Читать книгу Die Aussenseiter und der Kampf um den Buchladen - Nicole Fünfstück - Страница 7

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Kapitel 3 • Weniger ist mehr

Das Klingeln des Weckers riss mich aus einem Traum. Mit hämmerndem Herzen setzte ich mich auf, holte ein paar Mal tief Luft und versuchte, mir die Details des Traums in Erinnerung zu rufen.

Ich war dem schwarzen Engel bei Vollmond durch einen Wald gefolgt. Obwohl ich ihn weder richtig hatte sehen noch einholen können, war ich mir sicher, dass er es gewesen war. Ich hatte es gespürt, das Gefühl erkannt, das er in mir auslöste, wenn er in meiner Nähe war. Ich erinnerte mich, dass ich ihm eine ganze Weile ohne Furcht gefolgt war und dann plötzlich Angst bekommen hatte. Von jetzt auf gleich hatte ich eine mächtige dämonische Energie gespürt, die nicht von dem Engel ausgegangen war. Von da an hatte ich mich wesentlich vorsichtiger vorwärts bewegt und, noch bevor ich beim Ziel angekommen war, geahnt, welches es sein würde. Nach der letzten Wegbiegung war aus meiner Ahnung Gewissheit geworden. Vor mir hatte sich die Burgruine am Hexentritt erhoben, in deren Innerem sich ein Tor Luzifers befand. Gerade als eisige Finger nach mir gegriffen hatten, war ich durch den Wecker aus dem Traum gerissen worden.

Ich seufzte und rieb mir über die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben. Es gab keinen Zweifel. Etwas Dunkles und sehr Mächtiges war auf dem Weg zu uns.

»Ich weiß überhaupt nicht, warum du immer so auf den Engel schimpfst«, wandte ich mich lautlos an die Wächterin. »Er hat mich schon wieder gewarnt.«

>Oder er will mal wieder spielen<, entgegnete sie. >Denk an das Wolfswesen!<

»Als wenn ich das vergessen könnte, du erinnerst mich ja ständig daran.«

Der schwarze Engel hatte mich im Sommer daran gehindert, das Wolfswesen zu vernichten. Dadurch hätten wir Herrn von Kastanienburg fast verloren. In allerletzter Minute und erst, als der Engel wieder verschwunden war, hatte ich es ein zweites Mal versucht und war erfolgreich gewesen. Trotzdem. Bis jetzt hatte mir der schwarze Engel entgegen jeder Prognose nichts getan. Im Gegenteil, er war mehrfach in meinen Träumen aufgetaucht, um mich vor etwas zu warnen.

Laut Pater Daniel, der uns in religiösen Fragen mit Rat und Tat zur Seite stand, konnte das daran liegen, dass dieser spezielle schwarze Engel ein Zweifler war, der sich noch nicht ganz für Luzifer entschieden hatte. Pater Daniel war darauf gekommen, da ich, ohne es zu bemerken, eine Feder des Engels aus der Zwischenwelt mit in die Kirche gebracht hatte und sie nicht sofort in Flammen aufgegangen war. Allerdings hatte er auch gesagt, dass schwarze Engel gerne mit ihren Opfern spielten und es niemanden gab, der sich diesen entgegenstellen konnte. Außer einem anderen Engel. Meinem persönlichen Schutzengel zum Beispiel, von dem ich allerdings weder wusste, wer er war, noch wo er sich aufhielt.

»Warum willst du immer nur das Schlechte in ihm sehen?« Ich streckte mich, zog das Druidenmesser unter dem Kopfkissen hervor und stand auf.

>Eine von uns muss es ja tun, sonst fällst du ihm das nächste Mal um den Hals und er hat gewonnen.<

Bei »um den Hals fallen« musste ich sofort an X denken. Mein Herzschlag beschleunigte sich und in meinem Magen bildete sich ein Klumpen. Wenn ich doch nur wüsste, ob ich ihm wirklich etwas bedeutete. Jo und Noah fielen mir ein. Sie waren nicht nur meine besten Freunde, sondern auch meine Partner bei der Jagd auf dunkle Wesen. Sollte ich ihnen sagen, was mit X geschehen war? Wir hatten vereinbart, keine Geheimnisse voreinander zu haben, aber ich war mir ja noch gar nicht sicher, was das zwischen X und mir war. Hatten wir nur geknutscht oder wollte er wirklich mit mir zusammensein? Während ich das Druidenmesser in einen weichen Lappen wickelte und es anschließend in meine Schultasche packte, beschloss ich, vorerst nichts zu sagen. Morgen, wenn ich wusste, wie es weiterging, würde ich ihnen alles erzählen. Jetzt war erst einmal das Wesen wichtig, das vorhatte, in unsere Dimension einzudringen. Wir mussten zum Tor, daran bestand kein Zweifel. Ich verließ mein Zimmer, streichelte Kleine, die mich begeistert begrüßte, und winkte meiner Mutter zu, die gerade in die Küche ging.

»Morgen Tinchen«, murmelte sie und ich war froh, dass sie keine Antwort erwartete. Meine morgendliche Unzurechnungsfähigkeit hatte ich eindeutig von ihr geerbt.

Im Bad griff ich nach der Zahnbürste und als ich den Mund öffnete, lächelte ich. Das Warten hatte sich wirklich gelohnt. Während ich meine Zähne putzte, was sich nach fast zwei Jahren mit Zahnspange ungewohnt anfühlte, betrachtete ich mich im Spiegel. Sah ich tatsächlich anders aus oder hatte ich mir das gestern nur eingebildet? Ich spuckte die Zahncreme aus und studierte mein Gesicht. Meine Lippen erschienen mir voller, einladender als gestern Morgen.

>Du hast ne Klatsche<, sagte die Wächterin, aber ich konnte das Grinsen in ihrer Stimme hören. >Allerdings musst du dir mal wieder ein paar neue BHs zulegen, die alten sind zu klein, falls du es nicht bemerkt haben solltest.<

Ich blieb ihr eine Antwort schuldig und seufzte nur genervt, denn was sie sagte, stimmte. Büstenhalterkaufen war nur so was von peinlich. Deshalb hatte ich es immer wieder aufgeschoben.

Als ich fertig angezogen in die Küche trat, sah meine Mutter von ihrer Kaffeetasse auf. Ihr Blick blieb an meinem Oberteil hängen. »Tinchen, du brauchst neue BHs«, sagte sie und ich verzog das Gesicht.

»Ich weiß«, gab ich zu und ignorierte das Feixen der Wächterin.

»Ich muss heute in die Stadt, soll ich dir welche besorgen?«

Ich hätte fast ja gesagt, als mir X einfiel. Ich wusste noch nicht einmal, ob er und ich ein Paar waren, aber meine Gedanken stolperten in eine Richtung, in die ich sie noch nie geschickt hatte. Ich wurde knallrot und schüttelte wild den Kopf, was sowohl für die Gedanken, als auch für die Frage meiner Mutter Gültigkeit hatte.

Letztere sah mich nachdenklich an und nickte. »Ich packe dir zusätzliches Geld in die Frühstückstüte. Und wenn ich dir einen Tipp geben darf: Weniger ist mehr und dass es sich lohnt, auf etwas zu warten, was einem wichtig ist, haben dir deine Zähne hoffentlich bewiesen.«

Da ich nicht wusste, was ich darauf sagen sollte, nickte ich ebenfalls und hoffte, dass mein Deo durchhalten würde, denn mir war der Schweiß ausgebrochen. Was für eine oberpeinliche Unterhaltung.

Als ich vor der Schule aus dem Auto meiner Mutter stieg, warteten Jo und Noah wie immer am Eingang zum Pausenhof.

»Warst du erfolgreich?«, erkundigte sich Noah, als ich die beiden erreicht hatte.

Ich zuckte mit den Schultern. »Wie man es nimmt. Wenn du das hier meinst ...« Ich zeigte ihm ein strahlendes Lächeln. »... dann schon. Allerdings hatte ich heute Nacht Besuch.«

Jo und Noah begriffen sofort.

»Wirklich oder in einem Traum?«, erkundigte sich Jo, eine Spur blasser als vorher und stützte sich auf seine Krücken.

»In meinem Traum«, erklärte ich und er atmete auf.

»Man ist inzwischen ja schon für die kleinen Dinge dankbar.« Er grinste. »Deine Zähne sehen übrigens super aus, Vulkanchen.«

Obwohl ich nicht mehr leugnen konnte, dass an Jos Spitznamen für mich etwas dran war, verzog ich das Gesicht. Gefallen musste er mir deshalb ja trotzdem nicht.

»Was wollte er?«, fragte Noah und wir setzten uns langsam in Bewegung, wobei Jo wie immer die Geschwindigkeit bestimmte.

»Er hat mich zum Hexentritt geführt, was nur bedeuten kann, dass wir bald Besuch bekommen und deshalb heute Nachmittag zum Tor gehen sollten.«

Jo blieb stehen. »Und was machen wir, wenn wir da sind? Konfetti schmeißen und mit Pompons wedeln? Wir wissen doch gar nicht, was ankommt, und das sollten wir zuerst herausfinden.«

»Dabei kann uns der Buchladen aber auch nicht weiterhelfen«, warf ich ein.

>Aber dort versucht zumindest niemand, euch umzubringen.<

»Es muss doch universell anwendbare Rituale geben«, sagte Jo. »Du solltest dir wenigstens ein paar davon aneignen, bevor wir uns auf den Weg machen. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, nur durch mein Amulett geschützt auf die Ankunft eines dunklen Wesens zu warten. Das kann sehr schmerzhaft sein, wie uns die letzten Ereignisse bewiesen haben.«

Ich wusste, dass er recht hatte. Unsere Amulette schützten uns zwar wirksam vor den Dunklen, aber das hieß nicht, dass wir dadurch auch unverletzt blieben. Als wir unseren ersten Dämon auf einem Friedhof vernichtet hatten, waren wir alle drei im Krankenhaus gelandet und durch das Viruswesen, das sich im Körper von Herrn von Kastanienburg eingenistet hatte, waren sowohl Sylvia als auch Jo und Noah verletzt worden. Obwohl eine von Noahs Verletzungen eindeutig auf das Konto des schwarzen Engels gegangen war. Dieser hatte uns im Nebel getrennt und Noah war deshalb in einen spitzen Ast gerannt, vor dem ich ihn nicht hatte warnen können.

»Ich bin Jos Meinung«, erklärte Noah jetzt. »Außerdem ist für die nächsten Tage kein Gewitter angesagt. Und wenn der schwarze Engel es nicht darauf anlegt, uns in die Irre zu führen, muss etwas Mächtiges durch das Tor kommen.«

»In Ordnung.« Ich gab mich geschlagen. »Dann gehen wir nach Schulschluss zum Buchladen.«

»Ach, und Mittagessen fällt aus?«, erkundigte sich Jo und zog die Augenbraue hoch.

»Das La Cuisine wird zu knapp. Ich will so schnell wie möglich zum Tor«, erklärte ich.

Jo schien etwas erwidern zu wollen, doch er ließ es und setzte sich stattdessen wieder in Bewegung. Ich atmete erleichtert auf. Ohne X war das La Cuisine für mich immer ein anderer Ort, aber jetzt, da ich nicht wusste, woran ich war, wäre ein Mittagessen dort einfach zu viel gewesen.

»Wir nehmen uns belegte Brötchen aus der Schulkantine mit«, schlug Noah vor. Jo und ich nickten zur Bestätigung.

Als wir später am Jägerzaun standen, der das kleine Einfamilienhaus mit dem Türmchen umgab, in dem sich der Buchladen befand, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich war in der letzten Zeit sehr unregelmäßig hier gewesen. Nach der Vernichtung des Viruswesens und Xs Geständnis hatte sich kein weiteres, dunkles Wesen gezeigt und statt, wie vorher, nach jedem Tennistraining zum Buchladen zu fahren, hatte ich mich lieber zu Hause aufs Bett geschmissen und von X geträumt. Auch Noah war nicht mehr nach jedem Fußballtraining hergekommen, sondern hatte mehr Zeit mit seinen Fußballkumpeln verbracht. Einzig Jo war dem Buchladen treu geblieben. Zum einen, weil seine Mutter darauf bestand, dass er auch nach Aufhebung des Hausarrests den Sozialdienst bei Mathilde weitermachte und zum anderen, weil er es liebte, im Buchladen zu sein. Durch seine Gehbehinderung kam Sport für ihn nicht in Frage und Lesen war schon vor Jahren zu einem Ersatz für alles geworden, was er nicht tun konnte.

»Ist `ne Weile her, dass wir alle drei hier waren«, sprach Jo meine Gedanken aus.

Ich nickte.

Wir traten in den Garten, warteten bis Noah, der nicht mit uns zusammen im Bus gefahren war, sein Fahrrad an den Zaun gekettet hatte, und folgten dann dem Gartenweg und Jo, der wie selbstverständlich voranging, zum Eingang. Jo öffnete und das Glöckchen über der Tür bimmelte.

»Wie schön, euch alle zusammen hierzuhaben.« Mathilde, die Besitzerin des Buchladens und Hüterin des Wissens, die wie immer hinter dem Empfangstresen saß, sah von ihrem Buch auf, als wir eintraten. Sie legte es beiseite und lächelte uns zu.

»Wir kommen jetzt wieder regelmäßiger«, versprach ich.

>Hört, hört<, murmelte die Wächterin.

Mathilde musterte mich aufmerksam. »Die Zahnspange ist weg und scheinbar ein Wesen auf dem Weg«, stellte sie fest.

»Wir gehen davon aus. Der schwarze Engel hat mich gestern im Traum zum Hexentritt geführt.«

»Dann auf zum Raum der Bücher.« Mathilde griff nach dem Schlüsselring, dessen Schlüssel die Tür zu diesem Raum öffneten, und ging voraus. Der Raum befand sich im Türmchen des Hauses, welches innen jedoch wesentlich höher war, als es von Außen den Anschein hatte. Um den Raum der Bücher zu erreichen, der aus Sicherheitsgründen im Sommer seine Position im Buchladen geändert hatte, obwohl draußen alles beim Alten geblieben war, mussten wir einige der Gänge zwischen den Regalreihen aus dunklem Holz durchqueren. Wie immer galt es dabei, darauf zu achten, nicht über die Buchstapel zu stolpern, die wahllos auf dem Boden vor den Regalen lagen.

»Mathilde, wird es ihnen eigentlich nicht langweilig, in einem Buchladen zu leben?«, erkundigte sich Jo, als wir die schwere Holztür mit dem alten Eisenschloss erreichten, die den Zugang zum Raum versperrte. »Ihn nie zu verlassen, nie reisen zu können? Ich würde mich eingesperrt fühlen.«

»Eingesperrt?« Mathildes Stimme klang verwundert. »Mit tausenden von Büchern um mich herum kann ich reisen, wohin ich möchte, ohne den Buchladen zu verlassen.« Sie nahm den Schlüssel heraus, der sich im Schloss befand, steckte den nächsten hinein und drehte ihn in die entgegengesetzte Richtung des vorherigen.

Jo seufzte theatralisch. »Ich lese selbst gerne, und das wissen Sie, aber ich meinte kein Reisen im übertragenen Sinn.«

»Ich auch nicht.« Mathilde nickte uns zu, zog den letzten Schlüssel aus dem Schloss, öffnete die Tür und verschwand zwischen den Buchreihen.

»Auf geht’s«, sagte ich und trat in den Raum. Jo und Noah folgten mir und schlossen die Tür hinter uns.

Die Aussenseiter und der Kampf um den Buchladen

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