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Die Erkenntnis

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Eigentlich dachte ich, ich hätte Timothy endgültig hinter mir gelassen, als ich Cookstown verließ, um in mein neues Leben zu starten. Neuer Ort, neue Wohnung, neuer Job. Aber das Wichtigste hat sich nicht verändert: Meine Gefühle.

Mein Leben musste weitergehen, auch ohne Timothy, und so habe ich mich auf Sam eingelassen. Ich sah ihn zufällig in unserer Bankfiliale, als er ein neues Konto eröffnen wollte. Er war mir zwar nicht auf Anhieb sympathisch, aber trotzdem hat er mich so lange mit seinem Charme becirct, bis ich schließlich weich geworden bin und einem Treffen zugestimmt habe. Danach ging alles recht schnell, wir hatten keine sonderlich lange Kennenlernphase. Vielleicht war das auch ganz gut so, denn hätte ich zu lange überlegt, wäre ich vielleicht noch ewig alleine geblieben. Ich konnte ja nicht wissen, dass ich Timothy tatsächlich eines Tages wiederbegegnen würde.

Und doch ist genau das passiert. Erst die Feier der Bank, dann der Brunch. Ich weiß noch nicht einmal, warum ich ihn so spontan dazu eingeladen habe, vielleicht, weil ich Angst hatte, ihn vorschnell wieder loslassen zu müssen. Das Schicksal hatte mir eine Chance gegeben, und nun wollte ich dem Schicksal ebenfalls eine Chance geben. Und dann dieser Kuss. War er es, der mich geküsst hat oder umgekehrt? Ich weiß es nicht mehr, und egal, wie lange ich weiterhin darüber nachdenke, so erhalte ich doch keine Antwort auf diese Frage, und im Endeffekt ist es auch völlig egal. Der Kuss hat mich innerlich aufgewühlt, es war so ganz anders als mit Sam. Obwohl ich weiß, dass ich mich – und Tim womöglich auch – in Teufelsküche bringe, habe ich ihn um ein gemeinsames Essen gebeten.

Aufgeregt betrete ich das griechische Restaurant.

„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“ Verlegen blicke ich mich um, Timothy scheint noch unterwegs zu sein.

„Guten Tag. Wurde hier ein Tisch reserviert auf den Namen Bold?“ Der Kellner schaut nach und tippt mit dem Zeigefinger auf einen kleinen Block.

„Ja. Folgen Sie mir bitte.“ Ich tue wie mir geheißen und folge ihm in eine ruhige Ecke am Fenster. An dem kleinen gedeckten Tisch nehme ich Platz, kurz darauf bringt er mir die Karte und nimmt mein Getränk auf. Ich versuche mich auf die Speisekarte zu konzentrieren, aber mein Blick schweift immer wieder hinaus auf die Straße in der Hoffnung, ihn irgendwo zu erblicken.

„Hallo. Tut mir leid, es ging nicht schneller.“ Erschrocken fahre ich herum und erhebe mich automatisch, um ihn zu begrüßen. Ich hatte ihn gar nicht kommen sehen. Timothy wirkt ein wenig gehetzt, aber keinesfalls verlegen und umarmt mich herzlich. Seine Lippen berühren lediglich die Luft neben meiner Wange, obwohl ich mir urplötzlich wünsche, es wäre anders.

„Hallo. Kein Problem, ich weiß ja, dass man keinen Einfluss auf die Dauer von Gerichtsverhandlungen hat.“ Wir lösen uns voneinander und setzen uns. Erst jetzt kann ich ihn richtig anschauen. Er sieht gut aus, sehr gepflegt, wie ein Anwalt eben aussieht, wenn er gerade bei Gericht war. „Wie ist es gelaufen?“

„Bewährungsstrafe für meinen Mandanten, aber aufgrund der Umstände kein schlechtes Ergebnis.“ Ich nicke. „Hast du schon gewählt?“

„Ja, ich nehme den Aphrodite-Teller. Hier.“ Ich reiche ihm die Karte, aber er lehnt lachend ab. Fragend schaue ich ihn an.

„Hast du keinen Hunger?“

„Doch, aber ich nehme das Gleiche. Es ist mein Stammgericht in diesem Lokal.“ Somit lege ich die Karte auf die Seite. Während wir auf unser Essen warten, reden wir über belanglose Dinge. Am liebsten würde ich mich mit ihm über den Kuss unterhalten, aber ich getraue mich nicht, dieses heikle Thema anzusprechen. Vielleicht will auch er es einfach nur vergessen, er muss ein ähnlich schlechtes Gewissen haben wie ich. Also schweige auch ich mich über diese kurzzeitige Annäherung aus.

Das Essen ist köstlich und wir finden immer wieder allgemeine Themen, über die wir uns unterhalten. Trotzdem ist jeder Bericht über mein neues Leben auch eine Erinnerung an meinen Weggang vor zwei Jahren, auch wenn keiner von uns beiden diese Zeit anspricht.

Nach dem Essen nehmen wir noch ein kleines Dessert, und plötzlich scheint Tim es nicht mehr auszuhalten.

„Hör zu, ich wollte dir gerne noch etwas sagen.“ Er wirkt sehr nervös, ganz anders als noch wenige Minuten zuvor, und auch ich bin gespannt auf das, was mich nun erwartet.

„Das mit dem Kuss … Es tut mir leid. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe.“ Verlegen druckst er herum. „Ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen, wegen Samuel oder so.“ Ich schlucke. Ich habe mir Sam gegenüber nichts anmerken lassen. Stattdessen habe ich nach dem Kuss versucht, mich wieder auf meinen ganz normalen Alltag zu konzentrieren. Aber ich weiß nicht, ob mir das so recht gelungen ist. Sam jedenfalls verhält sich wie immer.

„Kein Problem. Ich hoffe, dass bei dir und deiner Freundin alles in Ordnung ist.“ Tim nickt.

„Ich denke schon.“ Ich würde ihm gerne glauben, aber er wirkt nicht gerade glücklich. „Und bei dir und Samuel? Woher kennt ihr euch eigentlich?“ Seine Stirn liegt in tiefen Falten, während ich ihm die kurze Geschichte von unserem Kennenlernen erzähle.

„Behandelt er dich gut?“ Ich bin reichlich verwundert über diese Frage. Macht er sich etwa Sorgen um mich?

„Ja. Wieso fragst du?“

„Ich weiß nicht, er kam mir ein wenig … seltsam vor, als ich ihn traf. Als wäre er sehr streng. Wie heißt er nochmal mit vollständigem Namen?“

„Samuel Dalton.“ Timothy scheint zu überlegen.

„Ich glaube, der Name sagt mir auch was, aber vielleicht täusche ich mich nur. Ich möchte nur, dass es dir gutgeht.“ Ich lächle und senke den Blick, ehe ich ihm wieder in die Augen sehe.

„Das tut es, wirklich. Mach dir keine Sorgen.“ Behutsam lege ich meine Hand auf seine und werde mir erst Sekunden später dessen bewusst, was diese kurze Berührung erneut in mir auslöst. Diese Nähe, diese tiefe Zuneigung … Warum kann ich all das bei Sam nicht spüren? Und dann weiß ich es: Weil ich Timothy noch immer liebe, von ganzem Herzen. Ich habe ihn nie wirklich vergessen, und die Tatsache, dass wir uns zufällig wiedergetroffen haben, bestärkt mich in meiner Annahme, dass wir beide zusammengehören, auch wenn wir beide in mehr oder weniger festen Beziehungen stecken.

Normalerweise bin ich nicht so selbstsüchtig, und ich halte auch nichts davon, Menschen zu belügen, zu betrügen oder zu hintergehen. Ich tue auch niemandem gerne weh, aber in diesem Moment erkenne ich, dass ich endlich mal nur an mich denken muss. An mein Leben, an meine Wünsche, Träume und Gefühle.

Timothy wirkt nicht glücklich und auch ich spüre, dass Sam nicht alles für mich ist. Sollte es tatsächlich eine letzte Chance für Timothy und mich geben, werde ich diese nutzen – und zwar diesmal für immer.

„Wann sehen wir uns wieder?“ Timothy lächelt und scheint all seine Sorgen in diesem Augenblick zu vergessen, als er mir antwortet.

„Wann immer du möchtest.“


Samuel

Vergiss nicht, mich zu lieben

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