Читать книгу Die Aussenseiter und der Kampf um den Buchladen - Nicole Fünfstück - Страница 8

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Kapitel 4 • Fremde, bekannte Wesen

»Ihr habt schon gehört, was sie gerade von sich gegeben hat, oder?«, erkundigte sich Jo. Er ließ sich auf einen der Stühle fallen, die um den großen, alten Holztisch mit den Leselampen herum standen, der sich in der Mitte des Raums befand. Auf der Tischplatte hatten Generationen von Wächterinnen Kratzer und Brandflecken hinterlassen. Einige davon gingen auf mein Konto. Direkt über dem Tisch hing ein gigantischer Kronleuchter an einer dicken Eisenkette, die bis unter das Dach des Turms reichte. Die Wände des Raums waren fast vollständig mit gefüllten Bücherregalen bedeckt. Nur im oberen Teil gab es Buntglasfenster und gegenüber der Tür einen großen Kamin, dessen Abzugsschacht im Dach verschwand. Während ich mich zu Jo an den Tisch setzte, ging Noah zu einem der Bücherregale, nahm den magischen Karteikasten heraus, der alle unsere Fragen mit Querverweisen zu den sich im Raum befindlichen Büchern beantwortete, und kam damit zu uns.

»Klar haben wir es gehört«, sagte er, stellte den Kasten auf den Tisch und setzte sich ebenfalls. »Und da Mathilde nichts sagt oder tut, ohne dass es einen Grund dafür gibt, denke ich, jetzt ist der Moment gekommen, um herauszufinden, wer sie ist.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich unbehaglich und spielte mit meinem Druidenmesser, das ich aus der Schultasche genommen hatte. »Das ist ein bisschen so, als ob wir in ihrem Leben herumschnüffeln würden.«

»Genau das werden wir ja auch tun«, erklärte Jo. »Aber ich stimme Noah zu. Mathilde hätte uns nie diesen Tipp gegeben, wenn sie nicht wollte, dass wir mehr herausfinden.«

>Sie haben recht, also mach schon!< Die Stimme der Wächterin klang aufgeregt.

Unter den auffordernden Blicken meiner Freunde gab ich nach und zog eine Karte aus der Rubrik `allgemein´. »Was für ein magisches Wesen ist Mathilde?«, fragte ich und wir rückten näher zusammen, um die Antwort gemeinsam lesen zu können. »Hüterin aus der Rasse der Buchspringerinnen, siehe `magische Wesen und ihr Ursprung´, Seite 111 und folgende, Regal rechts neben dem Kamin, zehntes Brett, Mitte.«

»Du oder ich?«, erkundigte sich Noah, der wusste, dass ich es ebenso wie er liebte, die Eisenleiter hochzusteigen, die an einer Schiene, an den obersten Regalbrettern befestigt war. Man konnte mit ihr von Regal zu Regal gleiten, fast einmal um den ganzen Raum.

»Geh du. Ich bin heute Nacht bereits einen Berg hochgelatscht.«

Während Noah zur Leiter ging, dachte ich an den schwarzen Engel, der sich mir diesmal nicht richtig gezeigt hatte. Merkwürdig. Ehe ich es verhindern konnte, schob sich das Bild von X in meine Gedanken. So, als hätte es schon die ganze Zeit auf eine Chance gewartet, sich mir zu präsentieren. Die Wächterin schnaufte theatralisch, doch ich versank in Xs grünen Augen und fragte mich, was er jetzt wohl tat, als Noah zum Tisch zurückkam und mir ein Buch entgegenstreckte.

>Schluss mit der Träumerei!<, befahl die Wächterin, doch ich bildete mir ein, dass ihre Stimme ein wenig enttäuscht klang, weil X aus unserem Kopf verschwinden musste.

Schweren Herzens verabschiedete ich mich von dem Bild meines eventuellen Freundes, bei dem Gedanken klopfte mein Herz ein bisschen schneller, nahm das Buch entgegen und sah, dass Noah es schon auf der richtigen Seite aufgeschlagen hatte. »Buchspringerinnen sind unsterbliche Wesen. Sie gehören zur Schwesternschaft der Inspiration und mit jedem neuen Buch wird auch eine Springerin geboren«, las ich. »Die Springerinnen sind aber trotzdem nicht an ihr Geburtsbuch gebunden, sondern können sich frei von Buch zu Buch bewegen, wodurch sie ein enormes Wissen erlangen. Sie leben in geschriebenen Werken und verhelfen den Lesenden zu dem Gefühl, im Buch und beim Geschehen zu sein und die Dinge besser zu verstehen. Wie alle übersinnlichen Wesen unterstehen sie der Regierung des magischen Rats.«

»Es gibt einen magischen Rat? Das ist ja abgefahren. Wo sich der wohl befindet?«, überlegte Jo laut.

»Das können wir später in Erfahrung bringen. Setz es auf die Liste der offenen Baustellen.« Ich zog eine Grimasse. »Für heute haben wir genug zu tun. Ich lese weiter: Als die ersten Tore Luzifers auftauchten und der Rat beschloss, Kinder als Wächter und Wächterinnen zu wählen, um die Tore zu bewachen, stellte sich die Frage, wie man das Wissen vermitteln sollte, das diese benötigten, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Ein Teil der Springerinnen meldete sich darauf freiwillig, um den Kindern als Hüterinnen des Wissens zur Seite zu stehen. Um Zwietracht zwischen den Wesen zu vermeiden und das positive Gleichgewicht der Energie im Rat zu erhalten, wurde ihr Angebot abgelehnt. Denn obwohl es den Buchspringerinnen möglich ist, eine menschliche Gestalt anzunehmen, ist es nur den Musen erlaubt, dies zu tun, und sie hüten dieses Privileg eifersüchtig. Da Musen aber nicht das Wissen der Springerinnen haben, kamen sie als Hüterinnen nicht infrage, weshalb sich einige der Springerinnen nicht von ihrem Plan abbringen ließen.

Obwohl sie falsche Pisten legten und magische Schutzwälle benutzten, blieb ihr Tun der Führerin der Schwesternschaft nicht verborgen. Als Seherin des Rats war diese nicht nur mit dem dritten Auge, sondern auch mit der Macht über die Worte ausgestattet. Durch diese Fähigkeiten war sie in der Lage, auch Magie zu durchschauen und viele der Handlungen der Springerinnen vorauszusehen. Für weitere Informationen über die Seherin siehe Seite 120 und folgende, gleiches Buch.«

Ich sah Jo und Noah an.

Sie schüttelten die Köpfe, also las ich weiter. »Entgegen dem Ratschlag der erbosten Seherin und insgesamt erleichtert, eine Lösung für das Wächterproblem gefunden zu haben, vernichtete der magische Rat die selbsternannten Hüterinnen des Wissens nicht. Er statuierte ein Exempel, um die Musen zufriedenzustellen, und schloss die Hüterinnen nicht nur aus der Schwesternschaft der Inspiration aus, sondern nahm ihnen auch ihre Freiheit. Er verdammte die Gesetzesbrecherinnen dazu, in vom Rat erschaffenen Buchläden zu leben, ohne die Möglichkeit, diese jemals wieder zu verlassen. Außerdem nahm er ihnen die Unverletzbarkeit beim Springen durch die Bücher. Um jedoch ihr Leben, ihre Magie und die der Buchläden zu erhalten, müssen die Hüterinnen ausnahmslos jedes Buch im Laden regelmäßig aufsuchen. Nur wenn sie Teil einer Geschichte werden, können sie ihre Lebensenergie konstant halten. Obwohl sich in jedem Laden exakt die gleichen Bücher befinden, nämlich die Geburtsbücher der abtrünnigen Springerinnen, sind diese dazu verflucht, sich nie zu treffen, und haben die Möglichkeit verloren, den Inhalt der Bücher kurzfristig zu verändern, um Nachrichten zu hinterlassen. Dadurch wird verhindert, dass sie gemeinsam Pläne zum Brechen des Fluches und der Auflösung ihrer Verdammnis schmieden können.

Obwohl die Hüterinnen sonst keinen Einfluss auf die Buchauswahl in den Buchläden haben, können sie andere Bücher aufkaufen, wenn sie ihnen angeboten werden. Auch erscheinen Werke, die sich mindestens ein Jahr auf einer internationalen Bestsellerliste gehalten haben, automatisch in den Läden, was je nach Art des Werkes ein zusätzliches Risiko für die Hüterinnen birgt, denn auch diese müssen sie besuchen. Einzig die Werke im Raum der Bücher sind für die Hüterinnen tabu. Sie wurden für die Gesetzesbrecherinnen gesperrt, um ihnen nicht noch mehr Macht und Magie zu verleihen.«

Betroffen sahen wir uns an. Mir fehlten die Worte und selbst Jo und die Wächterin schwiegen.

Ich räusperte mich. »Das ist nicht alles. Hier steht noch mehr: Sollte eine Hüterin gezwungen sein, sich den Büchern fernzuhalten, nimmt ihre Lebenskraft ab, und ihre Magie erlischt in gleichem Maße. Dauert dieser Zustand zu lange an, wird der Raum der Bücher für alle, schwarz und weiß, zugänglich. Das ist dann meist der Tod der Hüterin, denn kein dunkles Wesen wird diese am Leben lassen.«

»Deshalb dürfen keine Horrorbücher in den Buchladen«, stellte Jo fest und rieb sich am Kinn. »Mathilde würde in Lebensgefahr geraten und dank der Bestsellerliste gibt es bestimmt schon einige, die sie irgendwo aufbewahrt.«

»Sie hat alles aufs Spiel gesetzt, um mir zu helfen«, sagte ich mit trockenem Mund.

»Nicht dir, sondern allen Wächterinnen dieser Gegend«, verbesserte Jo.

»Trotzdem«, erwiderte ich.

Noah nahm eine Karte: »Wenn Mathilde alle Bücher besuchen muss, wieso kann sie dann welche verkaufen?«

»Der Mann ist gut.« Jo knuffte ihn leicht.

Die Antwort erschien wie immer postwendend, denn nicht nur ich konnte dem Kasten Fragen stellen.

»Sobald ein Buch verkauft wird, ersetzt es sich irgendwo im Laden von selbst«, las Noah laut.

»Was bedeutet, dass ich bis zu meinem Tod sortieren könnte und trotzdem nie fertig würde.« Jo schüttelte den Kopf. »Warum sie uns wohl ausgerechnet heute den Tipp gegeben hat?«

»Vielleicht, weil ich in der letzten Zeit so wenig hier war. Wahrscheinlich wollte sie mich darauf aufmerksam machen, was sie für mich aufgegeben hat.«

>Da hat aber jemand ein schlechtes Gewissen<, bemerkte die Wächterin.

Noah schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Christina. Durch die Blume Aktionen sind nicht Mathildes Stil. Ich vermute eher, dass sie fand, es sei an der Zeit, uns etwas über sich mitzuteilen.«

»Was auch immer.« Ich seufzte. »Wir sollten anfangen, uns um die Rituale zu kümmern. Und ich gelobe, jetzt regelmäßiger herzukommen.« Ich nahm eine neue Karte mit der Aufschrift `allgemein´ aus dem Kasten. »In welchem Buch finden wir allgemeingültige Rituale, die bei allen Wesen angewandt werden können?« Keine fünf Sekunden später erschien die Antwort. »Generische Rituale für die Zwischenwelt, Regal neben der Tür, drittes Brett, Buch steht am Anfang.«

Noah holte das Buch und legte es auf den Tisch. Ich zog es zu mir und schlug das Inhaltsverzeichnis auf. Es war das erste Mal, dass der Karteikasten uns weder Kapitel noch Seitenzahl genannt hatte, was wohl bedeutete, dass ich frei wählen konnte.

»Ritual zum Zurückschicken in die Wandelhalle«, las ich und sah Jo und Noah an. »Das brauche ich nicht, da nehme ich das abgewandelte Wichtelritual, das hat bis jetzt immer funktioniert. Schutzringziehen (mit Trank)«, las ich weiter und sah Jo an. »Das könnte was sein, das hat damals auf dem Friedhof super geklappt. Allerdings solltest du ihn herstellen, du weißt, was reinmuss.«

Jo nickte. »Kein Problem. Hoffen wir, dass es diesmal nicht regnet, wenn wir ihn brauchen.« Er zog eine Grimasse.

»Oh!«, sagte ich kurz darauf erfreut. »Ritual zum Erschaffen einer Lichtpeitsche. Damit fange ich an!«

Die Aussenseiter und der Kampf um den Buchladen

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