Читать книгу Die Aussenseiter und der Kampf um den Buchladen - Nicole Fünfstück - Страница 10
ОглавлениеKapitel 6 • Pegasus
Als ich später zum Tennisverein kam, warteten Sylvia und ihr Dreigestirn vor dem Eingang auf mich.
»Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast«, sagte Janine von oben herab und strich sich ihre akkurat geföhnten Ponyfransen aus der Stirn. »Und der Schönling hinter dem Tresen hat einen wesentlich schlechteren Geschmack als vermutet, aber wenn du ihn mitbringst, könnte ich mich dazu durchringen, dich zu meiner Geburtstagsparty einzuladen.«
»Er heißt X und ich passe. Aber du kannst ihn gerne fragen, ob er ohne mich kommen möchte. Er ist ein freier Mensch.« Das Wissen, dass sie nicht einmal seinen Namen kannte, hatte mich mutig gemacht, obwohl mein Herz jetzt raste. Was, wenn sie es tat und er ja sagte? Als Janine schwieg und ich den Ausdruck sah, der über ihr Gesicht huschte, musste ich grinsen. »Ach so, du hast ihn schon gefragt«, stellte ich fest. »Tja, dumm gelaufen.«
>High five!< Die Wächterin war begeistert.
Janines Gesicht verzog sich vor Wut. »Bilde dir bloß nichts darauf ein, Brillenschlange«, machte sie mich an. »Er ist nur ein gutaussehender Kellner mit einem schlechten Geschmack, was Frauen betrifft, und weit unter meinem Niveau. Aber eine wie du muss ja nehmen, was sie kriegen kann.« Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und stolzierte davon. Michelle und Ramona folgten ihr sofort, doch Sylvia warf mir einen kurzen Blick zu und ich hätte schwören können, dass sie mir zuzwinkerte, doch es ging zu schnell, um sicher zu sein.
Obwohl sich Michelle, Janine und Ramona redlich Mühe gaben, mich beim Training zu dissen, hatten sie wesentlich weniger Erfolg damit als sonst. Xs Kuss musste sich herumgesprochen haben und mein sozialer Status war in die Höhe geschnellt.
Mit entsprechend guter Laune kam ich zum Buchladen. Noahs Fahrrad war am Zaun festgemacht und Jo, der heute seinen Sozialdienst schob und Bücher sortierte, war bereits seit Stunden im Laden. Ich war somit die Letzte. Schnell durchquerte ich den Vorgarten und öffnete die Tür. Jo und Noah lehnten am Eingangstresen und unterhielten sich angeregt mit Mathilde.
»Vulkanchen, da bist du ja. Lass uns loslegen«, begrüßte mich Jo fröhlich. »Mathilde hat uns gerade gesagt, dass du im Raum der Bücher Ziele erscheinen lassen kannst, die du mit der Peitsche treffen musst.«
»Gut zu wissen«, entgegnete ich. »Aber vielleicht sollte ich es erst einmal schaffen, die Illusion der Peitsche aufrechtzuhalten.«
Mathilde lächelte, nahm den Schlüsselring und ging kommentarlos vor.
Da das Buch mit der Ritualbeschreibung noch auf dem Tisch lag, hätte ich eigentlich gleich mit den Übungen beginnen können, doch ich wollte unbedingt zuerst die Geschichte mit Janine loswerden.
»Irre!« Jo grinste. »Da wäre ich gerne dabei gewesen. Und du meinst, Sylvia hat dir wirklich zugezwinkert?« Er sah mich gespannt an.
»Es kam mir so vor, ja.«
»Sie scheint uns nach unserem Abenteuer ja doch ein bisschen zu mögen«, sagte er leise und mehr zu sich selbst.
Noah warf mir einen wissenden Blick zu und ich überlegte, ob ich etwas erwidern sollte, beschloss aber, es zu lassen. Ich kam schon mit meinen eigenen Gefühlen nicht klar. Wer war ich, dass ich mir zutraute, anderen Ratschläge zu erteilen? Ich nahm stattdessen das Druidenmesser aus der Schultasche, warf einen letzten Blick auf die Bewegung, die aus diesem eine Lichtpeitsche machen sollte, und führte sie aus. Die Peitsche erschien. Statt der gebogenen Sichel hing eine gleißend weiße Peitschenschnur am verzierten Silbergriff des Messers, doch als ich sie schwingen wollte, verschwand sie sofort wieder.
>Du spürst sie nicht, sie wird kein Teil von dir<, kommentierte die Wächterin das Offensichtliche.
»Hatte Mathilde gestern nicht gesagt, dass du aufhören musst, sie getrennt von dir zu sehen?«, fragte Jo im gleichen Moment. »Hast du das versucht?«
»Wenn ich es versucht hätte, wäre diese Frage überflüssig, und wenn ich wüsste, wie ich das hinkriegen soll, würde ich es versuchen.« Ich legte das Druidenmesser frustriert auf den Tisch. Wie so oft hatte ich das Gefühl, damit auch einen Teil von mir weggelegt zu haben.
»Das ist es.« Ich nahm das Messer wieder in die Hand. Jo, der bereits zu einer Erwiderung angesetzt hatte, schloss den Mund. Er sah aus wie ein Karpfen, der nach Luft schnappte. Ich unterdrückte ein Kichern und konzentrierte mich auf meine Aufgabe. Das Druidenmesser war im Laufe der Zeit zu einem Teil von mir geworden, so als würde ich die Bewegungen der verschiedenen Rituale mit meiner Hand ausführen, und die Peitsche war nichts anderes als die Verlängerung des Messers. Ich musste sie nur als eine solche ansehen. Mit neuem Elan wiederholte ich die Bewegung, die Lichtschnur erschien und ich schwang das Messer. Die Schnur wirbelte durch die Luft und knallte.
»Whoohoo!«, rief Jo und Noah klatschte.
»Wie war das mit den Zielen?«, erkundigte ich mich und lachte.
»Hier steht ein Spruch, der ähnlich kurios ist wie der des Wichtelrituals.« Jo, der weitergeblättert hatte, schüttelte den Kopf und schob das Buch zu mir.
»Die Peitsche knallt, schwirrt durch die Luft. Ein Ziel für sie wird hier gesucht. Ob starr, beweglich oder klein, ich lade dich hier zu mir ein«, las ich, wobei sich automatisch meine Wächterinnenstimme einstellte, die immer erklang, wenn ich Rituale durchführte oder mich durchsetzen musste. Jo hatte recht. Der Spruch war wirklich albern. Aber sehr wirkungsvoll, wie ich einen Augenblick später feststellen durfte, als eine rotglühende, etwa handballgroße Kugel auf mich zuschoss. Erschrocken duckte ich mich unter ihr weg. Sie flog einen Bogen, schlängelte sich durch ein Regal mit Kräutern, die in Glastiegel gefüllt waren, und verharrte dann mir gegenüber in der Luft. Ich behielt sie im Auge und hob das Messer. Als wäre das der Startschuss gewesen, schoss sie erneut auf mich zu. Die Peitsche knallte, doch die Lichtschnur verfehlte sie um einige Meter.
»Verdammt!« Ich sah zu, wie die Kugel wieder Anlauf nahm. Es waren mehrere Versuche nötig, bis ich sie endlich erwischte. Zwar streifte die Peitschenschnur sie mehr, als dass sie sie traf, aber trotzdem zerstob sie in unzählige, winzige, rote Partikel und verschwand.
»Yeah!«, schrie Jo begeistert.
»Los, Christina, nächster Versuch. Ich bin gespannt, was für ein Ziel jetzt auftaucht.« Noah sah mich abwartend an.
Ich wollte die Einladung gerade erneut aussprechen, als mir X einfiel. »Wie spät ist es?«, fragte ich Jo, der als Einziger von uns immer eine Uhr dabei hatte.
»Gleich fünf«, sagte er und ich zuckte zusammen.
»Morgen machen wir weiter«, versprach ich, legte das Druidenmesser auf den Tisch und die Peitschenschnur verschwand. »Ich muss um halb sechs am La Cuisine sein. X wartet auf mich.« Hastig wickelte ich das Messer in den Lappen und steckte es in die Sporttasche.
»Du wirst rennen müssen«, stellte Noah fest und erhob sich.
Jo stand ebenfalls auf. Er wirkte enttäuscht, sagte aber nichts.
»Morgen«, versprach ich und folgte meinen Freunden zur Tür des Raums. Ich wusste nicht, ob Jo extra langsam ging oder ob er es immer tat und es mir nur zum ersten Mal bewusst auffiel, weil ich es eilig hatte. Kaum hatten wir den Raum verlassen und die Tür hinter uns geschlossen, klopfte ich auch schon dreimal dagegen. »Wir sehen uns morgen in der Schule, ich bin weg.« Ich rannte zum Eingang, ohne eine Antwort abzuwarten. Kurz vor dem Tresen wurde ich langsamer und winkte Mathilde zu. »Verabredung«, rief ich keuchend und sprintete aus dem Laden.
»Ich dachte schon, du versetzt mich«, sagte X, als ich beim Café ankam. Er lehnte so an der Wand, wie ich es mir während meines Zahnarzttermins ausgemalt hatte und sah verboten gut aus. Statt des weißen T-Shirts mit dem La Cuisine Aufdruck, trug er jetzt ein schwarzes, das sich an seinen muskulösen Oberkörper schmiegte und darüber die offene schwarze Bikerlederjacke.
»Es tut mir leid, das Training hat länger gedauert als erwartet«, dehnte ich die Wahrheit ein wenig, blieb ein paar Schritte von ihm entfernt stehen und sah ihn entschuldigend an. Seine blonden Haare wurden nicht mehr durch ein Haargummi zurückgehalten und selbst die Schramme und der blaue Fleck am Kinn konnten seine Schönheit nicht mindern. Dann stutzte ich. Die Schramme sah wesentlich besser aus als am Mittag. Auch der Fleck hatte an Intensität verloren.
»Deine Verletzungen heilen wirklich schnell«, sagte ich atemlos, weil er den Abstand zwischen uns überwunden und meine linke Hand ergriffen hatte.
»Hmhm«, machte er, sah mir nachdenklich auf den Mund und zog mich langsam näher.
Verwirrt ließ ich die Sporttasche von der Schulter zu Boden gleiten. »Und die Rippen?«, fragte ich. Meine Stimme kiekste am Ende des Satzes.
»Sind noch da«, erklärte er. »Können wir jetzt bitte aufhören, über Belangloses zu sprechen, und uns küssen?«
Ich kicherte und warf einen nervösen Blick zu dem Fenster, hinter dem ich seine Wohnung vermutete. Würde er gleich mit mir dorthin gehen? Xs Geduld schien aufgebraucht, denn er zog mich in die Arme und unterbrach damit meine Überlegungen. Er roch nach Seife und Glückseligkeit. Wie immer, wenn ich ihm so nah war, legte mein Herz einen Stepptanz aufs Parkett, während gleichzeitig alle Nervosität von mir abfiel.
»Hallo«, sagte er und lächelte. »Schön, dass du da bist. Der Tag war lang ohne dich.«
Schuldbewusst stellte ich fest, dass meiner im Gegensatz dazu vergangen war wie im Flug. Ich hatte ihn in einer Art Rauschzustand verbracht und die Übung mit der Lichtpeitsche hatte mich zusätzlich beflügelt. Was also sollte ich jetzt sagen? X nahm mir die Entscheidung ab, indem er seine Lippen auf meine senkte und an meiner Unterlippe knabberte. In diesem Moment setzte meine Fähigkeit zu denken total aus und ich gab mich ganz seinem Kuss hin, der jetzt drängender wurde. Himmel, wie konnte ein Kuss sich nur so gut anfühlen?
»Was meintest du eigentlich damit, dass du dir nicht sicher warst, ob ich deine Telefonnummer haben will?«, fragte X, als er sich von mir löste, und sah mir in die Augen. Seine Pupillen waren wie große, dunkle Teiche und ich hatte das Gefühl hineinzufallen. »Erde an Tina«, sagte er amüsiert und ich wurde rot.
»Ich konnte nicht glauben, dass du wirklich mit mir zusammen sein willst«, flüsterte ich und versuchte, seinem Blick auszuweichen.
Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Was muss ich denn noch alles tun, damit du mir glaubst?«
»Nichts«, beeilte ich mich, zu sagen. »Ich weiß es jetzt. Aber als du nicht nach meiner Telefonnummer gefragt hast ...« Ich brach ab und versuchte es erneut. »Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Vorher habe ich nie, ich meine, du bist der Erste, der mich geküsst hat.« Mein Gesicht hatte mit Sicherheit die Farbe einer reifen Tomate.
»Und ich gedenke nicht, damit aufzuhören«, erklärte er und bewies es mir.
»Was hast du eigentlich genau von mir geträumt?«, fragte er nach einer Weile und strich mir sanft über die Wange.
Dort, wo eben seine Finger gewesen waren, prickelte meine Haut immer noch. Das brachte mich ein wenig aus dem Konzept. Doch ich bekam gerade noch die Kurve und schaffte es, den verpatzten Kuss auch diesmal nicht zu erwähnen.
»Ich bin abends ins La Cuisine gekommen und du hast mich auf eine heiße Schokolade eingeladen und mir angeboten, mich anschließend nach Hause zu begleiten.«
X sah mich an, als erwarte er noch mehr, doch ich schwieg. »Aha«, sagte er schließlich. »Das mit der heißen Schokolade hatten wir ja schon, was hältst du davon, wenn wir den zweiten Teil ausprobieren und ich dich nach Hause bringe?«
»Oh«, sagte ich erleichtert und enttäuscht zugleich. Er wollte nicht mit mir alleine sein.
»Ich weiß nicht, wann du zu Hause sein musst, und möchte es mir nicht gleich am Anfang mit deiner Mutter verderben«, erklärte er. »Außerdem wollte ich dir auf dem Weg noch meinen Lieblingsplatz zeigen. Zuallererst hätte ich aber gerne deine Handynummer.« Er sah mich fragend an. Ich nannte sie ihm und er speicherte sie direkt in sein Smartphone. »Ich rufe dich später an, damit du meine Nummer auch hast«, versprach er, steckte das Handy in die Jackentasche, hob die Sporttasche auf und legte mir dem Arm um die Schulter. »Komm.«
Schüchtern legte ich den Arm um seine Taille und ein Kribbeln lief durch meinen Körper. Das hier geschah wirklich. Als hätte er es auch gespürt, warf X mir einen Seitenblick zu, lächelte und drückte die Lippen auf meine Schläfe.
»Es ist schön, dir so nah zu sein«, sagte er leise.
Wir bogen um die Ecke und in eine Sackgasse zwischen den Häusern, die mir bisher nicht aufgefallen war. Auf beiden Seiten befanden sich Türen, vor dem toten Ende standen Müllcontainer und ein Motorrad, an dem zwei Helme befestigt waren.
»Hier geht’s übrigens zu meiner Wohnung, nur damit du Bescheid weißt«, erklärte X, wies mit der Sporttasche auf eine der Türen und steuerte auf das Motorrad zu.
»Du fährst Motorrad?«
»Bisher nur eine 80er, ein Leichtkraftrad, aber ich habe vor, das nach meinem achtzehnten Geburtstag zu ändern.« Er sah mich an. »Und? Traust du dich?«
Ich nickte. Wie cool war das denn?
>Cool und gefährlich<, sagte die Wächterin, aber ihre Stimme klang begeistert.
»Ebenso wie Dämonenjagen«, erwiderte ich und wir grinsten beide.
»Die Idee scheint dir zu gefallen«, bemerkte X und strahlte mich an. Als wir bei der Maschine angekommen waren, reichte er mir einen der Helme. »Hier, den wirst du brauchen, aber bevor du ihn aufsetzt ...«
Der Rest des Satzes wurde von meinen Lippen verschluckt, denn ich presste mich an ihn und küsste ihn. Ich war aufgeregt, weil ich noch nie Motorrad oder 80er gefahren war und erleichtert, weil ich ein bisschen Angst vor dem gehabt hatte, was in Xs Apartment hätte passieren können. Aber vor allem war ich verliebt. So verliebt, dass es fast weh tat, ihn nicht zu berühren. Atemlos löste ich mich von ihm. Der Blick, mit dem er mich bedachte, ließ meine Knie weich werden, denn in ihm meinte ich, die gleichen Gefühle zu erkennen. Dieser unglaublich perfekte Junge schien wirklich in mich verliebt zu sein.
»Was ich sagen wollte, ehe du mich auf so wundervolle Weise unterbrochen hast«, begann er und schob mir eine Locke hinter das Ohr. »War, dass du deine Brille absetzen musst, bevor du den Helm aufsetzt.« Er sah mich an. »Mach es am besten gleich, sonst kommen wir hier nicht weg.« Er griff nach seinem Helm und stülpte ihn über. Dann streckte er die Hand aus und ich reichte ihm meine Brille.
Der Helm war eng, fühlte sich aber klasse an. Gewagt und abenteuerlich. X gab mir die Brille zurück und nachdem ich sie aufgesetzt hatte, reichte er mir die Sporttasche. »Die musst du leider auf dem Rücken tragen. Pegasus hat keinen Gepäckträger.« Seine Stimme klang gedämpft.
»Pegasus?« Ich schloss die Knöpfe meiner Jeansjacke.
»Auf diesem Motorrad zu sitzen ist fast wie fliegen«, sagte er und grinste.
Ich verdrehte die Augen, quetschte die Arme mit seiner Hilfe durch die Tragriemen und wurde für einen Augenblick unangenehm an meinen ersten Besuch in der dämonischen Zwischenwelt erinnert. Damals hatte ich eine andere Tasche auf die gleiche Art getragen, um die Hände frei zu haben. Das Gefühl verflog sofort, als X unter mein Kinn griff und den Helmgurt festzog. Die Berührung seiner Finger lenkte mich von jedem anderen Gedanken ab.
»Es gibt nur vier Regeln«, sagte er und stieg auf die Maschine. »Du steigst hinter mir auf und später ab, ohne den Auspuff zu berühren, der wird nämlich heiß. Du hältst dich an mir fest, also Arme um meine Taille. Wenn ich mich in eine Kurve lege, dann lehnst du dich in die Richtung der Kurve, nicht aus ihr heraus, sonst schmieren wir ab.« Er verstummte.
»Und Nummer vier?«
»Hab Spaß.«
Ich konnte sein Grinsen trotz des Helmes sehen und erwiderte es. Ungeschickt kletterte ich hinter ihn und umschlang ihn mit den Armen. Daran konnte ich mich gewöhnen. Schade, dass es der Helm nicht zuließ, den Kopf an seinen Rücken zu legen. X ließ die Maschine an, fuhr langsam aus der Gasse und fädelte sich in den Verkehr. Inzwischen waren die Straßenlaternen angegangen und zogen wie Lichtstreifen an uns vorbei. Ein Gefühl von Freiheit überkam mich und ich wusste, was er mit Fliegen gemeint hatte. Ich fühlte mich mit ihm verbunden und trotzdem wie losgelöst. Es zählten nur er, das Motorrad und der Wind. Als X abbog, wusste ich, wohin er wollte. Vor uns lag der Auepark. X fuhr auf einen Serviceweg, was mit Sicherheit nicht erlaubt war, und durchquerte den Park auf Nebenwegen. Die Blätter der Bäume leuchteten im Licht des hüpfenden Scheinwerfers in allen Rottönen und als wir den weißen Pavillon am See erreichten, der sein Ziel zu sein schien, standen die Sterne am Himmel. X parkte Pegasus und ich glitt von der Maschine. Dabei achtete ich darauf, den Auspuff nicht zu berühren. Ich schälte mich aus der Sporttasche, wartete, bis X die Hände frei hatte, reichte ihm die Brille und nahm den Helm ab. Mein Haargummi löste sich und die Locken fielen mir bis weit über die Schultern. X betrachtete mich wortlos. Er gab mir die Brille zurück, nahm meine Hand und führte mich zum Pavillon. Die Monumentebeleuchtung ging in dem Moment an, in dem wir ihn betraten, und zauberte goldene Reflexe auf den See.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte X, der hinter mich getreten war leise und legte die Arme um meine Taille.
»Warum?«
»Sie werden Pegasus’ Lichter gesehen haben und wir sollten eigentlich nicht hier sein, aber ich wollte dir diesen Platz zeigen, wenn die Beleuchtungen angehen. Ich finde, der Moment ist magisch.«
Ich schmiegte mich wortlos an ihn, betrachtete die erleuchteten Monumente des Parks, die man von hier aus perfekt sehen konnte, und folgte dann den goldgesprenkelten Bewegungen des Wassers. Die ganze Zeit über war ich mir seiner Nähe bewusst. Es fühlte sich an, als wären wir eins. Ohne ein Wort zu sagen, drehte er mich zu sich, nahm mich in die Arme und hielt mich fest. Seine Wärme hüllte mich ein und mein Herz orientierte sich am Schlag des seinen und nahm dessen Rhythmus an. Hätte ich einen perfekten Moment beschreiben sollen, wäre es dieser gewesen.
»Wir müssen los«, sagte X nach einer Weile bedauernd und zeigte auf Lichter, die sich näherten.
Ich erwachte wie aus einem Traum und die Wirklichkeit holte mich ein.
»Wo wohnst du?«, fragte er, während wir zu Pegasus liefen und unsere Helme aufsetzten. Ich sagte es ihm und quetschte mich erneut in die Träger der Sporttasche. Als ich hinter ihm aufstieg, hörte ich das Geräusch von Motoren zwischen den Bäumen.
X lachte vergnügt.
»Fertig?«, rief er und ich umklammerte ihn fester. Als er Gas gab, brach das erste Fahrzeug durch das Unterholz und mein Amulett wurde warm.