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III

Kynthia

Am nächsten Tag kam Leander nach der Schule in die Werkstatt. Schon seit einer ganzen Weile stand er neben ihr und war vertieft in die Arbeit an seinem Tonklumpen, als Nikos die Werkstatt betrat. Seine Miene verriet Kynthia gleich, dass auch dieser Tag in der Ziegelei bisher nicht nach seinen Vorstellungen verlaufen war. Kritisch betrachtete er Leanders Werk.

„Sag mal, was wird das eigentlich?“, fragte er nach wenigen Augenblicken.

Leander stand mit zu engen Schlitzen zusammengekniffenen Augen über den Klumpen gebeugt und versuchte vergeblich, eine sechste Beule seitlich an dem Klumpen zu befestigen.

„Eine Skylla-Schale, Babas: Schau, das ist einer der sechs Hundeköpfe.“ Leander hielt eine unrunde Kugel zwischen zwei Fingern hoch und sah seinen Vater mit hochgezogenen Augenbrauen an. Kynthia biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen, denn Nikos fand die Idee offenbar überhaupt nicht komisch.

„Aha. – Ich wollte nur kurz etwas holen. Gleich muss ich noch einmal in die Ziegelei. Wenn ich heute Abend wiederkomme, möchte ich ein ganz normales Gefäß vorfinden, ohne jede Ähnlichkeit mit sagenhaften Ungeheuern.“

Leander richtete sich auf und blickte stumm auf den Tisch. Einen Moment lang sagte niemand etwas. Nur die Stimmen der anderen Kinder, die in der Mitte des großen Hofes spielten, drangen zu ihnen herüber.

„Sohn?“, beharrte Nikos auf einer Antwort.

„Ja, Vater“, murmelte Leander.

Als Nikos gegangen war, legte Leander die kleine Kugel auf den Werkstatttisch. Im nächsten Moment ließ er beide Fäuste auf den Klumpen niederfahren. Kynthia seufzte.

„Mach eine Pause und geh spielen. Ich rufe dich gleich.“

Leander schniefte, wischte sich die Hände an seiner Schürze halbwegs sauber, band sie eilig los, warf sie in eine Ecke und folgte den Stimmen der anderen Kinder in den Hof.

„Nikos ist sehr streng zu dem Jungen“, stellte Phaistos fest.

„Ich weiß. Er hat es nicht leicht im Moment. Sie haben Schwierigkeiten, die Arbeit in der Ziegelei zu bewältigen, und manches geht schief.“

Phaistos sah seine Schwester an, dann wieder seine Amphore, und Kynthia ahnte, dass es ihn Mühe kostete, sich einer Antwort zu enthalten. Er hatte Nikos von vornherein davor gewarnt, in Gaius‘ Unternehmen einzusteigen. Es gab schließlich genug Arbeit in der Werkstatt und im Laden.

„Phaistos?“

„Nein.“

„Meinst du nicht, du könntest ausnahmsweise …“

„Ich bin Keramikmaler.“

„Aber du machst doch für den Laden auch manchmal die Buchhaltung.“

„Schwester, es würde doch bei ‚ausnahmsweise‘ nicht bleiben. Ich kenne dich. Nimm es mir bitte nicht übel, aber ich habe euch gleich gesagt, dass …“

„Jaja, schon gut.“

Warum musste er immer so besserwisserisch sein? Sie nahm Leanders Ton, knetete ihn zu einer Kugel, schlug ihn einige Male kraftvoll auf den Tisch, zerteilte ihn in Streifen und fing an, eine neue Schale zu formen. Eine halbe Stunde später rief sie Leander zu sich und forderte ihn auf, das Gefäß zu Ende zu bearbeiten. Nach wenigen Minuten sah der vormals perfekte Schalenrohling wie das akzeptable Werk eines Anfängers aus. Leander umarmte Kynthia, küsste sie auf die Wange und hüpfte strahlend wieder nach draußen.

Kurz darauf betrat Demetrios den Hof durch den Laden.

„Salve, Demetrios“, erwiderte Kynthia seinen Gruß.

„Nikos ist in der Ziegelei.“

„Ach so. Na gut, in der Ecke muss ich gleich auch noch vorbei. Wie geht es euch beiden? – Was macht deine kleine Braut, Phaistos?“

„Sie träumt von Olympia“, antwortete Phaistos nüchtern.

„Ach ja? Na, bemühe dich doch mal ein wenig um sie, damit sie beizeiten anfängt, von dir zu träumen.“

Demetrios lachte, wobei sein enormer Bauch wackelte, und zwinkerte Kynthia verschwörerisch zu. Hastig blickte sie auf ihren Ton hinunter, hörte dabei, wie Phaistos tief durchatmete, bevor er antwortete.

„Ich danke dir für deinen Rat, Demetrios.“ Scheinbar ungerührt pinselte Phaistos weiter und fügte hinzu: „Wenn ich wieder mal einen brauche, werde ich dich aufsuchen.“

„Sag, Demetrios“, beeilte sich Kynthia das Thema zu wechseln. „Wie geht es deinem Gast? Hat er sich inzwischen bei dir eingelebt?“

Der Arzt sah sie verständnislos an. Dann fiel ihm ein, von wem die Rede war.

„Ah, Paulos, der alte Kauz.“ Demetrios winkte ab und lachte grunzend.

„Der hat es nicht lange bei mir ausgehalten. Schon nach einer Woche ist er bei mir aus- und bei Aquila dem Zeltmacher eingezogen. Vermutlich reden sie tagaus, tagein über ihren merkwürdigen Gott.“

„Was ist so merkwürdig an diesem Gott?“, wollte Phaistos wissen.

„Nun, er ist, wie soll ich sagen, ein ausgesprochen strenger Gott, dieser jüdische HaSchem.“

„Ein Gott, der keine Orgien mag. Stimmt’s?“

Phaistos war wieder einmal bestens informiert. Kein Wunder. Schließlich verbrachte er mindestens so viel Zeit in der Bibliothek wie seine Altersgenossen in der Taverne.

Zwischen Demetrios‘ Augen hatte sich eine Falte gebildet. „Als Orgien kann man meine Feste nun wirklich nicht bezeichnen, Phaistos. Du solltest Nikos einmal begleiten, dann wüsstest du das.“

Kynthia bezweifelte, dass eine mit einem derart kühlen, herablassenden Lächeln ausgesprochene Einladung ernst zu nehmen war, aber auch wenn sie von Herzen gekommen wäre, hätte Phaistos vermutlich dankend abgelehnt.

Über Demetrios‘ gesellige Abende wollte Kynthia lieber nicht nachdenken, welche Bezeichnung auch immer zutreffen mochte. Hin und wieder folgte Nikos den Einladungen seines väterlichen Freundes zu dessen Festen, forderte seine Frau aber äußerst selten auf mitzukommen. Dass er außerdem nie von diesen Abenden erzählte, ließ Kynthia vermuten, dass Hetairai und Tempelhuren vom Berg zu Demetrios‘ Feiern geladen wurden. Und selbst wenn nicht: Auch die stets leicht bekleideten Sklavinnen des Arztes und seine hübschen, jugendlichen Sklaven hatte Kynthia deutlich vor Augen. Es fiel ihr nicht leicht, Nikos‘ Freundschaft zu dem Arzt zu dulden. Sie gab sich größte Mühe anzunehmen, dass er sich bei diesen Gelegenheiten ausschließlich dem Genuss von Demetrios‘ edlem Wein hingab.

Nachdem Demetrios sich verabschiedet hatte, dachte Kynthia über das nach, was Phaistos über den Gott der Juden gesagt hatte.

„Sag, was weißt du noch über diesen HaSchem?“, fragte sie. Phaistos hörte auf zu pinseln und sah sie verwundert an.

„Seit wann interessierst du dich für solche Dinge?“

Wann würde er endlich aufhören, sie für ein einfältiges Mädchen zu halten, das zu nichts anderem fähig war, als Lehm in Figuren und Gefäße zu verwandeln?

„Sagen wir, seit heute die Sonne aufging“, versetzte sie kühl.

„Also gut. Sie haben nur einen einzigen Gott, die Juden. Er hat viele Namen, aber es ist nur einer. Und sie behaupten, dass er das Volk Israel, wie sich die Juden auch nennen, vor allen anderen auserwählt hat.“

„Auserwählt wozu?“ Phaistos sah ins Leere und dachte nach.

„Hm. Vielleicht könnte man sagen: zu seinem Lieblingsvolk.“

Was das wohl heißen mochte? Eine Weile arbeiteten beide schweigend weiter. Dann erinnerte Kynthia sich:

„Bruder, damals, als wir Paulos kennenlernten, hieß es, er hätte eine gute Nachricht für uns. Die irgendetwas mit seinem Gott zu tun hat. Was könnte er damit gemeint haben?“

Phaistos zuckte die Schultern. Kynthia kam eine Idee.

„Was hältst du davon, wenn wir ihn einladen zu uns? Dann kann er es uns erklären.“

Das schien Phaistos zu erheitern. „Meinetwegen gerne, aber denk an deine Schwiegermutter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kassandra begeistert sein wird von einem Gott, der keine anderen Götter neben sich duldet. Da kann die Nachricht von ihm noch so gut sein.“

In der Tat war Nikos‘ Mutter äußerst eigenwillig und mitunter geradezu wehrhaft, was Zweifel oder Kritik an ihren Lieblingsgottheiten betraf: die ägyptische Göttin über Geburt und Tod, Isis, deren Kult längst in Kórinthos Einzug gehalten hatte; Pallas Athene, die Göttin der Weisheit und des Handwerks, und Merkur, der Gott des Handels. Letzterer erfuhr von ihr sehr viel mehr Zuwendung, seit Nikos sich zu den Korinther Großunternehmern zählen durfte.

„Nikosthenes!“, empörte Kassandra sich regelmäßig, weil ihr Sohn weder den Zorn der alten Götter noch den der neuen fürchten wollte und es nicht lassen konnte, Kassandra wegen ihrer Hingabe an sie zu necken.

„Eines Tages wirst du deine Respektlosigkeiten noch bereuen. Ich hoffe inständig, dass ich deine Bestrafung durch die Götter nicht erleben muss.“

Ein junger Mann betrat den Laden und gab mit zitternder Stimme Grabschalen für seine sterbende Frau in Auftrag. Während er mit Phaistos Art und Dekoration der Gefäße besprach, kam Nikos zurück, warf einen flüchtigen Blick auf Leanders Werk und nickte zufrieden.

„Ach, bevor ich es vergesse“, sagte er zu Kynthia. „Wir haben eine Einladung für morgen Abend.“

„Von Demetrios?“

„Nein, von Gaius.“

„Oh.“

Gaius war sehr reich, und Kynthia überlegte ein wenig besorgt, ob sie etwas Passendes zum Anziehen hatte. Nikos erriet ihre Gedanken.

„Keine Sorge: Es wird keine besonders förmliche Angelegenheit. Wenn mich nicht alles täuscht, will Gaius mit dem Essen nur ein paar Zuhörer anlocken für seinen Onkel, der gerade bei ihm zu Gast ist, den Weisen Eumelos. Phaistos darf auch mitkommen.“

„Das wird er sich nicht entgehen lassen“, vermutete Kynthia.

„Und bist du auch dabei, Liebes?“

Sie nickte. Dem Geschwätz der meisten Philosophen konnte sie zwar wenig abgewinnen, aber für einen Abend in gepflegter Gesellschaft war sie immer zu haben.

* * *

Am nächsten Abend überließ Kynthia es der alten Rubia, dafür zu sorgen, dass Leander früh genug ins Bett ging, tauschte ihre ungefärbte grobe Arbeitskleidung gegen ihren grünen Ausgeh-Chiton mit der dazu passenden hellgrünen Palla, die bei Sonnenlicht ihr Haar und den dunkleren Chiton durchschimmern ließ. Sie freute sich über Nikos anerkennenden Blick und sein Zwinkern, als sie vor ihm stand. Während sie ihm dafür einen Kuss auf die Wange hauchte, hörte sie schon Phaistos‘ Schritte auf der Treppe, die vom Laden in die Wohnung hinaufführte. In Begleitung der beiden Männer machte Kynthia der Weg durch die Nebenstraßen vom Nordmarkt zur Agorá nichts aus, und in ihrer besten Kleidung überquerte sie gern den riesigen Marktplatz. Es war schon wieder viel zu lange her, dass sie und Nikos ausgegangen waren.

Gaius‘ Stadtvilla lag in einer sauberen, gepflasterten Straße hinter der südwestlichen Ladenreihe an der Agorá. Hinter einer Vierergruppe von Gästen, die alle deutlich vornehmer gekleidet waren als sie selbst, betraten sie über drei Marmorstufen den Eingangsbereich. Das Vordach wurde von zwei Säulen in kräftigem Rot getragen. Von einem bemerkenswert gut gekleideten Sklaven wurden sie durch die schwere Eisentür und durch die Eingangshalle ins Atrium geführt. Kynthia hatte Gaius noch nie in seinem Zuhause besucht. Sie hatte ja gewusst, dass er sehr reich war. Dennoch war sie überwältigt von der Pracht dieser Villa und fragte sich einmal mehr, ob Nikos jemals der Gedanke kam, dass er sich mit einem Geschäftspartner zusammengeschlossen hatte, dem er in keiner Weise das Wasser reichen konnte. Sie sah ihn von der Seite an, hoffte zu erkennen, wie er sich in dieser Umgebung fühlte. Aber ein Mann, den Kynthia nicht kannte, trat von der anderen Seite an sie heran und begann ein Gespräch mit Nikos. Er stellte sie kurz vor, aber sein Name sagte ihr genauso wenig wie sein Gesicht.

„Ich sehe mich hier mal ein wenig um“, raunte sie Phaistos zu. „Ich finde euch dann schon wieder.“

Er nickte, die Arme verschränkt, den Blick auf das Mosaik auf dem Fußboden gerichtet. Kynthias Blick fiel auf das in helles Licht getauchte Impluvium9.Hier würde sie ihren Hausrundgang beginnen.

Vor jeder der vier Marmorsäulen, die das derzeit wasserlose Impluvium in der Mitte des Raumes umrahmten, stand eine Grünpflanze in einer schlichten Keramikschale. Auf der Längsseite, an der Kynthia stand, streckte eine Marmorstatue mit einem vollkommenen, von kurzen Locken umrahmten männlichen Gesicht in wallender Toga sehnsuchtsvoll die Arme nach seiner Geliebten auf der anderen Seite aus. Diese schien nachdenklich in das Impluvium zu blicken, die linke Hand locker an der Seite, während die rechte ihren Chiton raffte, der so immerhin ihre zarten nackten Zehen den Blicken des Betrachters preisgab. Kynthia hob den Blick zu den Wänden um das Impluvium herum: Große Rechtecke in kräftigem Grün waren durch goldfarbene Umrahmungen in kleinere Rechtecke unterteilt. Zur Decke hin schlossen sie in einem wulstigen Vorsprung ab.

So viel Marmor, staunte Kynthia und sah einen Augenblick lang ihre eigene Wohnung vor sich: Wände aus Sandstein, gelb getüncht und längst renovierungsbedürftig, kein einziges Ornament und natürlich keine Spur von Marmor.

Zu ihrer Rechten führte eine dreistufige Treppe zu einem schmalen Säulengang hinauf. Durch mehrere, mit verschnörkelten Eisenstangen vergitterte Öffnungen fiel das letzte Tageslicht herein. Sie ging die Treppe hinauf und versuchte einen Blick in einen Raum zu erhaschen, aber der Eingang war mit einem Vorhang aus schwerem Stoff verdeckt. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihn ein Stück zur Seite schieben sollte, widerstand aber der Versuchung und sah sich stattdessen im Säulengang um.

In der Mitte zwischen zwei Fenstern stand der Hausaltar an der Wand – oder einer der Altäre, gewiss gab es mehrere in einer Villa wie dieser. Zu beiden Seiten neben dem Altar stand jeweils eine Schmuckamphore, verziert mit Motiven aus der Götterwelt. Nikos hatte sie in Gaius‘ Auftrag als Hochzeitsgeschenk für dessen zweite Frau Lukrezia hergestellt. Das war jetzt ziemlich genau ein Jahr her. Gaius hatte die Amphoren selbst abgeholt und bei der Gelegenheit Nikos gefragt, ob er für ihn in der Ziegelei arbeiten wolle. Sein Onkel hatte ihm das Ziegelwerk vererbt, und auch die Ehefrau hatte Gaius vom Bruder seines Vaters übernommen: Als er schwer erkrankte, hatte der Onkel die Scheidung veranlasst. Auf diese Weise hatte er Lukrezia den Witwenstand erspart.

Kynthia betrachtete gerade die Totenmaske in einer der beleuchteten Nischen, als sie von einer weiblichen Stimme angesprochen wurde.

„Mein verstorbener erster Mann. Und Gaius‘ Onkel, natürlich.“

Kynthia drehte sich um und lächelte. „Salve, Lukrezia. Danke für die Einladung.“

Die Gastgeberin lächelte zurück und hauchte Kynthia einen Kuss auf jede Wange. Während Lukrezia sie aufklärte, von wem die Totenmasken in den drei anderen Nischen stammten, betrachtete Kynthia den feinen dunkelroten Chiton der Hausherrin. Ob er wohl ganz aus feinster Wolle bestand? Oder war da sogar Seide hineingesponnen worden? An den Schultern hielten goldene Spangen das mit Goldbesatz gesäumte Gewand so zusammen, dass es nicht verrutschen konnte. Lukrezias Halsschmuck war ebenfalls ein Blickfang: goldene Rechtecke wechselten sich mit Kugeln aus Jaspis ab, und die schweren Ohrgehänge waren passend dazu angefertigt worden. Jetzt kam sich Kynthia in ihrem mit Lederbändern befestigten Chiton aus vergleichsweise grober Wolle geradezu ärmlich vor. Auch das Armband und das Collier aus Bernstein hätte sie am liebsten versteckt.

Lukrezia sah sie an. Hatte sie Kynthia etwas gefragt? Dann wusste sie spätestens jetzt, dass Kynthia ihr nicht einen Moment lang aufmerksam zugehört hatte. Ihr fiel nichts Klügeres ein, als die Gastgeberin nochmals freundlich anzulächeln. Vielleicht reichte das ja als Antwort. Lukrezia musste sie für völlig beschränkt halten, aber wenn dem so war, überspielte sie es gekonnt.

„Meine Liebe! Ich sehe, neue Gäste wollen begrüßt werden. Fühl dich wie zu Hause. Ich wünsche dir einen angenehmen Abend. Lass es dir gut gehen.“

Kynthia sah Lukrezia nach, wie sie die Stufen hinunter schwebte. Sicher friert sie jetzt am Abend in dem dünnen Ding, dachte sie. Und der tiefe Ausschnitt! Kynthia erschien es fraglich, ob eine Frau in Lukrezias Alter noch so viel Haut zeigen sollte.

Immer noch peinlich berührt, suchte und fand Kynthia Nikos, der mitten im Atrium mit dem Hausherrn zusammenstand. Beide hielten einen Weinbecher aus Keramik in der Hand, und Gaius lächelte sie an, als er sie bemerkte.

„Kynthia, es freut mich sehr, dass ihr beide heute Abend mitgekommen seid, du und dein Bruder. Lasst es euch allen gut gehen.“

„Danke, Gaius, ich –“ Sie war alles andere als unglücklich darüber, dass in diesem Moment sein Blick über ihre Schulter hinweg zur Eingangshalle schweifte, wo anscheinend gerade zwei neue Gäste hereingeführt worden waren. So musste sie sich nicht anstrengen, sich etwas besonders Kluges einfallen zu lassen, was dann doch wieder nur offenbarte, dass ihre Bildung weit hinter der der anderen Gäste zurückblieb. Gaius winkte den beiden Männern zu.

„Stephanas! Silvanus! Seid gegrüßt!“, rief er. Die beiden kamen auf sie zu. „Nikosthenes, hier ist jemand, den ich dir unbedingt vorstellen möchte.“

Ob es angemessen war, wenn Kynthia einfach neben Nikos und den Männern stehen bliebe? Da sie Phaistos nirgends entdecken konnte und auch sonst niemanden, den sie kannte, beschloss Kynthia, genau das zu tun. Der Neuankömmling Silvanus, der in Begleitung des Baubeamten Stephanas soeben das Atrium betreten hatte, war eindeutig älter als Nikos und Phaistos, aber dennoch waren sein dichtes krauses Haar und sein Bart eher dunkel als grau. Er war Ingenieur, erklärte Stephanas, erst vor Kurzem aus Athen in Kórinthos eingetroffen und auf Arbeitssuche. Stephanas hatte ihn Gaius empfohlen und der beabsichtigte, ihn als Aufseher über seine Bauprojekte und auch über die Arbeiten in der Ziegelfabrik einzustellen. Gaius wandte sich Kynthia wieder zu.

„Kynthia, verzeih mir, ich muss deinen Mann für eine Weile entführen. Sieh mal, da vorne hat sich dein Bruder niedergelassen. Er scheint nach dir Ausschau zu halten. Und Nikos wird sich auch bald zu euch gesellen.“

Kynthia nahm einen Becher mit Wein von einem Tablett, das eine Sklavin ihr wortlos hinhielt, und schlenderte zu der Sitzgruppe hinüber, in der Phaistos sich niedergelassen hatte, wie gewöhnlich sitzend an die Wand gelehnt, weil sein steifer linker Arm nicht kräftig genug war, als dass er sich darauf hätte stützen können. Kynthia setzte sich neben ihn. Phaistos hielt ebenfalls einen Becher in der Hand und schien ihn eingehend zu betrachten.

„Hoffentlich kommt der Philosoph bald“, murmelte er.

Kynthia winkte einer Sklavin, die mit einem Tablett voller Obst in der Nähe stand, nahm eine große Traube mit prallen blauen Früchten und hielt sie Phaistos hin.

„Lass uns den Abend genießen, Bruder!“

Er beantwortete ihr Lächeln, indem er den Mund verzog, pflückte sich dann aber eine Traube ab und steckte sie sich in den Mund.

Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Nikos vor ihnen stand, neben ihm Silvanus, der Kynthia und Phaistos aus seinem Bart heraus herzlich zulächelte, wobei sich die Fältchen um seine Augen zu verdoppeln schienen.

„Da sind wir wieder!“ Nikos strahlte regelrecht, als er Silvanus die Hand auf die Schulter legte.

„Silas, darf ich dir meine Frau vorstellen, Kynthia, und ihren Bruder Phaistos? – Ich habe Silas gebeten, sich zu uns zu setzen.“

„Natürlich, gerne.“ Der Mann erschien Kynthia sympathisch. Und er machte ebenso wenig einen wohlhabenden Eindruck wie sie selbst. Der Abend konnte also doch noch angenehm werden.

„Silas wird von nun an die Aufsicht über die Arbeiten in der Ziegelei führen“, erklärte Nikos, während er es sich auf der Liege neben Kynthia bequem machte. Silas nickte Phaistos einen Gruß zu, bevor er sich neben ihm niederließ.

Von nun an, mit dem inzwischen ungewohnt gut gelaunten Nikos neben sich, genoss sie den Abend. Übermütig zupfte er sie am großen Zeh, legte den Kopf schräg und zwinkerte, als wollte er mit ihr anbandeln. Offensichtlich schmeckte ihm der Wein mindestens so gut wie ihr.

„Ein guter Mann, dieser Silas!“, sagte er halblaut.

Kynthia beobachtete ihn und Phaistos. Die beiden hatten die Köpfe zusammengesteckt, und Silas redete gestenreich, aber gerade so laut, dass Phaistos ihn verstehen konnte.

„Woher kennt ihn Stephanas?“

„Du wirst lachen: Stephanas hat mit unserem Freund Paulos zu tun. Sie treffen sich regelmäßig bei irgendeiner Art Versammlung. Und Silas ist Paulos‘ Freund. Er ist ihm hierher nachgereist.“

So ein Zufall! Kynthia beschloss, ihren Bruder auf dem Heimweg zu fragen, was den Ingenieur mit Paulos verband.

Während als Nachspeise in Honig gehülltes Gebäck serviert wurde, erhob sich Gaius, um seinem Onkel Eumelos das Wort zu erteilen. Der alte Mann mit dem weißen Haar, das zwar voller war als bei den meisten seiner Altersgenossen, aber in dünnen Strähnen über die kleinen Ohren hing, war ausgesprochen hager. Über seiner einfachen hellbraunen Wolltunika trug er eine blaue Toga, ebenfalls aus grobem Stoff. Beides wirkte sauber und ordentlich – und so schlicht, dass Kynthia angesichts der Umgebung, die bis ins kleinste Detail vom Reichtum des Gastgebers zeugte, in der Aufmachung des Alten eine philosophische Aussage vermutete. Eumelos‘ kleine Augen wurden von auffallend dichten weißen Brauen überschattet. Seine schmale hakenförmige Nase ragte zwischen hohlen Wangen und über einen breiten Mund mit schmalen Lippen hinaus, der sie mit tiefen Grübchen verband. Gaius‘ Onkel war so hässlich, dass er Kynthia leidtat. Nach einem flüchtigen Blick auf ihren stattlichen Gastgeber konnte sie nicht die geringste Familienähnlichkeit feststellen.

Eumelos räusperte sich mehrmals, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und sah durch die Öffnung im Dach über dem Impluvium in den Sternenhimmel hinauf. Die Gespräche der anderen Gäste verstummten nach und nach, und erst als es ganz still war, begann der Alte zu sprechen.

„Ich freue mich, liebe Freunde und Gäste meines geliebten Neffen Gaius, dass ihr mir an diesem wunderschönen Abend eure Aufmerksamkeit schenken wollt. Ich will euch auch keineswegs langweilen. Seht hinauf!“ Er streckte einen langen knochigen Finger in Richtung Himmel.

„Seht diese Schönheit, die uns umgibt. Das Licht, das uns nie ganz verlässt. Die Sonne am Tag, der Mond in der Nacht.“

Einige Gäste gähnten demonstrativ.

„Die Natur, liebe Freunde, ich will es euch verraten, ist ein Spiegel. Alles um uns herum spiegelt das Innere des Menschen. Nichts bleibt uns verborgen, wenn wir nur schauen.“

„Nichts für ungut, mein Freund!“

Kynthia reckte den Hals. Ein fülliger Mann mit Halbglatze hatte sich erhoben. Die Frauen und Männer um ihn herum sahen ihn erwartungsvoll an, ebenso wie einige andere Gäste. Der Mann hob seinen Becher und deutete darauf, während er weitersprach.

„Ich schaue lieber in meinen Weinkelch. Sonst bekomme ich am Ende noch mein Magengeschwür zu Gesicht.“

Einige Frauen und Männer in seiner Nähe lachten laut. Kynthia suchte Phaistos‘ Blick, doch der sah Eumelos an, wobei sich sein Unterkiefer hin- und herbewegte. Er wartete also gespannt auf die Reaktion des Alten. Dieser ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Du hast wahr gesprochen, mein Freund. Auch die Hässlichkeiten, die sich um uns herum unseren Augen enthüllen, haben ihre Entsprechung in unserem Innern. Aber ich frage dich: Ist nicht sowohl Hässlichkeit als auch Schönheit eine Frage der Betrachtungsweise?“

„Also, wenn ich an meine erste Frau denke –“ Der Mann erhob sich und fasste sich ans Kinn, als würde er angestrengt nachdenken. „Alle meine Freunde haben sie auf dieselbe Weise betrachtet: Alle fanden sie hässlich. Wie die Nacht!“, brüllte er noch in die aufkommende zweite Lachsalve hinein und ahmte dabei Eumelos‘ Geste nach, indem er theatralisch den Finger zum Himmel reckte.

Kynthia wollte Nikos fragen, ob er den unverschämten Kerl kenne, als sie aber sah, dass er in sich hineingrinste, ließ sie es bleiben. Seit wann fand er so etwas lustig? War er solche Szenen von Demetrios‘ Festen gewöhnt? Phaistos und Silas sahen verlegen zu Boden. Gaius hatte sich inzwischen dem Störenfried genähert und sprach leise mit ihm. Kurz darauf verließ der Mann mit seiner hübschen Begleiterin kopfschüttelnd das Fest. Was die Frau an ihm fand, war Kynthia schleierhaft. Kleidung und Bauchumfang verrieten einen gewissen Wohlstand. Vermutlich machte der ihn begehrenswert.

Eumelos setzte seinen Vortrag fort. Er schien weder beleidigt noch verstört. Kynthia hörte ihm kaum zu und beobachtete stattdessen die anderen Gäste. Plötzlich war sie sehr müde und froh, als Nikos aufstand, um zu gehen.

„Wir sehen uns also morgen in der Ziegelei, Silas? Ich zeige dir dann alles.“

Silas versicherte, dass er kommen würde, bedankte sich und verabschiedete sich von Phaistos, indem er ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter legte.

„Ich würde mich freuen, dich morgen Abend zu sehen.“

Er sah Kynthia an. „Und vielleicht bringst du ja Nikos und deine Schwester auch mit zur Versammlung.“

* * *

„Was für eine Versammlung hat Silas gemeint, Phaistos? Worüber habt ihr geredet?“, fragte Kynthia, kaum dass sie Gaius‘ Villa verlassen hatten.

„Schwester, sei mir nicht böse. Morgen erzähle ich dir gerne alles. Jetzt reicht meine Wachheit gerade noch, um nach Hause zu kommen.“

Da es ihr ähnlich ging, gab sich Kynthia damit zufrieden, und so setzten die drei schweigend ihren Heimweg fort.

9 Regenwassersammelbecken

Die Korinther

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