Читать книгу Die Aussenseiter und der Kampf um den Buchladen - Nicole Fünfstück - Страница 5
ОглавлениеKapitel 1 • Endlich
Ein Windstoß wirbelte das Herbstlaub durcheinander, als ich aus dem Bus stieg. Fröstelnd zog ich meine Jacke enger um mich. In ein paar Tagen begann der Oktober und das Wetter schien uns darauf einstimmen zu wollen. Seufzend machte ich mich auf den Weg zum Zahnarzt. Eigentlich hätte ich voller Elan und Begeisterung sein müssen, denn es sah so aus, als würde ich meine Zahnspange endlich loswerden, doch dafür war ich zu abgelenkt. Der Grund war X. Er war seit drei Tagen verschwunden und nach all dem, was geschehen war, machte mir das Angst.
Vor zehn Monaten hatte ich zusammen mit meinen Freunden Jo und Noah nicht nur einen Poltergeist ins Licht geschickt, sondern auch einen schwarzen Engel überlebt und danach ein Viruswesen vernichtet, das Sylvia von Kastanienburgs Vater fast in einen Werwolf verwandelt hätte. Außerdem war unser Tennisteam dank mir im Juni Schulmeister geworden.
Doch X, der schönste Junge der Welt, der seit dem Frühjahr in unserem Lieblingsrestaurant Café La Cuisine arbeitete, hatte es geschafft, das alles zu toppen. Er hatte mir vor dem gesamten Tennisteam und den meisten Zuschauern gestanden, in mich verliebt zu sein und mich gebeten, ihm seine Knutscherei mit einer Austauschschülerin zu verzeihen. Statt einer Antwort wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen, denn ich war mindestens so verliebt in ihn wie er in mich und es gab längst nichts mehr zum Verzeihen. Aber ich war auch schüchtern. Jemanden wie X, den Schwarm aller Mädchen, vor versammelter Mannschaft zu umarmen und vielleicht sogar zu küssen, hatte ich nicht fertig gebracht und ihm stattdessen nur versprochen, darüber nachzudenken. In der Nacht nach diesem Versprechen war mir der schwarze Engel im Traum erschienen. Er hatte mir gezeigt, wie jemand oder etwas X umbrachte.
Man sollte meinen, dass ich, als Wächterin dieser Stadt, sofort aufgebrochen wäre, um X zu treffen, denn einen besseren Vorwand, um mit ihm zusammenzusein, als ihn schützen zu wollen, hätte ich mir selbst nicht geben können. Aber alles, was ich fertiggebracht hatte, war, Jo und Noah von dem Traum zu berichten. Das Vertrackte war, dass ich X nicht warnen konnte, ohne ihm zu erklären, wer ich bin, und das durfte er unter keinen Umständen erfahren. Zum einen, weil es ein Geheimnis und zum anderen, weil der Freakfaktor einfach zu hoch war. Um überhaupt etwas zu tun, und da wir ihn nicht vierundzwanzig Stunden lang überwachen konnten, schaute bis heute mindestens einer von uns täglich im La Cuisine vorbei. Meistens aßen wir dort zusammen zu Mittag. Obwohl mein ganzer Körper kribbelte, wenn ich X gegenüberstand, und ich nichts lieber wollte, als ihm nahe zu sein, schaffte ich es nicht, über meinen Schatten zu springen. Ich wusste nicht wie. X freute sich jedes Mal aufrichtig, mich zu sehen, und mein Herz hüpfte aufgeregt, sobald ich ihn erblickte, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich an den Nachmittag nach dem Tennisturnier anknüpfen sollte. Ich war unfähig, auszusprechen was ich für ihn empfand, und er hatte bereits alles gesagt.
Inzwischen hatte ich die Hoffnung aufgegeben, dass aus uns ein Paar werden würde, denn es war zu viel Zeit vergangen. Und jetzt wusste ich noch nicht einmal mehr, wo er war. Seine Kollegen meinten zwar, er hätte sich nur freigenommen, doch mir wurde mit jedem Tag, den er wegblieb, mulmiger. Hatte er beschlossen, nicht länger zu warten und versuchte Abstand zu gewinnen oder war ihm etwas geschehen? Mein Herz raste bei diesem Gedanken. Wenn ihm durch meine Feigheit etwas zugestoßen war, würde ich mir das nie verzeihen.
Ich bog um eine Ecke und betrat die schmale Gasse, in der sich die Praxis des Zahnarztes befand. Da ich wie gewohnt mit gesenktem Kopf unterwegs war, um möglichst wenig aufzufallen, rannte ich mit jemandem zusammen, der leise aufstöhnte und abwehrend die Hände auf meine Oberarme legte. Erschrocken sah ich auf und blickte in grüne Augen. Mein Herz setzte für einen Schlag aus.
X.
Ich war ihm im wahrsten Sinne des Wortes in die Arme gelaufen. Mein Blick glitt über seine zerzausten halblangen blonden Haare, ich registrierte eine blutige Schramme auf seiner Wange und einen blauen Fleck am Kinn. Auch sonst sah er recht mitgenommen aus, trotzdem verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln. Es hatte den gleichen Effekt wie Sonnenstrahlen, die durch dicke Gewitterwolken brachen.
»Tina!« Er nahm die Hände von meinen Armen, strahlte mich an und mir wurde leicht schwindelig. Selbst angeschlagen war er umwerfend schön.
»X, was um Himmels willen ist passiert?« Ich hob die Hand und näherte sie dem Kratzer, doch er fing sie ab und nahm sie sanft in seine.
»Der Himmel hatte nichts damit zu tun«, erklärte er, ließ meine Hand aber nicht los.
Mein Herz kam erneut aus dem Rhythmus. »Willst du es mir erzählen?«, fragte ich tapfer.
Er zuckte mit den Schultern und verzog das Gesicht, hatte sich aber sofort wieder im Griff. »Ein Typ war der Meinung, ich hätte Lügen über ihn verbreitet, und hat mir mit seinen Kollegen aufgelauert. Ich konnte ihn vom Gegenteil überzeugen.«
»Aber nicht sofort«, sagte ich atemlos, denn X streichelte meinen Handrücken mit dem Daumen.
Er schüttelte den Kopf. »Trotzdem, es ist das Ergebnis, was zählt. Hast du Lust auf ein Eis?«
>Wenn du jetzt nein sagst, spreche ich nie wieder mit dir<, meldete sich meine innere Wächterin zu Wort. Sie hatte sich erstaunlich lange zurückgehalten.
»Hatte ich nicht vor«, antwortete ich in meinen Gedanken, denn sie war ein Teil von mir, den nur ich hören konnte und Selbstgespräche zu führen, hätte mich noch freakiger erscheinen lassen, als es meine Brille und die Zahnspange schon taten. Die Zahnspange, Mist! Ich musste zum Zahnarzt.
»Ja, habe ich«, sagte ich, bevor mich der Mut verließ. »Aber ich habe einen Zahnarzttermin.«
X sah mich an. »Die Zahnspange?«
Ich nickte überrascht. Wie hatte er das so schnell erfasst? »Sie kommt wahrscheinlich raus.«
»Hm«, machte er. »Soll ich auf dich warten?« Er strich mir eine vorwitzige Locke aus dem Gesicht und ich vergaß, Luft zu holen. X wollte auf mich warten. Ich nickte wortlos. Er lächelte, beugte sich zu mir und ehe ich wusste, wie mir geschah, berührten seine Lippen meine. Sie waren warm und weich und sanft und Oh! Er fuhr mir mit der Zunge vorsichtig über die Unterlippe. Überrascht öffnete ich den Mund und X nahm es als Einladung. Sanft erforschte seine Zunge meinen Mund und es war seltsam. Nein, irgendwie verrucht und aufregend. Meine Arme legten sich wie von selbst um seinen Hals und er zog mich näher zu sich. Sein Mund wurde drängender. Kurz bevor meine Knie nachgaben, löste er sich sanft von mir und lächelte mich an. Verwirrt und atemlos und mit dem Gefühl, als stünde mein Körper unter Strom, stand ich da. Mein erster Kuss. Wow! Aber was tat man danach?
»Das Warten hat sich gelohnt«, sagte X leise.
Mir wurde heiß und mit Sicherheit war mein Gesicht inzwischen knallrot. »Wirklich?« Ich wagte es fast nicht, ihn anzusehen.
X hob mein Kinn und küsste mich erneut. Ich konnte es kaum glauben. Es hatte ihm so gut gefallen, dass er es wiederholte. Trotz Zahnspange, Brille und meiner Schüchternheit wollte er mich. Dieser Kuss fühlte sich an, als wären X und ich eins. Ich war wie in einem Rausch und lehnte mich an ihn. Xs Hände wanderten über meinen Rücken zu meinem Po und ich versteifte mich überrascht. Sofort legte er sie wieder um meine Taille. Als er sich diesmal von mir löste, hatte ich fast das Gefühl, einen wichtigen Körperteil von mir zu verlieren.
»Du musst zum Zahnarzt und wir sind kurz davor, hier einen Skandal zu verursachen.« Er grinste und ergriff wieder meine Hand.
Mit glühenden Wangen erwiderte ich das Grinsen. Ich, die Metallschluckerin, das Mauerblümchen, war dabei, mit dem schönsten Jungen der Welt Aufsehen zu erregen. Es widerstrebte mir, seine Hand loszulassen. Er kam mir zuvor und trat einen Schritt zurück. Der Zauber, der mich umgeben hatte, verflog. Sofort war die Unsicherheit wieder da. Was, wenn er es sich anders überlegte, während ich beim Zahnarzt war?
»Ich warte auf dich«, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen.
Erleichtert ging ich die zwei Schritte bis zu dem Haus, in dem sich die Praxis befand, und klingelte. Als der Summer ertönte, sah ich über meine Schulter. X stand noch an derselben Stelle und lächelte mir zu. Schüchtern erwiderte ich das Lächeln, verschwand im Haus und hastete die Stufen hinauf in den ersten Stock. Normalerweise ließ ich mir dabei sehr viel Zeit, denn was Zahnärzte betraf, war ich ein Feigling, doch heute wollte ich so schnell wie möglich wieder nach draußen. X wartete auf mich. Mein Herz hüpfte, als hätte es Schluckauf. Wenig später saß ich auf dem Stuhl und obwohl meine Hände sofort feucht wurden, konnte ich es kaum erwarten, dass die Behandlung begann.
Dr. Mertens, mein Zahnarzt, beugte sich über mich und sagte kurz darauf: »Sieht super aus, Christina, die Spange kann raus.«
Obwohl das die Nachricht war, auf die ich gehofft hatte, war ich hibbelig, denn mir war bewusst, dass das Entfernen des auf die Zähne betonierten Metallgestells seine Zeit brauchen würde, und wurde immer nervöser, je länger es dauerte. X wartete auf mich. Um mich abzulenken überlegte ich mir, was er jetzt machte. Stand er cool an die Wand gelehnt, mit verschränkten Armen vor dem Eingang der Praxis oder hatte er vielleicht ein Bein an die Wand gestellt, die schwarze Lederjacke offen über dem enganliegenden, weißen T-Shirt, unter dem sich sein perfekter Body abzeichnete, und die Hände in den Taschen seiner Jeans? Ich sah ihn im Geiste auf mich zukommen, als ich aus dem Haus trat, und meinte, seine Lippen auf den meinen zu spüren.
Als Dr. Merkens »fertig«, sagte, sprang ich fast aus dem Zahnarztstuhl, doch er reichte mir einen Spiegel. »Sieh selbst, was ein bisschen Geduld bewirkt hat.«
Ich starrte in den Spiegel. Meine Zähne waren der absolute Hammer! Gerade und in einer Reihe. Außerdem sah ich irgendwie anders aus. Geküsst. Ich strahlte und gab dem Zahnarzt den Spiegel zurück. Als ich kurz darauf die Praxis verließ, klopfte mein Herz wie verrückt. In einer Wolke des Glücks stieg ich die Treppe hinunter, trat auf die Straße und stürzte in Schallgeschwindigkeit ab. X war verschwunden. Tränen schossen mir in die Augen.
>Reiß dich zusammen<, sagte die Wächterin. >Das hat ganz schön lange gedauert. Vielleicht ist er nur was besorgen gegangen.<
Ich holte tief Luft, wandte mich zur Fußgängerzone und da war er. Erleichterung und Enttäuschung durchströmten mich, denn das war nicht annähernd so, wie ich es mir vorgestellt hatte. X saß auf einer der Bänke, die in regelmäßigen Abständen in der Mitte der Fußgängerzone standen, die Arme auf der Rückenlehne, den Kopf im Nacken, als würde er den Himmel betrachten. Obwohl ständig Menschen an ihm vorbeigingen und viele ihn interessiert und bewundernd betrachteten, bemerkte er es nicht. Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen ging ich zu ihm. Als ich ihn fast erreicht hatte, sah ich, dass seine Augen geschlossen waren. Ich blieb verunsichert stehen. Sollte ich ihn einfach anstupsen? Ehe ich etwas sagen oder mich anderweitig bemerkbar machen konnte, öffnete er die Augen und sah mich an.
»Entschuldige, Tina. Meine Diskussion war anstrengender, als ich gedacht habe. Die Typen hatten schlagkräftige Argumente. Ich musste mich ein Weilchen setzen. Ich befürchte, ich brauche Hilfe beim Aufstehen.« Augenzwinkernd streckte er mir die Hände entgegen.
Ich ergriff sie und er zog mich mit einem Ruck auf seinen Schoß. Ein Kichern entfuhr mir. X grinste, legte mir die Hand in den Nacken und küsste mich. Viel zu früh löste er sich von mir.
»Das könnte ich ununterbrochen tun, aber ich habe dir ein Eis versprochen«, murmelte er kurz vor meinem Mund. Die Bewegung kitzelte mich und machte mich gleichzeitig verrückt. Ich überwand den wenigen Abstand zwischen uns und küsste ihn. Diesmal war es meine Zunge, die den aktiven Part übernahm. Noch völlig überrascht von meinem Mut hörte ich ihn leise stöhnen. Sofort gab ich ihn frei.
»Habe ich dir wehgetan?«, fragte ich atemlos und besorgt.
Er lachte leise. Seine Pupillen waren geweitet und sein Atem ging schneller als gewöhnlich. Liebevoll strich er mir über die Wange. »Nein, aber trotzdem ist es gut, dass wir eine Pause machen. Du erinnerst dich an die Sache mit dem Skandal?«
Ich sah ihn überrascht an. Dann verstand und spürte ich, was er meinte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Sie war mir peinlich und gleichzeitig fühlte ich mich mächtig wie nie zuvor in meinem Leben. Mein Kuss hatte diese Reaktion bei ihm ausgelöst.
»Eis?«, fragte er und ich nickte widerstrebend.
»Wir machen da irgendwann weiter.« Er lächelte. »Aber vielleicht nicht unbedingt in der Fußgängerzone.«