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II

Kynthia

Nikos machte sich auf den Weg in die Ziegelei. Kurz darauf betrat Phaistos die Werkstatt vom Hof her. Kynthia und ihrem Bruder Phaistos gehörten Werkstatt und Laden zu gleichen Teilen. Den großen Brennofen im Hof hinter dem Laden, über dem Nikos und Kynthia mit Leander und Nikos‘ Mutter Kassandra wohnten, teilten sie sich mit drei weiteren Töpferfamilien. Phaistos wohnte ganz allein gegenüber, auf der anderen Seite des Hofes, in der Wohnung, in der sie beide aufgewachsen waren. In Kynthias Augen waren ihr Mann und ihr Bruder so unterschiedlich, wie zwei Männer nur sein können. Phaistos‘ schmales Gesicht mit den hohlen Wangen war ihrem eigenen nicht unähnlich, obwohl ihres voller war. Auch war er kaum größer als sie selbst. Sie beide hatten Mutters tief liegende Augen geerbt, aber Kynthia bildete sich ein, dass sie selbst damit bei Weitem nicht so ernst und in sich gekehrt wirkte wie ihr Bruder. Vielleicht lag es an den vielen Stunden, die er in der Bibliothek verbrachte, über den Schriften der großen Philosophen brütend, oder daran, dass sein steifer Arm, den er bei einem Sturz als Vierjähriger davongetragen hatte, ihm nicht nur den Weg in den Beruf seines Vaters und Großvaters versperrt, sondern ihn auch zum Außenseiter gestempelt hatte. Sie hatte ihren älteren Bruder immer schon geliebt, nicht nur mit Mitgefühl betrachtet, sondern wirklich geliebt. Gleichzeitig konnte sie gut verstehen, warum es vielen Menschen schwerfiel, ihn zu mögen, Nikos eingeschlossen. Zusammenzuarbeiten war für beide schon immer eine Herausforderung gewesen, von Anfang an, und einzig und allein aus diesem Grund war Kynthia manchmal froh, dass Nikos inzwischen mehr Zeit in der Ziegelei verbrachte als in der Werkstatt.

Wenig später saß Kynthia an der leise ratternden kleinen Drehscheibe unter dem Schatten spendenden Vordach des Ladens im Hof. Phaistos saß neben ihr auf einem Hocker mit einer halb mit rotem Grundanstrich bemalten Amphore auf dem Schoß und einem Pinsel in der Hand. Beide arbeiteten schon seit einer Weile schweigend vor sich hin.

„Kynthia?“, rief eine junge, weibliche Stimme von der Straße her durch den Laden hindurch. Kynthia erkannte die Stimme sofort und zwinkerte ihrem Bruder zu.

„Wir haben Besuch. – Komm durch in den Hof, Danaë“, rief sie dann. Aber da war das Mädchen schon fast durch den Laden hindurch und wartete nicht, bis Kynthia sich die Hände an der Schürze abgewischt hatte: Sie umarmte sie überschwänglich. Phaistos erhob sich ebenfalls und nickte seiner Verlobten mit einem unbeholfenen Lächeln zu, was diese – über das ganze Gesicht strahlend – erwiderte. Dass das Strahlen Phaistos galt, bezweifelte Kynthia allerdings.

„Du bist doch sicher nicht allein in der Stadt?“, wollte Kynthia wissen. Das Mädchen schüttelte den Kopf.

„Talaos kauft gegenüber einen Kuchen.“ Sie verdrehte die Augen. „Wenn ich nicht auf meinen großen Bruder aufpassen würde, wäre es um seine athletische Figur längst geschehen. – Papa ist vor der Stadtmauer beim Wagen geblieben. Wir wollen gleich nach Hause. Ich soll euch Grüße von ihnen ausrichten.“

Danaës Strahlen ließ die tiefen Narben verblassen, die eine Kinderkrankheit in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Jetzt, am Ende des Sommers, den Danaë offensichtlich zum großen Teil draußen bei ihren geliebten Pferden auf dem Gestüt ihres Vaters Lydias verbracht hatte, waren die Narben unter der Sonnenbräune ohnehin kaum zu sehen. Auch Danaës Figur verriet, dass sie sich viel bewegte und wenig aß. Kynthia beneidete sie um ihr langes welliges Haar, das unter der locker über den Hinterkopf gelegten Palla hervorschaute und im Sonnenlicht rötlich schimmerte. Wie Kynthia selbst widmete die junge Frau ihrem Äußeren ungewöhnlich wenig Zeit. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt den Pferden, besonders ihrer Stute Kalypso.

„Wir haben uns den Hippódromos7 am Isthmos angesehen“, rief Danaë.

„Jetzt schon?“, wunderte sich Kynthia. Die Isthmischen Spiele, an denen Talaos mit einem Zweiergespann aus Danaës Kalypso und einer weiteren Stute als Wagenlenker antreten wollte, fanden erst im nächsten Sommer wieder statt. Nun ging gerade erst dieser Sommer zu Ende.

„Wir sind nach Mégara gereist, um uns ein Hengstfohlen anzusehen. So ein schöner Kerl! Und – o Kynthia, Talaos wird siegen. Ich weiß es. Kalypso ist so schnell. Und so ein kluges Pferd! Und Niobē macht sich auch schon richtig gut. Sie müssen sich nur noch mehr aneinander gewöhnen. Als Nächstes gehen wir zu den Nemeischen Spielen. Und nach Delphi.“ Vor Aufregung schlug sie die Hände zusammen. „Und dann nach Olympia! Dann hat Papa endlich wieder zwei Siegerinnen zum Züchten.“

Danaës Vater Lydias hatte seine wertvollsten Tiere vor zwei Jahren verloren, als eine Pferdeseuche die Korinthia heimgesucht hatte. An manchen Tagen war der Gestank der brennenden Pferdekadaver von den Gestüten im Umland bis in die Stadt gedrungen und hatte sich mit deren gewohnten Gerüchen vermischt: dem Rauch der Schmiedefeuer und der zahlreichen Opferstätten; dem Weihrauchduft aus den Tempeln; dem besonders an Sommertagen aufdringlichen Gestank, der aus der Kanalisation auf die Straße drang und aus den Werkstätten der Gerber und Färber; den Düften der Parfüme und Öle, die die Prostituierten ihren eigenen Ausdünstungen und denen ihrer Kunden entgegensetzten.

In jenem Pferdeseuchensommer war auch Kalypsos Mutter, ein besonders edles Tier, verendet. Das damals dreizehnjährige Mädchen hatte sich des neugeborenen Fohlens angenommen und es ganz allein großgezogen. Vor einem Jahr hatten sie und ihr fünf Jahre älterer Bruder angefangen, mit den beiden Stuten zu trainieren. Kynthia wusste von Danaë, dass Talaos, der als Kind zu den Kleinsten seines Alters gehört hatte, immer davon geträumt hatte, als Reiter an den Spielen teilzunehmen. Aber dann war er plötzlich all seinen Altersgenossen über den Kopf gewachsen, was seinen Traum vom Rennreiter hatte zerplatzen lassen. Sofort hatte er sich daran gemacht, das Wagenlenken zu lernen. Nun waren die Geschwister fest entschlossen, im nächsten Jahr bei den Isthmischen Spielen anzutreten. Und zu siegen!

Phaistos, der wieder auf seinem Hocker Platz genommen hatte, räusperte sich. „Olympia!“ Die beiden Frauen wandten sich ihm zu. Sein schmaler Mund breitete sich zu einem schiefen Lächeln aus. „Nun fangt doch erstmal am Isthmos an, hm?“

Kynthia sah den Zorn in Danaës grünen Augen aufblitzen. Phaistos offenbar auch, denn er starrte ins Leere, wie immer, wenn er verlegen war, und ließ die Zunge durch den Mund wandern. Wie oft hatte Kynthia ihm schon gesagt, dass das bei seinem hageren Gesicht furchtbar albern aussah! Sie legte dem Mädchen den Arm um die Schultern.

„Wenn ihr schon einmal in der Stadt seid, bleibt doch über Nacht und esst mit uns zu Abend.“

Danaë, sichtlich ernüchtert, schüttelte den Kopf. „Danke, das ist sehr freundlich von dir, Kynthia. Vielleicht ein anderes Mal. Wir sind jetzt schon einige Tage unterwegs und freuen uns auf unseren heimischen Stall. Genau wie unsere Pferde.“

„Schade“, sagte Kynthia und starrte Phaistos an, hoffte, dass er ihre stumme Aufforderung verstehen würde, das Richtige zu sagen. Er verstand und räusperte sich wieder, bevor er sprach.

„Ähm, ja, finde ich auch, aber … ich verstehe das natürlich. Wa-wartet nicht zu lange mit eurem nächsten Besuch. Wir hatten euch schon seit Monaten nicht mehr zu Gast.“

Danaë nickte, und Kynthia atmete auf.

„Wir haben in Mégara ein Fohlen gekauft und werden es im Frühjahr abholen, wenn es entwöhnt ist. Vielleicht wird bei der Gelegenheit etwas daraus.“

„Das würde uns sehr freuen“, sagte Phaistos und lächelte.

„Ihr seid der ganzen Familie herzlich willkommen“, fügte Kynthia hinzu.

* * *

„Du bist wütend auf mich“, stellte Phaistos fest, als sie wieder allein in der Werkstatt waren. Kynthia drehte die Scheibe so energisch, dass sie laut ratterte.

„Ach, Phaistos, wenn du doch nur ein Fünkchen Begeisterung aufbringen könntest. Für irgendetwas. Wie willst du es mit so einer Frau aushalten? Und wie soll sie dich ertragen? – ‚Fangt doch erstmal am Isthmos an!‘“, ahmte sie ihn spöttisch nach. „Meine Güte, Bruder …“

„So bin ich nun einmal!“, antwortete er leise.

„Ja, so bist du. Immer schon gewesen.“

Sie schwiegen.

„Weißt du, Kynthia“, sagte Phaistos nach einer Weile. Sie sah zu ihm hinüber. Die schmale Hand mit dem Pinsel im Schoß, blickte er über die Amphore auf seinem Schoß hinweg, scheinbar ins Nichts. Schaute er traurig oder nachdenklich? Kynthia hielt die Scheibe an.

„Wenn du gezwungen bist, langsam zu sein, so wie ich, immer hinter den anderen her, dann versuchst du irgendwann nicht mehr Schritt zu halten oder andere zu überholen. Dann entdeckst du für dich die Vorzüge der Langsamkeit.“

Kynthia erwiderte nichts. Sie senkte den Blick und arbeitete weiter. Hatte sie jemals versucht zu begreifen, wie es war, mit einem steifen Arm leben zu müssen? Als kleiner Junge war Phaistos vom Baum gefallen. Seitdem hatte er immer zugesehen, wie alle anderen Kinder tobten und rauften, und er hatte sich ihre Hänseleien anhören müssen. Sie war sieben Jahre jünger als er, und es war für sie immer selbstverständlich gewesen, dass ihr Bruder am Rand saß. Schon sehr früh hatte er angefangen, bei einem guten Freund ihres Vaters dessen Handwerk der Keramikmalerei zu erlernen. Das war noch schwierig genug. Gemeinsam mit Vater hatte er raffinierte Vorrichtungen gebaut, mit denen sich die Gefäße während der Arbeit feststellen ließen, aber auch diese Gerätschaften hatten ihre Grenzen, und für die letzten Arbeiten an großen Amphoren brauchte Phaistos einen Gehilfen, der sie für ihn festhielt – meistens rief er nach Iago. Kynthia hatte der Vater das Töpfern beigebracht und bald erfreut festgestellt, dass sie sich außerordentlich geschickt dabei anstellte. Dennoch war es ihr als Kind sehr schwergefallen, still zu sitzen und zu lernen, wie man Ton zu Figuren oder Gefäßen formt. Ebenso wie Leander, den Nikos mit seinen sieben Jahren jetzt schon regelmäßig nachmittags in die Werkstatt kommen ließ.

Phaistos hatte wohl nicht mehr damit gerechnet, dass sich eine Frau für ihn finden würde. Auch Danaë gehörte nicht zu den begehrtesten unter den noch ledigen Korinther Mädchen: Abgesehen von ihren Narben schielte sie manchmal und war kurzsichtig. Auch das waren Folgen der Krankheit, aber obwohl nicht zu erwarten war, dass sie den Makel an ihre Nachkommen weitergeben würde, machte er sie als Braut wenig begehrenswert. Deshalb lebte sie mit ihren fünfzehn Jahren immer noch bei ihrem Vater. Das schien sie jedoch überhaupt nicht zu bedrücken, und als Kynthia der temperamentvollen jungen Frau vor einigen Monaten bei einem Fest zum ersten Mal begegnet war, zögerte sie nicht, sie ihrem Bruder vorzustellen. Er zeigte sich zurückhaltend, und auch Danaë war nicht im Geringsten interessiert, aber ihr Vater umso mehr. Es wurde eine annehmbare Mitgift verhandelt, und so stand fest: Danaë und Phaistos würden heiraten.

„Nicht bevor wir wenigstens bei den Isthmischen Spielen waren, Papa“, hatte sie ihn angefleht. Und Lydias war einverstanden gewesen. Kynthia hoffte nicht zuletzt, dass ihr Bruder durch die junge temperamentvolle Frau aufblühen würde.

Am Abend saß die ganze Familie zu Tisch. Auch Phaistos war, wie an den meisten Abenden, zum Essen herübergekommen. Nikos hatte schlechte Laune.

„Leander!“, fuhr er den Jungen nun schon zum wiederholten Male an.

„Sitz still beim Essen! Und gerade!“

Leander starrte auf seinen leeren Teller. „Ich bin sowieso fertig. Darf ich gehen, Mama?“

„Jetzt schon?“ Kynthia ließ ihren Löffel sinken. „Du hast mir noch nicht erzählt, wie es heute in der Schule war.“

„Och, es gab nichts Besonderes in der Schule. Ach doch!“

Leander strahlte plötzlich.

„Ich weiß jetzt, wo Achilleus herkam.“

Phaistos hob fragend die Augenbrauen.

„Na, ich dachte, das wusstest du schon lange. Er war der Sohn der Meeresnymphe Thetis und …“

„Nein, nicht DER Achilleus, Onkel.“ Leander machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mein neuer Schildkröterich. Ich habe ihn Achilleus genannt, weil er die schnellste Schildkröte aller Zeiten ist.“

Die Erwachsenen lachten, und Kynthia freute sich zu sehen, dass auch Nikos schmunzelte.

„Und? Wo kam er nun her, dein Achilleus?“, fragte Nikos‘ Mutter Kassandra.

„Er gehörte einem Jungen aus der Schule.“

„Und will er ihn denn gar nicht wiederhaben?“

„Nein, Großmama, er hat gesagt, ich kann ihn behalten. Er findet Schildkröten sowieso dumm, und zu den Saturnalien schenkt sein Papa ihm diesmal ganz bestimmt eine eigene Ziege. Mit einem Wagen. Dann kann er mit seinen Schwestern um die Wette fahren.“

„Na, wie schön für ihn.“

Kynthia ahnte, welche Richtung das Gespräch nehmen würde.

„Du, Mama?“

Leander kam um den Tisch herum und stellte sich dicht neben sie. Kynthia ließ den Suppenlöffel sinken und sah Leander fest an.

„Nein. Du hast die schnellste Schildkröte aller Zeiten. Sei zufrieden damit.“

„Ach, Mama!“ Er schlang ihr beide Arme um den Hals und schmiegte seine Wange an ihre.

„Solange ich keinen Werkstattsklaven bekomme, kriegst du auch keinen Ziegenwagen. Und auch keine Ziege ohne Wagen“, kam sie seiner nächsten Frage zuvor, „oder sonst ein hungriges Tier. Verstanden?“ Sie fuhr ihm mit der freien Hand durch die schwarzen Locken, was er nicht ausstehen konnte, wie sie sehr wohl wusste. Tatsächlich trat er einen Schritt zur Seite.

„Gute Nacht“, sagte Kynthia und lächelte ihn an.

Mit gesenktem Kopf wandte sich Leander zum Gehen.

„Halt, Sohn!“

Wenn Nikos Leander zurechtwies, klang seine Stimme noch tiefer als gewöhnlich. Der Junge kam langsam zurück und stellte sich vor Nikos hin, den Blick immer noch auf seine sandalenlosen Füße geheftet. Nikos hob sein Kinn mit einem Finger und zwinkerte ihm zu.

„Gute Nacht, Leander!“

Der Junge lächelte erleichtert. „Gute Nacht, Papa! - Gute Nacht, Großmama. Onkel“, sagte er lächelnd. Dann verbeugte er sich vor den Erwachsenen und ging eilig davon.

Nikos zog sich an diesem Abend früh zurück. Während die Sklavin Rubia den Tisch abräumte und sich in der Küche zu schaffen machte, Phaistos nach Hause ging und sich in seine Schriften vertiefte und Kassandra sich ihren abendlichen Riten am Hausaltar zuwandte, ging Kynthia hinauf und sah ins Schlafzimmer. Nikos lag bereits im Bett, war aber noch wach. Kynthia schob den Vorhang beiseite, der Leanders Teil des Schlafzimmers abteilte. Er hatte schon ein eigenes Zimmer gehabt, aber als Nikos‘ Vater vor drei Jahren gestorben war, hatte Kassandra es übernommen. Leander schlief tief und fest. Kynthia zog den Vorhang an seinem Bett zu und wandte sich lächelnd zu ihrem Mann um. Den Kopf auf den Unterarm gebettet, starrte er an die Decke. Einen Moment lang sah sie ihn still an und überlegte, wie sie seine Aufmerksamkeit gewinnen könnte, denn sie hatte sehr klare Vorstellungen davon, wie dieser Tag zu Ende gehen sollte. Ein Lied kam ihr in den Sinn. Gerade so laut, dass die Melodie sein Ohr erreichte, summte Kynthia das Lied, während sie auf das Bett zuging und dabei die Bänder löste, die ihren Chiton über den Schultern zusammenhielten. Sie sah ein Lächeln auf seinen Lippen, legte sich neben ihn und sang ihm, ganz leise, ins Ohr, während sie ihre Finger sachte über seine Haut wandern ließ.

„Bald wird er in den Arm und an die Brust mir sinken und innig kosen, wird durch seine heißen Küsse mein Herz gewinnen …

Kynthia küsste Nikos auf Stirn, Wange und Mund.

„Ich habe brav meine Möhrensamen8 geschluckt“, flüsterte sie und knabberte an seinem Ohrläppchen. „Was hältst du davon, dass wir das ausnutzen?“

Sie ließ ihre Lippen an seinem Hals hinunterwandern. Noch immer wandte er sich ihr nicht zu. Sollte sie ihn in Ruhe lassen? War er heute einfach zu müde? Sie legte den Oberkörper auf seinen und suchte seinen Blick. Sein Atem ging jetzt schneller, er lächelte sie an, rührte sich aber nicht. Spielte er mit ihr? Oder hatte er wirklich keine Lust? Einerlei. Sie wollte ihn. Jetzt. Unbedingt. Sie ließ die Lippen von seinem Hals abwärtswandern, sanft zuerst, dann immer fordernder. Sie würde ihn Zahlen und Ziegel vergessen lassen. Sie, seine Frau und Geliebte, wollte ihn gefangen nehmen. Hände und Mund, die seinen Körper so gut kannten, setzten alles daran und siegten.

Nachher, als ihrer beider Atem wieder gleichmäßig ging, lag sie neben ihm, den Kopf auf seinem Arm, studierte sein Gesicht und drehte dabei die Haare auf seiner Brust zu Löckchen.

„Jetzt erzähl mal, warum du schon wieder diese Sorgenfalte zwischen den Augen hast.“

„Stephanas war heute in der Ziegelei.“

„Der Mann vom Bauamt?“

„Ja, genau. Die letzte Lieferung – die Ziegel für die neue Latrine – war zu einem Drittel fehlerhaft. Stephanas wollte Gaius und mich daran erinnern, dass die nächsten Ziegeleien nicht so weit weg sind, als dass er für den Bau der öffentlichen Gebäude auf uns angewiesen wäre.“

„Und stimmt das, oder will der Mann euch nur unter Druck setzen?“

Er seufzte. „Argos und Mégara würden Kórinthos sicher gerne mitversorgen.“

Kynthia richtete sich halb auf.

„Wie konnte das passieren?“

„Gaius und ich haben uns die Formen angesehen. Sie sind alle in Ordnung.“

„Dann wurde also schlampig gearbeitet. Wer hat die Lieferung geprüft?“

Nikos seufzte wieder.

„Einer der Sklaven. Der klügste, den wir haben. Und der zuverlässigste.“

„Offenbar nicht in jeder Hinsicht.“

Verärgert drehte sich Nikos auf die Seite.

„Hinterher ist man immer klüger“, brummte er die Wand an.

Kynthia legte den Arm um ihn und küsste ihn versöhnlich auf die Schulter.

„Beim nächsten Mal könnte ich ja die Prüfung übernehmen.“

Er wandte sich ihr wieder zu und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Was willst du denn noch alles machen? Du arbeitest in der Werkstatt und im Laden, kümmerst dich abends um Leander …“

„Und wenn wir Phaistos fragen? Vielleicht können wir ihn ja überreden, in den Abendstunden hin und wieder seine weisen Schriften zu vernachlässigen.“

„Aber er hat mit der Ziegelei doch nichts zu tun.“

Sie kaute an einem abgesplitterten Fingernagel.

„Wir finden schon eine Lösung.“

Noch einmal küsste sie ihn auf den Mund. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht!“, murmelte er. Kynthia fand die dünne Bettdecke am Fußende, deckte sie beide zu, drehte sich auf die Seite, den Rücken an Nikos‘ Oberkörper geschmiegt, und schloss genussvoll die Augen.

7 Pferderennbahn

8 Die Samen der Wilden Möhre galten in der Antike als wirksames Verhütungsmittel.

Die Korinther

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