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I

Kynthia

Kynthia wartete. Noch immer stand Nikos mit zehn anderen Männern bis zu den Waden in der Töpferschlammgrube und schaufelte feuchten Lehm in einen großen, mit einem Leinentuch ausgelegten Korb. Gleich würde er den Korb zu den anderen auf den Wagen stellen, in dessen Schatten Kynthia am Boden saß. Es machte ihr nichts aus zu warten. Sie genoss es, von hier oben aus den Hügeln auf die große Stadt hinunterzublicken, in der sie aufgewachsen war. Einige Gebäude dort unten waren deutlich zu erkennen. Nicht mehr lange und die Abendsonne würde den mächtigen Tempel des Apollon in ihre Strahlen tauchen und in seiner ganzen farbigen Pracht erleuchten lassen. Und wenig später würde der Aphroditetempel ganz oben auf dem Akrokórinthos, dem die Stadt überragenden mächtigen Fels, von Hunderten von Fackeln erleuchtet werden.

Einmal hatte Kynthia mit Nikos auf einer kleinen Bühne mitten auf der Agorá1 ein Theaterstück gesehen, zwei zum Leben erwachte Statuen von Apollon und Aphrodite im Wortgefecht: Wer hatte den besseren Platz, wer lag den Menschen mehr am Herzen? Kräftig geschminkt und in farbenprächtige, knappe Gewänder gehüllt, hatten sich die beiden gegenübergestanden und der Gott des Lichts, der Heilung und der Künste hatte so etwas gesagt wie:

„Ich, Apollon, bin den Menschen wichtiger als du. An mich denken sie viel öfter, nicht nur wenn sie meinen prächtigen Tempel sehen hier mitten in der Stadt, sondern beim Anblick jedes Kunstwerks, beim Klang jeder Melodie, die in den Straßen und Häusern ertönt!“

„Aber meinen Tempel da oben auf dem Felsen“, hatte die Göttin gestenreich geantwortet, „sieht man schon, bevor man überhaupt durch eines der Stadttore eingetreten ist. Und wer den Blick auf den Akrokórinthos richtet, wird an mich erinnert und an die Liebe. Und an nichts denken die Menschen lieber!“

„So, das reicht für heute!“

Nikos‘ Stimme riss Kynthia aus ihrer Erinnerung. Gemeinsam mit dem jungen Sklaven, den er sich für diesen Tag ausgeliehen hatte, hob er den vollen Korb auf den Wagen und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während der Junge ihre Schaufeln holte. Dann griff er nach dem vollen Wasserschlauch, den Kynthia mit Brunnenwasser gefüllt und für ihn mitgebracht hatte. Als Nikos seinen Durst gestillt hatte, reichte er den Schlauch an den Sklaven weiter. Kynthia stand auf und betrachtete den Wagen, dessen Räder auf beiden Seiten tief in den lehmigen Boden gesunken waren.

„Hoffentlich hält der Karren das Gewicht aus“, murmelte sie. Nikos zuckte die Schultern und grinste breit. Kynthia war nach der Arbeit in der Töpferwerkstatt zur Tongrube hinaufgewandert, um ihren Mann nach Hause zu begleiten. Nikos war größer als die meisten anderen Männer und sein lockiges schwarzes Haar war noch ebenso so dicht wie bei ihrer Hochzeit vor neun Jahren. Die ebenmäßig schönen Züge einer Marmorstatue waren ihm nicht eigen: Die Nase war ein kleines bisschen zu groß und der volle Mund wirkte ein wenig schief. Aber wenn er, wie jetzt, gut gelaunt war, lachte das ganze Gesicht. Besonders in Momenten wie diesem fand Kynthia ihren Mann schön: wenn ihm, der sich inzwischen eher zu den Händlern zählte als zu den Handwerkern, die Freude an der körperlichen Anstrengung ins Gesicht geschrieben stand, wenn der Schweiß seine über straffe Muskeln gespannte Haut zum Glänzen brachte und die Haare sich in Stirn und Nacken kräuselten.

Kynthia holte das Maultier, das sie sich mit zwei anderen Töpferfamilien teilten. Es döste ein paar Schritte entfernt im Schatten einer Zypressengruppe. Kynthia löste das Seil vom Baumstamm, schnalzte mit der Zunge und gab dem Tier einen Klaps auf das knochige Hinterteil. Sie führte es zum Karren, und der junge Mann spannte es ein.

Nikos straffte die Schultern und rieb sich die Hände. „Dann wollen wir mal“, sagte er in unternehmungslustigem Ton und nickte dem Burschen zu. Beide stellten sich hinter den Wagen, beugten sich vor und schoben. Aber das Gefährt bewegte sich nicht von der Stelle. Kynthia trieb das Maultier an. Es versuchte vorwärtszugehen, aber schon nach dem ersten Schritt blieb es stehen und senkte den Kopf.

„Nun komm, du schaffst das schon!“, murmelte Kynthia ihm in sein zuckendes Ohr. Sie griff das Führseil direkt unter dem weichen Maul und zog. Noch einmal schoben die beiden Männer mit aller Kraft von hinten an, und tatsächlich setzte sich der Zug schwerfällig in Bewegung. Mehrmals blieb das Maultier stehen und senkte unwillig den Kopf, und jedes Mal, wenn der Wagen sich mit knarzenden Rädern wieder in Gang setzte, sah Kynthia besorgt nach hinten. Nach dem fünften Mal richtete sich Nikos auf, wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß aus der Stirn, schüttelte die schwarzen Locken, die stutzen zu lassen er schon seit Monaten keine Zeit mehr gefunden hatte, zwinkerte ihr aufmunternd zu und ging wieder in Position. Das Maultier ließ sich von dem kräftigen Anschub von hinten überzeugen und setzte sich ebenfalls wieder in Bewegung. Kynthia wandte den Blick wieder nach vorne. Ob Nikos heute Abend sehr müde sein würde, wenn die Familie gemeinsam gegessen hätte und sie beide sich ins Schlafzimmer zurückzogen? Würde es ihr wohl gelingen, Nikos noch ein wenig wach zu halten, nachdem ihr Sohn Leander eingeschlafen war? Obwohl er es ihr schon oft gesagt hatte, fragte sich Kynthia immer wieder einmal, ob es stimmte, dass Nikos sie hübsch fand – mit ihren tief liegenden hellbraunen Augen, dem kleinen Mund, den kaum zu bändigenden krausen Haaren. Seit der Geburt ihres Sohnes Leander vor sieben Jahren fand sie sich einen Deut zu füllig, aber Nikos schien gerade das zu gefallen. Er begehrte sie, aber wenn er mit ihr schlafen wollte, fragte er sie, ob es ihr recht sei, und er bestand nicht darauf, dass sie ihm weitere Kinder schenkte, denn Leanders Geburt hatte sie nur knapp überlebt. Die Götter hatten es wirklich gut mit ihr gemeint.

Als die Straße ebenmäßiger wurde, ließ Nikos den Sklaven allein schieben, übernahm das Führseil des Maultiers und ging neben Kynthia her.

„Hat der Sklave gut gearbeitet?“, fragte sie.

„Ja, ich bin sehr zufrieden.“

Noch bevor sie sich überlegen konnte, wie sie die nächste Frage formulieren könnte, legte er ihr den freien Arm um die Schultern und raunte ihr ins Ohr:

„Wir behalten ihn trotzdem nicht.“

Kynthia biss sich auf die Unterlippe.

„Nikos, bitte denk noch einmal darüber nach. Iago wird nicht mehr lange die große Drehscheibe betätigen können. Er braucht immer öfter eine Pause. Für jede Amphore brauche ich fast doppelt so lange wie früher.“

„Es geht nicht, Kynthia. Ich bringe den Burschen gleich zurück zum Händler.“

Diesmal fragte sie nicht, wann sie genug Geld haben würden für einen jungen, kräftigen Werkstattsklaven. Sie wusste, sie würde dieselbe Antwort bekommen wie immer: Irgendwann, bald. Vor einem Jahr hatte der Unternehmer Gaius Nikos gefragt, ob er für ihn in seiner Ziegelei arbeiten würde. Gaius war unermesslich reich und besaß alle möglichen Betriebe, aber von Ton und Ziegelherstellung verstand er nichts. Die Ziegelei hatte er geerbt. Nikos wollte nicht als Angestellter arbeiten, und Gaius hatte sich bereit erklärt, ihm Anteile zu verkaufen. Kynthia war nicht glücklich darüber gewesen, obwohl sie wusste, dass Nikos ihre Familie dadurch auf lange Sicht besser stellen wollte. Aber nun hieß es erst einmal sparen, an allen möglichen Enden, und auch ein dritter Sklave war einfach nicht erschwinglich. In letzter Zeit war die Arbeit in der Werkstatt viel mühsamer geworden, auch deshalb, weil Nikos oft in der Ziegelei war und sie und ihr Bruder Phaistos, dem Werkstatt und Laden zur Hälfte gehörten, die ganze Arbeit dort alleine erledigen mussten.

Kynthia war erleichtert, als das Isthmische Stadttor in Sicht kam. Bis hierher war der Wagen heil geblieben.

„Hoo, steh!“, rief Kynthia und stellte sich dem Maultier in den Weg. Eine grünbraune Halbkugel schob sich durch das Gras und verschwand zwischen den Olivenbäumen zu ihrer Linken.

„Was ist los?“, wollte Nikos wissen.

„Eine Schildkröte“, rief sie. „Die fange ich ein für Leander.“

Leanders letzter Schildkröte war vor wenigen Tagen die Flucht zurück in die Hügel der Korinthia gelungen. Wo immer diese hergekommen war; ihr Weg endete an der zweiten Baumreihe.

„Komm her, Kleiner!“

Kynthia nahm das Tier hoch, dessen Kopf und Beine bereits in seinem Panzer verschwunden waren, und wollte gerade zur Straße zurückgehen, als sie stutzte und stehen blieb: Da lag etwas. Ein Bündel Kleider? Nein, ein Mensch! Vor einem Baum lag ein bärtiger Mann im Gras und schien zu schlafen.

„Wo bleibst du denn?“, rief Nikos von der Straße her.

„Komm mal her, hier liegt jemand!“

Der Fremde richtete sich auf, fasste sich mit zitternden Händen an die Stirn und lehnte sich gegen den Baumstamm hinter ihm. Nikos trat neben Kynthia und berührte sie an der Schulter: Bleib hier stehen, sagte er damit und ging langsam auf den Mann zu. Nein, so gefährlich sah er auch wieder nicht aus. Kynthia ging hinter Nikos her.

„Was machst du hier?“, fragte Nikos den Fremden halbwegs freundlich. Der Mann versuchte zu sprechen, brachte aber nur ein Stöhnen fertig.

„Ist er betrunken?“, fragte Kynthia.

„Ich weiß nicht.“

„Geh näher ran, dann kannst du es riechen.“

Mit angewiderter Miene drehte sich Nikos zu ihr um und schüttelte den Kopf.

„Ich bin nicht betrunken.“

Der Fremde sprach leise, aber klar und deutlich und mit einem ganz leichten Akzent, der verriet, dass er aus Mikra Asia2 stammte. Seine Hände zitterten stark. Er legte sie zusammen, schien die eine mit der anderen festhalten zu wollen.

„Es tut mir leid, dass ich in euren Garten eingedrungen bin. Ich konnte nicht mehr weitergehen. Meine Muskeln … manchmal … gehorchen sie mir nicht. Auch jetzt kann ich … mich kaum bewegen.“

Er starrte auf seine zitternden Hände.

„Wenn ihr erlaubt, … bleibe ich hier, bis es … mir ein wenig … besser geht.“

Nikos ging vor dem Fremden in die Hocke.

„Bist du etwa alleine gereist? Wo kommst du denn her?“

Der Mann holte tief Luft.

„Zuletzt war ich in Athínai3. Dort habe ich mich einer Gruppe von Händlern angeschlossen. Sie wurden in Léchaion erwartet, deswegen trennten wir uns hier. Ich wollte in die Stadt. Mir ein Quartier suchen und dann früh auf die Suche nach Arbeit gehen. Aber dann … ging es wieder los.“

„Ich würde dir schon erlauben, dich hier weiter auszuruhen, aber das ist nicht mein Garten. Und du solltest auch nicht allein hier bleiben. – Kynthia, hol Demetrios. Um die Zeit müsste er schon zu Hause sein, um dort Patienten zu empfangen.“ Er wandte sich wieder dem Mann zu. „Mein Freund ist Arzt. Er wird dir helfen.“

Der Fremde wollte sprechen, vermutlich widersprechen, brachte aber nur ein Stöhnen zustande.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte Nikos. „Er wird nichts dafür verlangen. Wie gesagter ist mein Freund. Er soll unbedingt nach dir sehen. Du kannst ja nicht einmal aufstehen und allein hier bleiben kannst du auch nicht. Ich warte bei dir.“

Der Mann gab seinen Widerstand auf und sank wortlos wieder ins Gras.

„Ich beeile mich“, sagte Kynthia leise, nahm die Schildkröte auf und drückte sie sich an die Brust. Der Gedanke, alleine mitten durch die Stadt zu laufen, behagte ihr nicht. Sie blieb unschlüssig stehen und starrte stumm vor sich hin. Nikos sah sie fragend an, und Kynthia lächelte verlegen.

„Sehen wir uns nachher noch?“, fragte sie. Wenn Nikos mit seinem Freund Demetrios zusammentraf, konnte es gut sein, dass er mit ihm den Abend verbrachte, statt nach Hause zu kommen.

„Mal sehen, wir müssen noch den Wagen abladen und vielleicht gehe ich noch mit Demetrios ins Bad. – Nun schmoll nicht. Immerhin kommt dein Mann dann wohl duftend nach Hause.“

Kynthia warf einen letzten Blick auf den bedauernswerten Fremden, schüttelte ihre Enttäuschung ab und ging dann mit schnellen Schritten auf der gepflasterten Straße auf das Tor zu und unter dem Triumphbogen hindurch, auf dem der Sonnenwagen des Helios in der Sonne bronzen funkelte.

Demetrios war tatsächlich zu Hause. Sie musste ein wenig in der Eingangshalle seines vornehmen Stadthauses warten, bis er mit einem Patienten aus seinem Behandlungszimmer kam. Sofort schickte der Arzt zwei Sklaven los, damit sie den Fremden abholten. Vor der Basilica Iulia4 blieb Kynthia an einem Brunnen stehen, setzte die Schildkröte auf den Rand und schlug die Falte der Palla5 zurück, die ihren Kopf bedeckt hatte. Sie tauchte Hände und Unterarme ganz in das klare Wasser ein, das aus einem steinernen Schlangenmaul in das Becken lief. Die Kühle auf den Unterarmen tat gut, und sie legte die feuchten Hände erst auf ihre brennenden Wangen, dann auf die Stirn. Ein leichter Wind streichelte ihr die Haut im Nacken. Kynthia drehte sich um, lehnte sich an den Brunnen und hielt mit geschlossenen Augen das Gesicht in die Brise. Sie war sehr schnell gegangen, und obwohl die Sonne schon tief stand, hatte sie noch viel Kraft; es war einer der letzten Sommertage in diesem Jahr. Kynthia nahm ihren Wasserschlauch vom Gürtel, hielt ihn unter das Schlangenmaul, füllte den Schlauch ganz und nahm einen großen Schluck daraus. Ungern legte sie sich das Ende der Palla wieder über den Kopf. Sie ging nicht oft aus und war es gewöhnt, den ganzen Tag im leichten Chiton herumzulaufen. Aber sie wusste, was sich gehörte, und es gehörte sich nun einmal nicht für eine Frau, in der Öffentlichkeit ohne Kopfbedeckung herumzulaufen.

Ein paar Augenblicke lang blieb sie noch stehen, beobachtete das rege Treiben auf dem Marktplatz, hörte den Händlern an den Ständen zu, die ihre Waren als die allerbesten anboten oder mit Kunden um Preise feilschten, beobachtete eine Gruppe von tratschenden Frauen in sehr schönen, sauberen Chitons in kräftigen Farben und dazu passenden Pallae in leichten, durchsichtigen Stoffen und ein paar Kinder, die Fangen spielten. Eine prächtige Sänfte schob sich ins Bild, getragen von acht Sklaven. Hinter den zugezogenen Vorhängen drang das Lachen einer Frau hervor. Der Anblick eines Mannes, der neben dem Stand eines Bäckers an einer Mauer lehnte und herzhaft in ein Stück Honigkuchen biss, erinnerte Kynthia daran, dass sie selbst hungrig war. Sicher spielte Leander zu Hause im Hof hinter der Werkstatt mit anderen Kindern, während die Sklavin Rubia das Essen für die Familie zubereitete. Rubia hatte sich schon um sie und Phaistos gekümmert, als sie Kinder waren, und jetzt kümmerte sie sich um Leander, wenn er von der Schule nach Hause kam und Kynthia noch in der Werkstatt oder im Laden arbeitete. Sie war schon ein paar Schritte gegangen, als ihr die Schildkröte wieder einfiel. Schnell machte sie kehrt und fand das Tier immer noch reglos auf dem Brunnenrand vor.

Plötzlich kam es ihr albern vor, mit einer Schildkröte in der Hand die Agorá zu überqueren, und so hüllte sie das Tier in eine Falte ihrer Palla, sodass es genug Luft bekam, hielt es vor dem Bauch fest und wühlte sich mitten durch das frühabendliche Gedränge, an der nordwestlichen Stoa mit den dahinterliegenden Läden vorbei. Zwischen dem Tempel der Hera auf der linken Seite und der den Tempelbezirk des Apollon umgebenden Mauer auf der rechten hindurch ging sie, betrat dann eine enge Gasse, nun mit schneller klopfendem Herzen, wohl wissend, dass sie mit dem kürzesten Weg nicht den sichersten gewählt hatte.

Selbst die Abendsonne schien diese fast über und über mit mehr oder weniger kunstvollen Wandmalereien verzierten Gemäuer zu scheuen, um deren Erhaltung sich niemand kümmerte. Überall saßen Bettler vor den Häusern, über ihr brüllten sich Nachbarn von einem baufälligen Balkon zum anderen an oder erzählten sich derbe Witze. Dort pinkelte ein Mann an eine Hauswand – wohl kaum seine eigene. Kynthia spürte ein scharfes Stechen in der Seite, lief aber dennoch weiter. Eine leicht bekleidete und stark geschminkte Frau stand mit verschränkten Armen an einer anderen Wand und pfiff eine Melodie, die sie sich anscheinend selbst ausdachte. Sie klang jedenfalls nicht nach einem richtigen Lied. Starrte die Frau sie an? Kynthia wagte nicht hinzusehen. Liebend gerne hätte sie sich die Palla tiefer ins Gesicht gezogen, aber sie hatte ja die Schildkröte hineingewickelt. Fiel sie wohl in der Menge auf? Sah es aus, als trüge sie etwas Wertvolles? Sie dachte kurz darüber nach, das Tier wieder auszuwickeln, damit jeder sehen konnte, dass es nicht so war, aber sie brachte es nicht über sich stehenzubleiben. Hätte sie doch nur die dumme Schildkröte nicht gesehen, dann hätte sie auch den Fremden nicht gefunden und wäre in Begleitung zweier Männer fröhlich unterhalb der Stadtmauer in Richtung Nordmarkt gezogen, nach Hause. Endlich kamen die Hauswände des Töpferviertels in Sicht, die sich zwar nicht sehr von denen in der Gasse unterschieden, aber ihr vertraut waren wie die Menschen, die hier wohnten, und so fasste sie endlich den Mut, stehen zu bleiben und durchzuatmen.

„Gleich haben wir es geschafft“, sagte sie zu dem eingehüllten Panzer, ging dann schwer atmend weiter.

„Mama!“

Leander hatte auf der Holztreppe vor dem Laden Pentelitha6 gespielt und auf sie gewartet. Er rannte ihr entgegen und schlang beide Arme um ihre Taille. Sie küsste ihn auf die Stirn.

„Was ist das?“, fragte er mit einem hoffnungsvollen Strahlen in den fast schwarzen Augen und zeigte auf das Bündel.

Sie zwinkerte ihm zu. „Das möchtest du wohl gerne wissen. Komm, gehen wir nach oben, dann zeige ich es dir.“

Leander lief ein paar Schritte voraus. Sie ging ihm nach, durch den mit Töpferwaren vollgestellten Laden hindurch und über die enge hölzerne Treppe hinter dem Laden in die Wohnung hinauf.

* * *

Zwei Tage später waren Kynthia und Nikos gerade dabei, Schüsseln im Regal zu stapeln, um Platz für neue zu schaffen, die sie gestern gebrannt hatten, als sie draußen vor dem Laden die Stimme von Demetrios hörten. Im nächsten Moment erschien sein volles Gesicht in der Tür.

„Sei gegrüßt, mein Freund“, sagte Nikos und stellte einen Stapel nach frisch gebranntem Ton duftender Schüsseln im Regal ab. Für Förmlichkeiten schien Demetrios heute keine Zeit zu haben.

„Kommt mal heraus“, drängelte er. „Hier ist jemand, der euch kennenlernen möchte.“

Er war in Begleitung des Fremden, den Kynthia und Nikos im Olivenhain gefunden hatten. Die schwarzen Augen des Mannes waren nicht mehr blutunterlaufen wie vor zwei Tagen und blitzten freundlich. Er war nicht größer als Kynthia, schmal gebaut und hager. Das krause Haar war schon stark ergraut und in der Mitte des Kopfes war nicht ein einziges übrig geblieben. Dafür schmückte ein gepflegter Vollbart das schmale Gesicht.

„Diese beiden haben mich zu dir gerufen“, rief Demetrios unnötigerweise so laut, dass ein paar Vorübergehende sich neugierig umdrehten.

„Nikos, der Töpfer, und Kynthia, seine reizende Frau. - Und das ist Paulos. Stellt euch vor, er kommt aus Tarsos in Kleinasien, wo ich studiert habe!“

Noch während Demetrios redete, streckte Paulos beide Hände aus und ergriff Kynthias Rechte.

„Ich erinnere mich an die beiden, Demetrios. Kynthia, Nikos, ich danke euch von Herzen. Ich danke euch!“

Er hat einen kräftigen Händedruck, dachte Kynthia. Jetzt, da es ihm offenbar viel besser ging, war Paulos‘ Stimme klar und hell. Trotz seines fortgeschrittenen Alters waren seine Zahnreihen, soweit sie sehen konnte, vollständig und hellfarbig wie die eines jungen Mannes. Nikos, der sie alle drei fast um einen Kopf überragte, trat neben Kynthia und legte Paulos die Hand auf die Schulter.

„Herzlich willkommen in Kórinthos, Paulos. Verrätst du uns, was dich hierher geführt hat?“

„Ein Euangélion will er uns bringen, hat er gesagt“, antwortete Demetrios an Paulos‘ Stelle. „Aber mehr hat er mir bis jetzt nicht verraten. Nur, dass es bei der guten Nachricht um einen Gott geht, das habe ich schon herausgehört. Na, gegen gute Nachrichten haben wir ja grundsätzlich mal nichts einzuwenden, stimmt’s?“

Er lachte herzhaft. Der Fremde verzog keine Miene.

Demetrios hatte die medizinische Oberaufsicht über das Asklepieion. Den Priestern im Heiligtum des Gottes Asklepios täglich Bericht über den Gesundheitszustand seiner Patienten zu erstatten, gehörte zu seinen Aufgaben. Seinen Freunden gegenüber machte er jedoch keinen Hehl daraus, dass er sich ausschließlich von wissenschaftlichen Heilmethoden Erfolg versprach. Die zahlreichen Votivgaben an Asklepios, den Gott der Heilkunst, die von den Patienten oder deren Angehörigen am Altar im Atrium des Sanatoriums angehäuft wurden, in der Hoffnung, dass der Gott sie im Schlaf heilen würde, betrachtete Demetrios mit Verachtung. Kynthia hatte selbst schon zahlreiche Nachbildungen schmerzender oder kranker Gliedmaßen und Organe angefertigt, denn wer es sich leisten konnte, ließ seine irdenen Füße, Arme, Beine oder Genitalien für den Asklepios-Altar von kunstfertiger Hand formen.

„Warst du im Asklepieion, Paulos?“, wollte Nikos wissen.

Der Fremde schüttelte den Kopf, aber Demetrios antwortete wieder für ihn, die fleischigen Arme übereinander auf seinem mächtigen Bauch ruhend.

„Auf gar keinen Fall wollte er da rein. Konnte kaum sprechen, aber was das anging, war er sehr deutlich. Er hat mich gebeten, ihn in ein Gasthaus zu bringen. Aber ich wollte ihn auf jeden Fall in meiner Nähe haben und habe ihn in einem meiner Gästezimmer untergebracht.“

Kynthia lächelte in sich hinein. Es kam nicht oft vor, dass sich jemand Demetrios erfolgreich widersetzte.

Auch Nikos schmunzelte.

„Es freut mich, Paulos, dass es dir besser geht. Weißt du schon, wo du wohnen wirst?“

Wieder antwortete Demetrios an Paulos‘ Stelle:

„O, in den nächsten Tagen auf jeden Fall noch bei mir.

Ich sitze sonst ganz allein in meiner riesigen Wohnung und langweile mich Abend für Abend!“ Demetrios zwinkerte Kynthia zu. Sie wusste sehr wohl, dass der väterliche Freund ihres Mannes in seinem Leben selten Langeweile aufkommen ließ.

„Nicht wahr, Paulos, du bleibst doch noch bei mir?“ Paulos nickte.

„Ich danke dir für dein freundliches Angebot, Demetrios, und nehme es fürs Erste gerne an.“

„Wunderbar!“ Demetrios rieb sich die Hände und grinste breit.

„Vielleicht kannst du mir auch helfen, Arbeit zu finden.“

„Was bist du denn von Beruf?“, fragte Nikos.

„Ich verdiene meinen Lebensunterhalt als Zeltmacher.“

„Nun wohlan, mein Freund“, rief Demetrios. „Ich zeige dir den Weg zur Werkstatt des Zeltmachers Aquila. Sie ist auch hier am Nordmarkt. Aquila kam mit seiner Frau vor etwa einem Jahr aus Italien hierher, als unser Imperator sich plötzlich in den Kopf setzte, alle Juden aus Rom und Umgebung zu vertreiben.“

Demetrios verpasste niemals die öffentlichen Ankündigungen auf der Agorá und ließ keine Gelegenheit aus, sein Wissen über die Politik am Tiber mit anderen zu teilen.

„Claudius ist im Grunde sehr tolerant den Juden gegenüber, müsst ihr wissen. Sie dürfen ihre Religion ausüben, wenn sie schön friedlich bleiben. In den letzten Jahren hat sich aber eine Gruppierung unter ihnen herausgebildet, deren Anhänger irgendeinem gekreuzigten Aufrührer folgen, dessen Leichnam sie aus dem Grab geholt und dann behauptet haben, er sei von den Toten auferstanden. Unglaublich, was die Leute alles glauben! Dadurch kam es jedenfalls zu Unruhen unter den Juden, und Unruhe kann Claudius nun einmal nicht leiden.“

Aus den Augenwinkeln hatte Kynthia Paulos beobachtet. Solange Demetrios sprach, hatte er den Blick gesenkt, die Arme auf dem Rücken verschränkt.

„Aquila ist also Jude?“, fragte er schließlich.

„Jawohl“, sagte Demetrios. „Ein netter Kerl. Leider trifft man ihn nie in der Taverne.“

„Wir sehen dich hoffentlich bald wieder, Paulos!“,

sagte Nikos zum Abschied.

Paulos nickte.

„Das hoffe ich auch.“

Die beiden ungleichen Männer gingen nebeneinander die Straße hinunter. Kynthia sah ihnen nach, bis sie abbogen. Dann folgte sie Nikos zurück in den Laden.

1 Marktplatz

2 Griechischer Name der römischen Provinz Kleinasien, lat.: Asia Minor.

3 Athen

4 Gerichtsgebäude

5 Langer, mantelartiger Umhang für Frauen, Einzahl: Palla, Mehrzahl: Pallae

6 „Pentelitha ist der Name eines griechisch-römischen Geschicklichkeitsspiels und bedeutet so viel wie „fünf Steine“ […]. Die Römer übernahmen dieses Spiel von den Griechen.“ (Quelle: www.wikipedia.de)

Die Korinther

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