händen. Seine Freundin sieht nicht schlecht aus, allerdings konnte ich sie kaum kennenlernen, weil sie so ruhig und zurückhaltend war, wobei ich nicht den Eindruck hatte als wäre sie eifersüchtig auf mich gewesen. Auch Sam schien irgendwie abwesend gewesen zu sein, und auch in der Nacht zeigte er sich mir gegenüber eher reserviert. Reden wollte er nicht mit mir, meinte aber, dass alles in Ordnung sei. Also versuchte ich zu schlafen und mich auf Rachel zu freuen, aber meine Gedanken drifteten immer wieder zu Timothy ab. Er wird dabei sein, in wenigen Minuten werden wir uns unten in der Lobby begegnen. Und während ich einen letzten Blick in den Spiegel werfe weiß ich nicht, auf wen ich mich mehr freue.

„So, kommst du?“ Fragend blicke ich Sam an und warte darauf, dass er meine Hand nimmt. Stattdessen vergräbt er seine beiden in seinen Hosentaschen.

„Ich glaube, du solltest da besser alleine hingehen. Ich wäre doch sowieso nur fehl am Platz und könnte mich nicht richtig mit euch unterhalten. Ich gehe ein wenig spazieren oder so. Wir fahren um drei hier los, ich schlage vor, wir treffen uns eine halbe Stunde vorher auf unserem Zimmer.“ Ich seufze und versuche, das laute Hämmern in meiner Brust zu ignorieren.

„Also gut, wie du meinst. Bis nachher.“ Mit einem kurzen Kuss verabschiede ich mich und gehe hinunter. Schade, eigentlich hätte ich ihn gerne Rachel vorgestellt. Kaum betrete ich die Lobby, kommt sie auch schon mit einem verhaltenen Freudenschrei auf mich zu gerannt, die Arme weit von sich gestreckt, sodass ich mich im ersten Moment frage, ob ich über Nacht fett geworden bin. Bis mir einfällt, dass ihre Freude über unser Wiedersehen genauso groß sein muss wie meine.

„Ah, da bist du ja, Liebes! Hallo! Ach, was freu ich mich dich endlich wiederzusehen!“ Mit Schwung nimmt sie mich in die Arme und drückt mich fest an sich. Wir haben uns wirklich lange nicht mehr gesehen.

„Hallo, Rachel. Und ich mich erst! Ich hab dich so vermisst.“ Erst jetzt bei Tageslicht und ohne Monitor fällt mir auf, dass ihre Haare ein wenig heller geworden sind. „Gut siehst du aus.“ Rachel lacht.

„Danke, du aber auch. Wo ist denn dein Freund?“ Ich versuche, gelassen zu klingen, als ich antworte.

„Ach, der hat sich ausgeklinkt. Wollte kein fünftes Rad am Wagen sein und möchte lieber einen Spaziergang unternehmen. Aber dafür hab ich jemand anderes eingeladen. Ich muss dir dringend erzählen, wen ich gestern zufällig getroffen habe.“ Rachel unterbricht mich.

„Deinen Anwalt und Ex-Freund?“ Sie grinst wissend.

„Ja, woher weißt du das?“ Rachel blickt an mir vorbei und nickt in Richtung der Eingangstür, die sich hinter mir befindet.

„Daher.“ Ich fühle mich ertappt und drehe mich um. Mein Herzschlag wird lauter und lauter und mein Puls scheint zu rasen. Ob ich Atemnot habe? Sicher nicht, sonst wäre Rachel mir längst zur Hilfe geeilt. Im Gegensatz zu mir lächelt Timothy selbstsicher. Natürlich hat Rachel ihn wiedererkannt, sie hat sein Foto im Internet gesehen, als ich noch Lilly hieß und unter meiner Amnesie litt. Mit offenen Armen kommt er langsam näher, seine Augen strahlen mich förmlich an. Er wirkt offener als noch am Abend zuvor. Vielleicht, weil er heute ohne Begleitung hier ist.

„Hallo, Elizabeth. Schön, dich zu sehen.“ Er drückt mir einen kleinen Kuss auf die Wange, der mich sofort in alte Zeiten katapultiert, sodass mir beinahe schwindelig wird. Wie kann er nach allem, was passiert ist, nur so locker, so freundschaftlich mit mir umgehen? Ich dachte, er hat gelitten, als ich ging.

„Hallo. Schön, dass du es einrichten konntest.“ Wir lösen uns voneinander und ich stelle die beiden einander vor. „Das ist Timothy, Timothy, das ist Rachel.“ Die beiden reichen sich zur Begrüßung die Hände. Ich könnte schwören, dass Rachel sichtlich begeistert von ihm ist. Er sieht tatsächlich gut aus, wie immer. Schnell beeile ich mich, zum eigentlichen Thema zu wechseln.

„Kommt, stürzen wir uns aufs Essen.“ Timothy hält mich zurück.

„Sollten wir nicht noch auf deine Begleitung warten?“ Irre ich mich, oder flackert ein kleines Licht der Hoffnung in seinen Augen auf?

„Er kommt nicht.“ Den Rest lasse ich unausgesprochen und wende mich wieder zum Gehen. Rachel und Timothy folgen mir. Im hoteleigenen Restaurant nehmen wir Platz, bestellen unsere Getränke und begeben uns dann an das üppige Büffet. Mein Magen knurrt, seit der Feier gestern Abend habe ich nichts mehr gegessen. Ich schlage mir den Teller mit allerlei Süßem und Herzhaftem voll und bin selbst erstaunt darüber, dass ich das alles auch tatsächlich verschlinge. Es ist ein seltsames Gefühl, wieder mit Timothy an einem Tisch zu sitzen und mit ihm gemeinsam zu essen, auch wenn Rachel ebenfalls anwesend ist.

„Du konntest schon immer gut essen, ohne zuzunehmen.“ Ich verharre in meiner Position, die den letzten Bissen in meinen Mund zu befördern versucht. „Entschuldigung.“ Timothy räuspert sich und gibt sich Mühe, im weiteren Verlauf der Mittagsstunden die Vergangenheit ruhen zu lassen. Rachel und ich reden viel über allgemeine Themen und Timothy bringt sich mit ein, wo er nur kann. Sam hätte ruhig mitkommen können, denke ich im Stillen. Aber andererseits ist es vielleicht ganz gut so.

Ich blicke auf die Uhr und werde traurig. „Ach Mist, schon viertel nach zwei. Ich muss hoch, wir fahren demnächst los.“ Auch Rachel fängt an zu schmollen, nur Timothy nimmt die Dinge so, wie sie sind. Natürlich, was sollte er auch sonst tun? Schließlich werden wir beide wieder zu unseren Partnern zurückkehren. Vielleicht sehen wir uns sogar so schnell nicht wieder, wer weiß.

Erneut stehen wir zu dritt in der Lobby und sehen dem nahenden Abschied ins Auge. „So, Liebes. Ach Mensch, ich will dich gar nicht mehr loslassen.“ Rachel drückt mich noch fester als vorhin zur Begrüßung. „Versprich mir, dass du weiterhin regelmäßig anrufst oder mir schreibst, ja? Und lass mich nicht wieder so lange warten, bis wir uns wiedersehen. Vielleicht kommst du ja doch hin und wieder mal nach Cookstown.“ Ich drücke sie ebenso fest. Auch mir fällt der Abschied schwer.

„Natürlich werde ich das. Vielleicht traue ich mich ja nun wirklich wieder öfter her.“ Rachel nickt an meiner Schulter.

„Ja, das wäre schön. Mach’s gut und pass auf dich auf, ja?“

„Na klar, mach ich. Du aber auch. Es war schön, dich wiederzusehen. Ich hab dich lieb.“

Mit Küsschen auf beide Wangen verabschieden wir uns. Rachel hat sich bewusst als Erste verabschiedet, wahrscheinlich wollte sie Timothy und mich alleine lassen, ehe ich zu Sam zurückkehre und meine Zeit in Cookstown erneut zurücklasse. Ich winke ihr noch einmal zu, ehe sie ganz aus dem Hotel verschwindet. Dann wende ich mich Timothy zu.

Erneut erhöht sich mein Puls und mein Brustkorb droht zu zerspringen. Trotzdem versuche ich, mir nichts davon anmerken zu lassen. Verlegen stehen wir einander gegenüber.

„Danke für die schönen Stunden mit dir. Hat mich sehr gefreut, dabei sein zu dürfen.“ Ich winke ab.

„Keine Ursache, gerne doch. Ich hoffe nur, deine Freundin ist nicht sauer auf mich.“ Bei diesen Worten bekomme ich Bauchweh, aber es ist nur fair, sie zu erwähnen, damit er sieht, dass ich akzeptiere, dass er nun zu ihr gehört.

„Ach was, die ist da recht locker. Und Samuel?“ Ich zucke mit den Schultern.

„Keine Ahnung, aber ich schätze, es wird okay sein.“

„Na dann …“ Er räuspert sich, ehe er fortfährt. „Ähm, wäre es, also … wäre es okay für dich, wenn wir in Kontakt bleiben? Kann ich … kann ich dich anrufen oder so? Oder dir mal schreiben? Natürlich nur, wenn du möchtest und wenn dein Freund nichts dagegen hat.“ Ich habe ihn selten so unsicher gesehen. Auch ich überlege erst einen Moment lang, ob ich das wirklich möchte und ob ich das kann, nach allem, was war. Und dann beantworte ich beide Fragen mit Ja.

„Natürlich, gerne. Warte bitte einen Moment.“ Ich laufe zur Rezeption und lasse mir Stift und Papier geben, dann schreibe ich ihm meine Adresse, Telefonnummern und Email-Adresse auf. Timothy tut es mir gleich, obwohl sich seine Daten in den letzten Jahren nicht geändert haben.

„Hier. Du kannst dich jederzeit bei mir melden, wenn du möchtest. Ich würde mich freuen.“ Er lächelt zaghaft, und nach einem kurzen Moment der Unsicherheit erwidere ich es. Ich schlucke schwer, als mir klar wird, was das für mich bedeutet.

Der Kontakt ist wiederhergestellt, das Band, das einst zerriss, wurde wieder zusammengeknüpft. Und meine Gefühle fahren Achterbahn. Innerlich schimpfe ich mich, weil ich doch mit Sam zusammen bin, und Timothy ist ebenfalls nicht mehr frei. Außerdem habe ich Timothy damals aus freien Stücken verlassen. Natürlich hat er mir sehr wehgetan, aber ich habe wohl nie ganz aufgehört, ihn zu lieben.

„Danke, das werde ich. Du kannst dich auch melden, wann immer du willst.“ Timothy lächelt und sieht dabei sehr glücklich aus. Er hat wieder diesen liebevollen Blick in seinen Augen, der mich schon so oft dahinschmelzen ließ. Wie konnte ich all das damals nur vergessen?

Schweigen füllt die wenigen Zentimeter, die uns nun nur noch voneinander trennen. Ich betrachte ihn, als würde ich ihn zum letzten Mal sehen. Seine Augen, seine Nase, sein Mund. Sein Mund … Noch ehe ich weiter darüber nachdenken kann, berühren sich unsere Lippen. Ganz sanft, zögerlich, fragend. Feuerwerke blitzen vor meinem inneren Auge auf, mir wird heiß und alles um mich herum dreht sich.

Wie die Drehtür des Hotels, und ohne darauf zu achten, wer gerade eintritt, habe ich mich in der Vergangenheit verloren.


Samuel

Vergiss nicht, mich zu lieben

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