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V

Phaistos

Wie jeden Nachmittag in den letzten Wochen machte sich Phaistos mit zwei Wachstafeln und einem Griffel auf den Weg in die Bibliothek. Es war gekommen, wie Paulos vorausgesagt hatte: Jeden Tag konnte er den linken Arm ein klein wenig besser bewegen. Nun war er schon beinahe so beweglich wie der andere. Inzwischen war der Strom der Neugierigen jeden Alters, die in der Werkstatt vorbeikamen, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass an Phaistos dem Keramikmaler ein Wunder geschehen war, so gut wie versiegt.

Phaistos atmete auf, als die riesige Tür der Bibliothek hinter ihm zufiel und das Gedränge und den Lärm auf der Agorá aussperrte. Der Bibliothekssklave wartete nicht einmal seinen Gruß ab, sondern verschwand gleich zwischen den Regalen. Der Mann wusste bereits, welche Schriftrolle Phaistos wünschte. Dieselbe wie gestern, vorgestern und am Tag davor: Schriftrolle Nummer eins des ersten Buches der jüdischen Heiligen Schrift in griechischer Sprache. Nachdem Phaistos den Bericht von der Erschaffung der Welt und die Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies einmal durchgelesen hatte, war er dazu übergegangen, ihn abzuschreiben. Jeden Nachmittag beschrieb er eine Tafel und vor dem Schlafengehen las er das Geschriebene noch einmal durch, um es sich einzuprägen.

Paulos freute sich über seinen Eifer. Phaistos hatte seit jenem Abend, an dem er die Kraft des einzig wahren Gottes erfahren hatte, wie Paulos es ausdrückte, keine Versammlung ausgelassen.

„Wie war es?“,

empfing ihn Kynthia, als er nach Hause kam. Sie hatte in seiner Küche auf ihn gewartet und stellte gerade einen Krug mit frischem Wasser auf den Tisch in der Mitte des Raums.

„Erbaulich, wie immer.“

Auch dieser neu erlernte Ausdruck gefiel ihm.

„Warum bist du nicht mitgekommen?“

„Ich weiß nicht.“

Phaistos nahm den Wasserkrug, füllte sich einen Becher und ließ sich an dem kleinen Tisch in der Mitte des Raums nieder. Kynthia setzte sich ihm gegenüber, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf die Risse in der Tischplatte. Ob sie bereits dabei war, wie nicht wenige, den neuen Glauben wieder aufzugeben? Er zwang sich, sie direkt anzusehen.

„Du glaubst doch noch an Iesoús?“, fragte er.

„Ja“, antwortete sie sofort. „O ja, ich glaube, dass es ihn gibt. Und dass er göttlich ist, glaube ich auch. Wie könnte ich nicht? Ich war dabei, als Paulos dich heilte.“

„Als Gott mich heilte. Durch Paulos.“

„Jaja, das meinte ich doch.“

„Aber?“

„Aber dass es nur einen Gott geben soll? Ich weiß nicht.“

„Du solltest öfter mit zu den Versammlungen kommen.“

„Bruder, woher willst du so genau wissen, dass Paulos und Silas Recht haben? Dass die Götter, mit denen wir aufgewachsen sind, und unsere Eltern und unsere Großeltern; die Götter, denen man überall in der Stadt Tempel und Schreine errichtet hat; denen so viele ihr Leben geweiht haben –“ Kynthia legte ihre Hand auf seine und sah ihm direkt in die Augen. „Wie kannst du auf einmal so sicher sein, dass sie alle gar keine Götter sind?“

Phaistos öffnete den Mund, um zu antworten, aber sie legte die Hand auf seine und redete weiter.

„Stell dir vor, du kommst nach deinem Tod in die Unterwelt und stehst plötzlich doch vor Hades.“

„Da höre ich doch Kassandra reden.“

Phaistos entzog ihr Blick und Hand. Warum ärgerte er sich über Kynthia? Hatte er sich nicht dieselben Fragen auch schon gestellt?

„Und was, wenn sie Recht hat? Und Paulos nicht?

Phaistos, auch andere sind schon geheilt worden. Sie haben aber Asklepios geopfert oder Apollon angebetet und wussten nichts von Iesoús.“

Er sah ihr fest in die Augen. „Sie sind alle nichts, Kynthia. Ich weiß es. Ich hatte noch nie in meinem Leben über irgendetwas Gewissheit. Bis jetzt. Wenn Iesoús göttlich ist, - und das ist er, da sind wir uns ja einig – dann können es die anderen nicht sein. Keiner ist wie er.“

Kynthia lehnte sich zurück, legte die Hände in den Schoß und richtete den Blick auf den Schein der Öllampe, die zwischen ihnen auf dem Tisch stand.

„Du hast dich verändert, Phaistos. Du bist mit einem Mal so stark geworden.“

Stark? Er und stark? Nein, es erschien ihm allzu fremd, so von sich zu denken. Er schüttelte den Kopf.

„Komm wieder mit in die Versammlungen, Schwester. Nikos hat doch nichts dagegen.“

Nikos war einmal mitgekommen, gleich nach der Heilung.

„Du darfst meinetwegen weiter mit Phaistos da hingehen“, hatte er auf dem Heimweg gesagt. „Irgendetwas scheint ja dran zu sein an dem, was sie sagen. Aber für mich ist das nichts.“

Das war es. Nikos hatte ihn und Kynthia hin und wieder geneckt, so wie er Kassandra neckte, aber er stellte sich seiner Frau nicht in den Weg. Phaistos fragte sich manchmal, ob sein Schwager froh darüber war, dass Kynthia sich mit diesem Götterfirlefanz beschäftigte. Damit er am Ende seiner langen Arbeitstage mit seinem Freund Demetrios – kannte Phaistos einen größeren Sünder? – unbehelligt von ihren vorwurfsvollen Blicken „feiern“ konnte. Irgendeinen Grund für Ausschweifungen fand dieser Arzt immer. Aber nun konnte Kynthia nur noch schlecht etwas dagegen sagen. Schließlich ließ er ihr ja auch die Freiheit, mit Phaistos zu diesen Kultveranstaltungen zu gehen. Ob er heute auch wieder mit diesem schrecklichen Mann unterwegs war? Hatte Kynthia deshalb hier in seiner Wohnung auf ihn gewartet? Oder um Kassandra aus dem Weg zu gehen? Nikos‘ Mutter würdigte ihre Schwiegertochter und Phaistos kaum noch eines Blickes oder Wortes und hatte Nikos bereits empfohlen, seiner irre gewordenen Frau den Scheidebrief zu reichen. Nikos hörte seiner Mutter schon gar nicht mehr zu. Er hatte fast nur noch seine Arbeit im Kopf. Dennoch stand Kassandra zwischen den beiden, das war deutlich, auch wenn Nikos so tat, als ließe das Gezänke seiner Mutter ihn kalt. Phaistos überlegte sich, ob er Kynthia danach fragen sollte, aber sie kam ihm zuvor. Als hätte sie geahnt, was sonst gekommen wäre.

„Weißt du was!“

Phaistos schloss den Mund. Auch gut. Sicher wäre es kein angenehmes Gespräch geworden.

„Es ist wirklich an der Zeit, dass Danaë von alldem erfährt. Und Talaos und Lydias. Wir sollten sie zu uns einladen.“

Phaistos nickte langsam.

„Es wird bald Frühling. Sie wollten doch auf dem Weg nach Mégara ohnehin wieder hier vorbeikommen.“

Kynthia sah ihn prüfend an. Vermutlich zweifelte sie wieder einmal an Phaistos‘ Begabung zum Eheleben.

„Du willst sie doch immer noch heiraten, oder?“

Hätte er nur schneller nach Kassandra gefragt. Dieses Thema hasste er noch mehr. Er wusste einfach nicht, was seine Schwester von ihm erwartete. Die Vermählung lag noch weit in der Zukunft, und es war offenkundig, dass seine junge Verlobte dem Ereignis ebenso wenig entgegenfieberte wie er selbst.

„Ich werde sie heiraten, Kynthia. Ich habe mich immer an meine Versprechen gehalten und ich werde es auch weiterhin tun.“

Sie stand auf und ging zur Tür.

„Gute Nacht, Bruder“, sagte sie im Hinausgehen und er hob lächelnd und mühelos die linke Hand zum Gruß. Sie erwiderte sein Lächeln, empfand die Geste offenbar nicht als Beleidigung, nachdem er sie überzeugt hatte, dass an alldem Gerede über die schlechte, unglückliche linke Seite und ähnliche Dinge nichts, aber auch gar nichts dran sei. Gott hatte die Menschen mit einer linken und einer rechten Seite geschaffen, also waren beide Seiten gleich gut! Er musste sich zwar noch ein wenig an den Gedanken gewöhnen, aber er hörte Paulos und Silas gerne darüber reden, wie Gott den Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen hatte. Nachdem Kynthia gegangen war, blieb er noch ein wenig am Tisch sitzen. Er schob die Gedanken an Danaë beiseite und dachte über Kynthias Frage nach. Wie er sich so sicher sein konnte, dass Iesoús der einzige Gott sei. Und über seine Antwort. Ich weiß es einfach. War das nicht allzu schlicht? Nun, er würde wohl die Schriften noch eifriger studieren müssen. Eine derart einfältige Antwort gab er nicht gerne. Bevor er schlafen ging, nahm er, wie jeden Abend, eine seiner Wachstafeln aus dem Leinenbeutel, in dem er sie sammelte.

Gott schuf zwei große Lichter; das größere Licht für den Tag und das kleinere für die Nacht. Und Gott schuf auch die Sterne. Er setzte diese Lichter an den Himmel, damit sie die Erde erhellten, Tag und Nacht bestimmten und das Licht von der Finsternis unterschieden. Und Gott sah, dass es gut war. Und es wurde Abend und Morgen: der vierte Tag.

Phaistos ging zum Fenster und sah durch das Gitter in die Nacht. Noch leuchteten zahlreiche Fackeln in der Stadt. Er sah hinauf zum Akrokórinthos, der sich klar und streng gegen den abendlichen Himmel abzeichnete, sah über die Ausläufer der Stadt hinweg nach Westen, auf die Hügel der Korinthia, die sich an den Sternenhimmel schmiegten. Die Landschaft, die er schon so oft betrachtet hatte. Die einzige, die er kannte. Und die er nun ganz anders sah.

Die Korinther

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