Читать книгу Die Aussenseiter und der Kampf um den Buchladen - Nicole Fünfstück - Страница 6

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Kapitel 2 • Heiße Schokolade

Ich kletterte ungeschickt und mit Xs Hilfe von seinem Schoß und sah erschrocken, wie er fast unmerklich zusammenzuckte, als ich dabei aus Versehen an seine Rippen kam. Als ich stand, streckte ich ihm die Hände entgegen und diesmal ließ er sich von mir auf die Füße ziehen.

»Guck nicht so besorgt«, bat er. »Die Kratzer verheilen schnell. Übermorgen bin ich ein neuer Mensch.«

Ich war mir da nicht so sicher, beschloss aber, nichts zu sagen.

X schien meinen Unglauben zu bemerken, denn er verdrehte die Augen, hauchte mir einen Kuss auf die Lippen, und flüsterte: »Versprochen.«

Händchenhaltend machten wir uns auf den Weg. Das Gefühl seiner Finger, die mit meinen verschränkt waren, machte mich so glücklich, wie ich es nie zuvor gewesen war. Vorsichtig sah ich zu ihm hinüber. Er betrachtete mich ebenfalls, lächelte und drückte leicht meine Hand. Sie kribbelte und ich musste mich daran erinnern, zu atmen.

Wir erreichten die Eisdiele, in der Jo, Noah und ich meinen vierzehnten Geburtstag gefeiert und von der aus wir uns anschließend das erste Mal auf den Weg zu Mathildes Buchladen gemacht hatten. Hier hatte alles angefangen.

»Drinnen oder draußen?«, erkundigte sich X und riss mich aus meinen Erinnerungen.

Ich warf einen Blick durch die Fensterscheiben und auf die Eckbank von damals.

»Draußen«, entschied ich.

X wählte einen windgeschützten Tisch in einer Ecke und wartete, bis ich mich gesetzt hatte.

»Erzähl mir was über dich«, bat er, setzte sich neben mich und nahm wieder meine Hand. »Im La Cuisine ist die Zeit immer so kurz. Ich weiß fast nichts von dir.«

Ich zog eine Grimasse. Über mich zu sprechen, gehörte nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Trotzdem gab ich mir einen Ruck.

»Du weißt, dass ich mit Jo und Noah befreundet bin«, sagte ich und X verdrehte wieder die Augen. Ich kicherte. »Na gut, du weißt, dass mein Vater in London wohnt, was dich bestimmt darauf hat schließen lassen, dass meine Eltern geschieden sind.« Er nickte.

»Dass ich gut Tennis spiele und meine mir angeborene Tolpatschigkeit sind dir bestimmt auch nicht entgangen. Und damit weißt du schon fast alles, was es über mich zu wissen gibt«, endete ich.

Den wichtigsten Teil hatte ich unterschlagen, aber den konnte ich ihm nicht verraten. Die meisten Menschen glaubten nicht an Magie und ich hatte nicht vor, auszutesten, ob X es tat.

»Das `fast´ ist es, was mich interessiert«, sagte er und sah mich abwartend an.

»Wisst ihr schon, was ihr wollt, oder braucht ihr die Karte?«, unterbrach uns die Bedienung und schmachtete X an.

»Heiße Schokolade mit Sahne«, bestellten wir wie aus einem Munde.

Verblüfft sah ich ihn an. »Heiße Schokolade, echt?«

Er nickte. »Manchmal, wenn alles perfekt ist, dann braucht es heiße Schokolade mit Sahne.«

Ich schwieg verwirrt. Im letzten Winter hatte ich von ihm geträumt und in meinem Traum war heiße Schokolade mit Sahne ebenso ein Thema gewesen wie ein verpatzter Kuss. Mit allem hatte ich seitdem gerechnet, aber nicht damit, dass wir irgendwann einmal wirklich zusammen heiße Schokolade trinken würden.

»Verrate mir etwas von dir, was ich noch nicht weiß,« bat X und streichelte wieder mit dem Daumen über meinen Handrücken.

Das Kribbeln, das er damit in mir auslöste, brachte mich aus dem Konzept.

Ich bin eine Wächterin und jage dunkle Wesen, wäre mir fast herausgerutscht. Stattdessen sagte ich das Nächste, was mir in den Sinn kam. »Ich habe von dir geträumt und in meinem Traum haben wir auch heiße Schokolade getrunken.« Ich spürte, wie ich rot wurde und sah schnell von ihm weg. Wieso erzählte ich ihm immer all das, was ich sonst nie sagen würde?

»Hey«, sagte er leise und ich sah ihn an. »Falls du es nicht wissen solltest, das ist ein wunderschönes Kompliment.«

Ich lächelte zaghaft. »Jetzt bist du dran, denn ich weiß noch weniger von dir, als du von mir.«

»Was möchtest du wissen?« Er verschränkte seine Finger mit meinen und ein heißes Glücksgefühl durchströmte mich.

»Wie alt bist du? Wo wohnst du und wo warst du, bevor du hierhergezogen bist?«

X grinste. »Und meine Schuhgröße interessiert dich nicht?«, erkundigte er sich, zog mich näher und küsste mich sanft.

Sofort war alles, was ich wissen wollte, zweitrangig. Wen interessierte es, wie alt er war, wenn ich ihn küssen konnte?

»Hier kommen eure heißen Schokoladen«, unterbrach uns die Kellnerin und stellte die Tassen vor uns auf den Tisch. Die von X schob sie mit einem Lächeln zurecht, für mich hatte sie nur einen bösen Blick übrig. Ich seufzte. Das würde mir jetzt wohl öfter passieren. Falls das heute nicht ein einmaliges Erlebnis war.

>Fühlt es sich so an?<, erkundigte sich die Wächterin.

Ich schüttelte in meinen Gedanken den Kopf. Aber sicher war ich mir trotzdem nicht. Ich angelte mit dem Strohhalm Sahne von der Schokolade und schob sie mir in den Mund. Als ich aufsah, ruhte Xs Blick auf mir. Sofort wurde ich wieder rot.

»Du hast meine Fragen nicht beantwortet«, sagte ich, um mich abzulenken.

Er seufzte. »Ich bin siebzehn, fast achtzehn, wohne in einem Einzimmerapartment über dem La Cuisine und bin in Paris geboren.« Er nahm einen Schluck Schokolade.

Paris. Wie romantisch. »Warum bist du aus Paris weg und wie bist du ins La Cuisine gekommen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich wollte etwas Neues sehen, also bin ich auf Reisen gegangen. Als ich hier ankam, brauchten sie im La Cuisine einen Kellner und ich einen Job.«

Es war deutlich, dass er genauso ungern über sich sprach wie ich über mich, deshalb bohrte ich vorerst nicht weiter. Eine Weile genossen wir schweigend die Schokoladen, dann drückte X meine Hand.

»Sei mir nicht böse, aber ich glaube, ich muss mich hinlegen.«

Erschrocken sah ich ihn an. »Sind die Schmerzen schlimmer geworden?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie sind genauso schlimm wie vorher, nur langsam kann ich sie nicht mehr ignorieren.« Mein Blick musste Bände gesprochen haben, denn er zog mich näher und küsste mich. »Die Zeit mit dir war es wert.«

Bevor ich protestieren konnte, steckte er Geld in das Kästchen mit der Rechnung, das die Bedienung zusammen mit den Tassen auf den Tisch gestellt hatte, und erhob sich mühsam. Ich stand ebenfalls auf.

»Morgen habe ich schon etwas vor«, sagte er, während wir Hand in Hand zurück in die Fußgängerzone traten.

Ich spürte das Piksen der Enttäuschung.

X legte mir die Hand an die Wange. »Aber komm doch übermorgen ins La Cuisine. Dann machen wir etwas aus.« Er hauchte mir einen Kuss auf die Lippen, lächelte mir noch einmal zu und ließ mich stehen.

Während ich ihm, verwirrt über das abrupte Ende dieses traumhaften Nachmittags, dabei zusah, wie er langsam davonging, präsentierte sich meine ganz persönliche Dämonin, die Unsicherheit, mit hämischem Grinsen. »Er hat wieder nur mit dir gespielt«, flüsterte sie. »Er hat dich nicht einmal nach deiner Telefonnummer gefragt, und seine hat er dir auch nicht gegeben. Er hat sich mit dir eingelassen, weil er hoffte, dass aus der Raupe ein Schmetterling wird. Jetzt, wo die Zahnspange weg ist, was er, nebenbei gesagt, nicht einmal bemerkt hat, weiß er, dass du immer eine Raupe bleiben wirst, und hat das Interesse verloren. Siehst du, er ist um die Ecke gebogen, ohne sich noch einmal umzudrehen.«

Ich versuchte, sie zu ignorieren, doch meine Augen füllten sich mit Tränen.

>Echt jetzt?<, fragte die Wächterin. Dann schwieg sie wieder.

Ich machte mich bedrückt auf den Weg zur Bushaltestelle und versuchte die Unsicherheit zum Verstummen zu bringen, aber sie war hartnäckig. Und irgendwie hatte sie ja recht. Ich vermisste X jetzt schon, aber ihm schien es nicht so zu gehen, sonst hätte er mich doch sicher nach meiner Handynummer gefragt. Wenn wir uns morgen schon nicht sahen, hätten wir wenigstens ein paar WhatsApp austauschen können. Auf der Fahrt nach Hause starrte ich vor mich hin, ließ die Zeit mit X noch einmal Revue passieren und suchte nach Anzeichen dafür, dass er es ernst meinte. Es gab genauso viele wie für das Gegenteil und was mir schließlich in Erinnerung blieb, war, wie er, ohne sich noch einmal umzudrehen, um die Ecke bog. Als ich aus dem Bus stieg, fing es zu allem Überfluss an, zu regnen. Ich nahm es als zusätzliches, schlechtes Ohmen und meine mühsam zurückgehaltenen Tränen begannen zu fließen. Während ich nach Hause lief, schluchzte ich lautlos.

>Er hatte Schmerzen<, versuchte die Wächterin mich zu beruhigen. >Warte doch erst einmal ab, was übermorgen passiert.<

Es gelang ihr nicht.

Die Angst, für X nicht genug zu sein, ließ mich nicht los. Außerdem, wenn ich mich jetzt schon an den Gedanken gewöhnte, war die Enttäuschung nicht so groß, sollte er mich übermorgen im La Cuisine ignorieren.

>Oh Mann, du bist ein hoffnungsloser Fall<, sagte die Wächterin und seufzte tief.

Als ich die Haustür aufschloss, begrüßte mich Kleine, unsere Katze, wie immer überschwänglich. Überraschenderweise war auch meine Mutter schon zu Hause. Im Museum, in dem sie als leitende Altertumsforscherin arbeitete, schien wenig los zu sein.

»Tinchen?«, rief sie und kam aus der Küche. »Lass dich anschauen.« Als sie einen Blick auf mein Gesicht warf, stutzte sie. »Was ist passiert? Wurde die Zahnspange nicht abgenommen?«

»Doch. Und ich habe X getroffen und er hat mich geküsst. Bevor die Spange rauskam. Mehrmals«, fügte ich hinzu und fing wieder an zu weinen.

»Und warum hast du dann geweint?«, fragte meine Mutter verwirrt. Dann wurde ihr Blick hart. »Hat er etwas getan, was du nicht wolltest?«

»Nein, nein«, beeilte ich mich, zu sagen.

»Ich mache dir einen Vorschlag. Ich koche uns eine heiße Schokolade ...«, weiter kam sie nicht, denn ich fing wieder an zu heulen. Ich spürte, wie die Wächterin die Augen verdrehte und kam mir selbst albern vor, aber die Tränen wollten nicht versiegen.

Meine Mutter reichte mir ein Taschentuch. »Schnauben und Erzählen, von Anfang an«, befahl sie.

Ich tat wie geheißen. »Er war verändert, nachdem wir die Eisdiele verlassen hatten. Er hat nicht nach meiner Telefonnummer gefragt und sich nicht mal umgesehen, sondern ist einfach so verschwunden«, beendete ich den Bericht kurz darauf.

Meine Mutter schwieg einen Moment. »Warst du glücklich, während ihr zusammen wart?«

Ich nickte.

»Schien er glücklich gewesen zu sein?«

Wieder nickte ich.

»Aber zum Schluss ...«, begann ich.

»... hat er einfach nicht mehr so getan, als würde ihm nichts wehtun«, beendete meine Mutter den Satz. »Ich glaube, du machst dir zu viele Gedanken und du hast es wirklich nicht nötig, dir Sorgen zu machen. Ich meine, er hat dir vor versammelter Mannschaft eine Liebeserklärung gemacht und heute in der Öffentlichkeit mit dir rumgeknutscht.«

Ich musste an das denken, was ich auf seinem Schoß gespürt hatte, und wurde rot. Das hatte ich meiner Mutter nicht erzählt und bei dem Gedanken daran fühlte ich mich ein bisschen besser. »Danke. Mama, ich verschwinde in mein Zimmer und rufe kurz Anne an, OK?«

»Vorher zieh bitte die Schuhe aus. Das scheinst du in der letzten Zeit immer wieder gerne zu vergessen.«

Ich verdrehte die Augen, musste dabei an X denken, schlüpfte aus den Sneakers, stopfte sie in unseren hellgelben Schuhschrank und ging durch den Flur zu meinem Zimmer. Kleine folgte mir auf dem Fuß. Ich nahm das Smartphone aus der Tasche der Jeansjacke, zog sie aus und ließ sie auf den Boden fallen. Kleine nutzte die Gelegenheit und legte sich sofort darauf. Katzenhaarfreie Kleidung wurde eh überbewertet. Als ich mich auf das Bett schmiss, erhob sich Kleine, sprang zu mir und kuschelte sich an mich. Seufzend ging ich in den Videochat und rief meine beste Freundin Anne an. Seit meine Mutter und ich umgezogen waren, lebten wir in verschiedenen Städten und momentan vermisste ich sie noch mehr als sonst. Nach einer halben Stunde Videocall ging es mir besser. Wir hatten alle Seiten der Geschichte beleuchtet und jeden Dialog interpretiert. Am Ende war Anne zum gleichen Ergebnis gekommen wie meine Mutter. X hatte sich zwar komisch verhalten, aber ich musste mir keine Sorgen machen. Als ich aufgelegt hatte, erlaubte ich mir ein kleines bisschen Hoffnung und suchte meine Mutter, um ihr endlich die spangenlosen Zähne zu zeigen und nach dem Abendbrot zu fragen.

Obwohl sich die Dunklen seit der Vernichtung des Wolfswesens nicht mehr gezeigt hatten und auch der schwarze Engel verschwunden schien, hatte ich beim Schlafengehen ein flaues Gefühl im Magen. Da die Wächterin ebenfalls angespannt war, hatte es eindeutig nichts mit X zu tun. Ich holte mein Druidenmesser, das mir beim Ausüben von Ritualen, Schneiden von Dimensionen und Vernichten dunkler Wesen half, aus meiner Schultasche und schob es mit der Klinge zuerst unter das Kopfkissen.

>Gute Idee<, sagte die Wächterin. >Es wird etwas geschehen.<

»Ich liebe deine kryptischen Ankündigungen«, erwiderte ich und spürte, wie sie mir die Zunge herausstreckte. Bevor ich ins Bett ging, öffnete ich die Zimmertür noch einmal einen Spaltbreit, rief: »Gute Nacht, Mama«, wartete auf ihr »wünsche ich dir auch, Tinchen«, und schloss die Tür wieder. Mit klopfendem Herzen und äußerst wachsam krabbelte ich unter die Bettdecke, löschte das Licht und wartete. Es dauerte nicht lange und Xs wunderschönes Gesicht beherrschte meine Gedanken. Wie hatte ich jemals denken können, dass er zu perfekt wäre, um ihn zu mögen? Xs Mund verzog sich zu einem Lächeln, so als hätte er meine Gedanken irgendwie empfangen, und ich lächelte zurück. Ich konnte gar nicht anders.

Die Aussenseiter und der Kampf um den Buchladen

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