Читать книгу Die Aussenseiter und der Kampf um den Buchladen - Nicole Fünfstück - Страница 9
ОглавлениеKapitel 5 • Tsunami
Als wir den Raum der Bücher später verließen und ich gegen die Tür klopfte, damit niemand außer Mathildes Schlüssel sie wieder öffnen konnte, hatte ich Schmerzen im linken Arm. Das Ritual zum Erschaffen einer Lichtpeitsche beschränkte sich nicht nur auf das Erschaffen selbst, sondern man musste die Peitsche auch mit einer vorgegebenen Bewegung schwingen, sonst erlosch ihr Licht sofort wieder. Außerdem galt es, mit ihr ein Ziel zu treffen, sie um einen Körperteil des Wesens zu schlingen, am besten dessen Hals, denn wenn sich die Peitsche einmal um ein dunkles Wesen gewickelt hatte, verlor dieses seine Magie. Nur seine körperlichen Kräfte blieben ihm erhalten. Sollte es ihm allerdings mit Hilfe dieser gelingen, sich von der Peitsche zu befreien oder mich zu erreichen, kehrte seine Magie zurück. Vor mir lag noch eine Menge Arbeit.
»Ich hoffe, morgen kann ich den Arm wieder normal bewegen, sonst reißt mir Ihre Hoheit den Kopf ab«, sagte ich und massierte mir den linken Oberarm. Der Gedanke an eine zickige Sylvia von Kastanienburg war nicht gerade aufbauend. Zwar waren wir, nachdem wir ihr erst geholfen hatten, einen Poltergeist loszuwerden und dann ihren Vater davor zu bewahren, sich dauerhaft in einen Werwolf zu verwandeln, keine Feindinnen mehr, aber Freundinnen waren wir deshalb auch nicht. Dafür sorgten schon ihre drei Anhängerinnen. Ramona, Michelle und Janine. Das Dreigestirn, wie Jo sie nannte, hasste mich nicht nur, weil ich eine Außenseiterin war. Der Umstand, dass ich wesentlich besser Tennis spielte als sie, trieb sie zur Weißglut. In ihrer Vorstellung hatten Außenseiter keine besonderen Fähigkeiten zu haben und schon gar keine, die die ihren übertrafen. Und Sylvia konnte und wollte es nicht riskieren, ihre einzigen Freundinnen zu verlieren, indem sie sich dazu bekannte, uns zu mögen. Deshalb verhielt sie sich mir gegenüber so wie vor unserer Dämonenjagd. Zumindest in der Öffentlichkeit.
»Stimmt, morgen habt ihr ja Training«, sagte Jo. »Ich warte hier im Buchladen auf euch. Ihr kommt doch danach vorbei, oder?«
»Klar.« »Definitiv«, bestätigten Noah und ich.
»Und vorher stärken wir uns im La Cuisine«, beschloss Jo vergnügt.
>Das wird ein Spaß<, sagte die Wächterin und ich konnte das Grinsen in ihrer Stimme hören.
Mein Herz setzte bei dem Gedanken allerdings für einen Schlag aus. Morgen würde ich X wiedersehen. Schweigend, aber kribbelig vor Nervosität folgte ich Jo und Noah, die sich über Noahs letztes Trainingsspiel unterhielten, zum Eingangstresen. Als wir ihn erreichten, ging ich zu Mathilde und drückte sie.
»Wofür war das denn?«, fragte sie völlig überrumpelt.
»Dafür, dass Sie alles aufgegeben haben, um mir zu helfen.« Ich schluckte den Kloß hinunter, der sich in meinem Hals breitmachte.
Mathilde sah mich einen Augenblick lang schweigend an. »Du bist die Erste, die sich bedankt. Aber das ist nicht nötig. Es war meine Entscheidung und ich bin glücklich, dass ich sie getroffen habe. Ich würde es immer wieder tun. Sehen wir uns morgen?«
Ich nickte. »Ich versuche, eine Lichtpeitsche zu erzeugen, und das ist verflixt schwer.«
»Du musst sie dir als Teil deines Armes vorstellen, dann wird es einfacher.« Mathilde griff wieder zu ihrem Buch.
»Wo geht es heute hin?«, erkundigte sich Jo und ignorierte den Stoß, den Noah ihm verpasste.
Mathilde lächelte. »Mir ist nach Abenteuern und ich war lange nicht mehr im Dschungel.« Sie hielt ein Buch in die Höhe, dass den Titel `die Insel der fünf Frauen´ trug.
»Passen Sie auf sich auf«, bat Noah.
Mathilde nickte. »Macht euch keine Sorgen. Ich bin schon lange Hüterin.«
Wir verließen den Buchladen und Jo sagte, kaum dass sich die Tür hinter uns geschlossen hatte: »Jetzt wissen wir, warum sie immer liest. Und sie ist eine richtige Draufgängerin. Ihr steht der Sinn nach Abenteuern? Ich an ihrer Stelle würde mich möglichst nur in Geschichtsbüchern vergraben.«
»In solchen über den Zweiten Weltkrieg?«, erkundigte sich Noah.
Jo stutzte. »Du hast recht. So gesehen birgt jedes Buch seine eigenen Gefahren. Ebenso, wie jedes Buch seine eigene Seele hat, wie wir jetzt wissen. Denn das ist es doch, was die Springerinnen sind. Die Seelen der Bücher.«
Wir sahen ihn verblüfft an.
»Jo, manchmal bist du unglaublich«, erklärte Noah fast feierlich und öffnete die Kette seines Fahrradschlosses.
>Da stimme ich ihm zu<, sagte die Wächterin. >Jo sieht die Wahrheit, wo andere nicht einmal hinsehen.<
Als Noah davonradelte, machten Jo und ich uns auf den Weg zur Bushaltestelle.
»Er hat recht, weißt du?« Ich warf ihm einen Seitenblick zu. »Du bist der Einzige von uns, der die wahre Bedeutung der Worte über die Hüterinnen erfasst hat. Ich habe nur das Opfer darin gesehen, das Mathilde und alle anderen gebracht haben.«
Jo wurde rot. »Ich verbringe viel Zeit im Buchladen und manchmal habe ich das Gefühl, die Bücher würden zu mir sprechen, als wären sie lebendig.«
Ein Blitz der Erkenntnis durchfuhr mich. »Und das sind sie, Jo«, sagte ich aufgeregt. »Nicht das geschriebene Wort, aber die Seherin und der magische Rat. Sie wissen, was im Buchladen vor sich geht. Sie hören uns zu. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Hüterinnen überwacht werden. Deshalb besprechen wir wichtige, geheime Dinge nur im Raum der Bücher. Dahin kann uns niemand folgen.«
»Das denke ich auch«, sagte Jo ruhig. »Ich hatte immer das Gefühl, als würden uns die Bücher belauschen. Ich habe es nur nicht angesprochen, weil ich nicht wollte, dass ihr mich für völlig übergeschnappt haltet.«
»Mensch, Jo!« Ich blieb stehen und sah ihn kopfschüttelnd an. »Warum sollten wir dich für verrückt halten? Das Erste, was wir gelernt haben, seit wir uns mit dunklen Wesen beschäftigen, ist, unserer Intuition zu folgen. Solche Dinge musst du uns sagen. Unser aller Leben könnte davon abhängen.«
In dieser Nacht schlief ich tief und traumlos und erwachte noch vor dem Klingeln des Weckers. Eine echte Seltenheit. Ich schaltete ihn aus, bevor mir das nervige Piepen die gute Laune verderben konnte, und rekelte mich. Dabei fiel mir ein, dass ich heute X wiedersehen würde. Sofort hämmerte mein Herz vor Aufregung und mir wurde fast ein bisschen schlecht. Mit wackeligen Knien stieg ich aus dem Bett und zog das Rollo hoch. Der September gab noch einmal Gas. Das Wetter sah genauso gut aus, wie vom Wetterbericht versprochen. Ich schnappte mir die Klamotten, die ich mir am Vorabend rausgelegt hatte, und verschwand ins Bad. Als ich sorgfältig geschminkt in die Küche trat, sah meine Mutter mich von oben bis unten an und lächelte.
»Super siehst du aus. Den Pullover nur halb in den Bund der schwarzen Jeans zu stecken, ist eine gute Idee. Heute ist also der große Tag.«
Ich nickte. »Mir ist schon ganz schlecht. Was mache ich, wenn es nur ein Spiel war?«
»Dann schnappst du dir Noah und knutscht mit ihm vor allen Leuten. Danach isst du in Seelenruhe auf, verlässt das Café und erklärst Noah, was geschehen ist«, sagte meine Mutter trocken.
Ich prustete los. »Ich glaube nicht, dass ich das bringe.«
Nach Schulschluss machten wir uns auf dem Weg zum La Cuisine. Vor lauter Nervosität und weil das Wetter wärmer war als vermutet, zog ich meine Jeansjacke aus, knotete sie um die Hüften und löste sie fünf Schritte weiter wieder, weil ich es uncool fand, sie so zu tragen. Ich zog sie an und sofort wurde mir warm. Jo warf mir einen irritierten Seitenblick zu. Je näher wir dem Café und damit X kamen, desto nervöser wurde ich. Mir dröhnten die Ohren und ich wischte mir die schweißfeuchten Finger mehrmals an meiner Jeans ab.
»Alles in Ordnung, Christina?«, erkundigte sich Noah.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es noch nicht und ich erkläre es euch später.«
»Wundere dich nicht, falls ich dich nachher küsse«, fügte ich in Gedanken hinzu und kicherte hysterisch. Als ich die verwirrten Gesichter von Jo und Noah sah, verwandelte sich das Kichern in Lachen. Ich krümmte mich regelrecht und hörte nicht auf, bis ich Seitenstechen hatte und wir vor dem La Cuisine standen. Das Restaurant Café war in einem Eckladen im Erdgeschoss eines Mietshauses untergebracht und im Stil alter französischer Straßencafés aufgemacht. Die uns zugewandte Front des Cafés war in gedecktem lindgrün gestrichen und dort, wo sich die Fenster befanden, war die Mauer zurückversetzt, so dass sie eine Nische bildete, in der eine Holzbank mit weinroten Kissen stand. Heute standen allerdings keine Tische und Stühle davor. Wahrscheinlich hatten die Besitzer die Hoffnung aufgegeben, dass sich jemals jemand dorthin setzen würde, denn die wahre Attraktion befand sich im Inneren des Cafés. Und wenn ich großes Glück hatte, ach was, wenn ein Wunder geschah, wartete sie auf mich und wollte mehr, als nur einen Nachmittag knutschend verbringen. Immer noch glucksend trat ich in das Café und mein Blick suchte automatisch nach X. Er sah im gleichen Moment hoch und zwinkerte mir zu. Augenblicklich wurde ich ruhiger. Es war, als würden sämtliche Sorgen und Ängste verpuffen wie eine Seifenblase. Er hatte mir zugezwinkert. So etwas machte man nicht, wenn einem der andere egal war. Oder doch? Mein Herz klopfte wieder schneller.
>Du machst mich fertig<, sagte die Wächterin schwach. >Diese Achterbahn der Gefühle halte ich nicht mehr lange aus!<
»Willkommen in meiner Welt«, antwortete ich ihr stumm und folgte Jo und Noah, die einen Tisch in einer Nische ansteuerten. Dabei kamen wir an einem Vierertisch vorbei, an dem jegliche Unterhaltung verstummte, sobald wir ihn erreicht hatten. Ich warf einen überraschten Blick auf die dort Sitzenden und erkannte Sylvia und ihren Hofstaat. Die hatten mir gerade noch gefehlt. Falls X mich abservieren wollte, würden sie mich das mein Leben lang spüren lassen. Plötzlich kam mir der Plan B meiner Mutter nicht mehr so abwegig vor.
»Wir sehen uns nachher«, sagte ich lahm und zu ihrer und meiner Überraschung. Normalerweise ignorierten wir uns gekonnt. Aber was war heute schon normal? Bevor sie Zeit hatten, etwas zu erwidern, ging ich zu Jo und Noah, die sich gerade auf die Stühle fallen ließen, und setzte mich zu ihnen.
»Was macht eigentlich dein Arm?«, erkundigte sich Jo und warf einen Blick zu Sylvia und dem Dreigestirn, die leise tuschelten.
»Dem geht es prima.« Wesentlich besser als meinem Selbstbewusstsein, fügte ich in Gedanken hinzu und zog die Jacke endgültig aus.
Nachdem wir das Essen gewählt hatten, machte ich mich mit weichen Knien auf den Weg zum Tresen, um zu bestellen. Mit jedem Schritt, den ich X näher kam, klopfte mein Herz schneller und als ich schließlich vor ihm stand, dachte ich, es müsste zerspringen.
»Hi«, presste ich hervor und wurde rot.
»Selber hi.« X bedachte mich mit einem Lächeln, das mich wieder einmal schwindelig machte und mit Sicherheit auch die letzte Ecke des La Cuisine erhellte.
»Ich hätte gerne einen Hamburger und eine Cola«, sagte ich, da mir nichts Besseres einfiel.
»Und ich einen Kuss zur Begrüßung.« Bevor mein Gehirn Xs Worte erfasst hatte, kam er bereits hinter dem Tresen hervor und zog mich in seine Arme. »Ich habe dich vermisst«, flüsterte er und fuhr sanft mit den Lippen über meinen Mund. Reflexartig legte ich ihm die Arme um den Hals und küsste ihn. Erst als wir uns voneinander lösten, wurde mir bewusst, dass es im Café totenstill geworden war.
»Hamburger also?« X grinste und kehrte hinter den Tresen zurück. Im gleichen Moment brach ein wahrer Tsunami an Geflüster über uns herein.
»Mit Pommes und Cola für mich«, antwortete ich mit einem Gefühl zu schweben und erwiderte sein Grinsen. »Jo nimmt die Spaghetti Bolognese und Noah den Couscous Salat.«
»Geht los. Wenn das Lämpchen leuchtet, sehen wir uns wieder. Ich hoffe, der Koch gibt Gas.« Er lächelte mir noch einmal zu und wandte sich dann an das Mädchen hinter mir, das mich mit einem giftigen Blick bedachte. »Was darf es sein?«
Beschwingt und mit einem leicht debilen Grinsen kehrte ich zu unserem Tisch zurück. Dabei registrierte ich vergnügt, dass Ramona, Janine und Michelle mich mit offenem Mund anstarrten, während Sylvia ein Lächeln zu unterdrücken schien. Bei Jo und Noah angekommen, setzte ich mich zu Jo, der zwischenzeitlich auf die Bank übergewechselt war und zu dem Vierertisch hinübersah. Als ich ihn leicht anstupste, zuckte er wie ertappt zusammen.
»Könnte es sein, dass du vergessen hast, uns etwas mitzuteilen, Vulkanchen?«, fragte er und wandte seine Aufmerksamkeit vollständig mir zu.
Ich verzog entschuldigend das Gesicht. »Sorry, dass ich es euch noch nicht erzählt habe. Bis eben war ich mir nicht sicher, ob es etwas zu erzählen gibt.« Dann berichtete ich ihnen in groben Zügen von meinem Treffen mit X.
Noah lächelte. »Ich freue mich für dich. Du hast ihn ganz schön lange zappeln lassen und dass er nicht aufgegeben hat, spricht für ihn.«
»Ich freue mich auch, aber wir jagen trotzdem weiter dunkle Wesen, oder?« Jo sah mich unsicher an.
Ich verdrehte die Augen. »Was für eine Frage. Aber ich werde wahrscheinlich einen Terminplaner brauchen, um den Überblick nicht zu verlieren.« Ich zwinkerte ihm zu.
»Die Liebe ruft«, sagte er ein paar Minuten später und zeigte auf die Tischlampe, die leuchtete, was bedeutete, dass unser Essen abholbereit war. Ich nahm das Geld, das Jo und Noah mir reichten, und ging zurück zum Tresen. X stellte die Teller auf ein Tablett und nahm das Geld entgegen.
»Ich bin übrigens ein bisschen böse auf dich«, sagte er und legte es in die Kasse.
Erschrocken sah ich ihn an. »Was, wieso?«
Er reichte mir das Wechselgeld und hielt dabei meine Hand fest. »Na ja, warum hast du mich vorgestern nicht daran erinnert, dass ich deine Handynummer noch nicht habe? Ich war durch die Schmerzen so abgelenkt, dass es mir erst zu Hause aufgefallen ist, und da war es zu spät.«
Ich wurde rot. »Ich war mir nicht sicher, ob du sie haben willst«, flüsterte ich, wissend, dass alle in der Reihe hinter mir lange Ohren machten.
>Du hättest sagen können, dass du es vergessen hast. Das wäre wesentlich cooler gewesen<, schimpfte die Wächterin, was natürlich stimmte, doch nun war es zu spät dafür.
X sah mich verblüfft an. »Was? Wieso sollte ich sie nicht haben wollen? Das musst du mir nachher genauer erklären. Ich bin um halb sechs hier fertig. Holst du mich ab?«
Mein Herzschlag hatte inzwischen die Geschwindigkeit von Kolibriflügeln. X wollte, dass ich ihn abholte. Und er wohnte über dem Café.
>Sag was!<, befahl die Wächterin.
»Klar, halb sechs«, stammelte ich.
X lächelte, ließ meine Hand los und wandte sich an das Mädchen hinter mir.