Читать книгу Die Korinther - Nicole Kruska - Страница 7

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IV

Phaistos

Kynthia wollte mitkommen. Nikos nicht.

„Vielleicht beim nächsten Mal“, winkte er ab.

So machten sie sich zu zweit auf den Weg. Wie versprochen, hatte Phaistos Kynthia tagsüber von Silas‘ Iesoús erzählt, von dem Sohn des jüdischen Gottes, der sich hatte kreuzigen lassen, um die Menschen mit seinem Vater zu versöhnen. Kynthia schauderte es bei dem Gedanken. Auch vor den Toren von Kórinthos war der Anblick von Männern, Frauen und Kindern, die auf diese grauenvolle Weise zu Tode gebracht wurden, keine Seltenheit. Vor etwa einem halben Jahr war die Sklavin eines Nachbarn gekreuzigt worden, eine Nubierin, etwa in Kynthias Alter. Sie war davongelaufen und noch am selben Tag gefasst worden.

„Also, ich verstehe das nicht, das mit der Kreuzigung. Warum soll das nötig gewesen sein?“ Phaistos zuckte die Schultern.

„Besser kann ich es dir nicht erklären. So ganz habe ich es ja auch noch nicht verstanden. Gleich sind wir da, dann wirst du ja hören, was Paulos dazu sagt.“

Sie erreichten die Synagoge. Daneben, in der Villa eines Mannes namens Titius Iustus, traf sich die Versammlung, zu der Silas sie eingeladen hatte.

„Er muss noch reicher sein als Gaius“, murmelte Kynthia Phaistos zu, als sie von einem Sklaven ins Atrium geführt wurden. Überall glitzerten Ornamente aus Gold an Wänden und Säulen. Der Hausherr war nirgends zu sehen. Sklaven reichten den Gästen Wasser und Früchte.

„Kynthia!“

Phaistos erkannte Paulos nach Kynthias Beschreibung sofort. Strahlend und mit ausgestreckten Armen kam der kleine bärtige Mann auf sie zu, hinter ihm, mit weitaus weniger selbstbewussten Schritten, ein junger Mann, groß und sehr schlank. Er stellte sich stumm hinter Paulos, grüßte mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken und blickte dabei über Phaistos‘ Schulter hinweg. Paulos nahm Kynthias Hände in seine.

„Es freut mich so sehr, dich zu sehen. Und obendrein hier, in unserer Versammlung. Es geht dir hoffentlich gut? Und Nikos auch?“

Kynthia nickte.

„Paulos, ich möchte dir meinen Bruder Phaistos vorstellen.“

Paulos wandte sich ihm zu und legte ihm die Hand auf den heilen Arm.

„Silas hat mir schon von dir erzählt. Seid uns beide herzlich willkommen. – Timotheos, komm, wir wollen mit dem Gottesdienst beginnen.“

Bevor Paulos sich abwandte, sah er Phaistos noch einen Moment lang an. Er spürte seinen freundlichen, aber dennoch durchdringenden Blick des Alten noch immer an sich, als der Alte schon wieder vorne stand. Was hatte er an ihm gesehen? Oder in ihm? Was wollte er von ihm?

„Meine Freunde, nehmt Platz. Gleich beginnen wir“, rief Silas von vorne. Als er Phaistos und Kynthia sah, winkte er ihnen lächelnd zu.

„Was passiert jetzt hier?“, flüsterte Kynthia ihm zu, während Paulos, Silas und der junge Mann mit dem makellosen Gesicht sich gemeinsam vor die Versammlung stellten.

„Keine Ahnung“, flüsterte Phaistos zurück, und obwohl er sich selbst nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte, lächelte er sie an.

„Wart’s ab. Schlimmer als der Vortrag bei Gaius wird es schon nicht werden.“

Dann hob Paulos die Arme und rief:

„Lasst uns den Herrn preisen!“

Das letzte Murmeln unter den etwa vierzig Anwesenden im Raum verstummte, und alle erhoben sich. Phaistos sah, wie Kynthia ihre Palla weiter nach vorn über den Kopf zog, sodass ihr Gesicht fast verdeckt war.

„Sieh mal da, das ist doch einer von Gaius‘ Haussklaven!“, flüsterte Kynthia. Ein Mann vor ihnen drehte sich um und lächelte freundlich.

„Ja, das ist so bei uns. Wir sind alle Geschwister hier.“

Kynthia starrte den Mann sprachlos an, sah dann wieder zu dem Sklaven hinüber, und Phaistos tat es ihr gleich. Der alte Mann hatte sich wie selbstverständlich in die dritte Reihe gestellt, mitten unter die Freien. Titius Iustus‘ Haussklaven standen zwar am Rand, wie es sich gehörte, aber nicht mit gesenktem Kopf. Sie hatten wie alle anderen Anwesenden den Blick auf Paulos, Silas und Timotheos gerichtet.

Eine schlichte Melodie ertönte, eigentlich gar keine Melodie, mehr ein Auf und Ab von Tönen. Timotheos schloss die Augen und atmete tief durch:

„Lobt den HERRN, all ihr Völker.

Lobt ihn, alle Menschen auf Erden.

Denn seine Gnade ist groß

und seine Treue besteht für alle Zeit.

Timotheos‘ Stimme klang geübt, die Töne makellos wie sein Gesicht. Die drei Männer wiederholten den Vers, und die meisten anderen sangen mit, einige laut und kräftig, andere eher zurückhaltend. Manche Männer und Frauen hatten die Augen geschlossen und die Hände im Gebet erhoben, auch die Sklaven. Die Versammlung sang den Vers noch einmal, dann ein drittes Mal. Paulos rief über den Gesang hinweg:

„Halleluja, Herr, wir beten dich an. Wir rufen dich an, du Gott der Gnade, schenk uns deinen Segen für unsere Versammlung heute Abend. Segne unsere Versammlung und jeden Einzelnen von uns. Geist Gottes, leite und begleite uns. Lass uns teilhaben an deiner Weisheit, offenbare uns deinen heiligen Willen.“

Der Geist Gottes. Er erinnerte sich, dass Silas ihm davon erzählt hatte, vom Geist Gottes. Aber er konnte sich darunter nicht so recht etwas vorstellen. Silas war von der Seite nah an Paulos herangetreten und flüsterte ihm ins Ohr. Timotheos beendete seinen Gesang im selben Moment, in dem Silas wieder von Paulos wegtrat, und einen Moment lang war es vollkommen still. Phaistos und Kynthia wechselten einen fragenden Blick: Phaistos spürte, dass Kynthia näher an ihn herangerückt war. Sie zupfte ihn am Ärmel, und er sah sie an.

Komm, wir gehen, sagten ihre Lippen. Vorne hob Paulos wieder die Arme. „Hört her, Geschwister!“, rief er.

Phaistos dachte einen Moment lang über Kynthias Bitte nach und schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte Silas ja etwas Wichtiges zu sagen. Er wollte es hören.

„Unser Bruder Silvanus, der, wie viele von euch wissen, mit der Gabe der Prophetie gesegnet ist, hat euch etwas mitzuteilen.“

Die Gabe der Prophetie. Was hieß denn das nun wieder? Phaistos hatte von den Propheten aus den Schriften der Juden gehört, hatte sogar vor einiger Zeit eine ihrer Schriften gelesen, aber so verwirrend gefunden, dass er sich nicht mehr weiter damit beschäftigt hatte. Es hieß, die Propheten hätten dem Volk Israel Gottes Willen verkündet. Hoffentlich würde Silas nicht auch so wirres Zeug reden. Dann würde es ihm aber wirklich reichen. Paulos trat zur Seite und Silas an seine Stelle. Phaistos musste einen Schritt nach links rücken, um ihn sehen zu können, und trat dabei seinem Nachbarn auf den Fuß. Hastig entschuldigte er sich, doch der Mann schien das gar nicht bemerkt zu haben. Aufgeregt wandte dieser sich nach allen Seiten um.

„Hört zu!“ Er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, um die Aufmerksamkeit eines Paares zwei Reihen hinter ihm zu bekommen. „Seid doch mal still. Der Herr hat zu Silas geredet.“

Der Herr hat zu Silas geredet. War Silas also so etwas wie ein Orakel? Das hatte er ihm gestern gar nicht erzählt! Endlich wurde es ganz still im Raum. Phaistos stellte sich auf die Zehenspitzen. Silas wirkte ganz ruhig. Er war auch offensichtlich überhaupt nicht in Trance, wie man es von Orakeln kannte. Er stand dort vorne, als wolle er eine Rede halten.

„Es ist heute Abend jemand hier, der schon sehr lange an einem Gebrechen leidet.“ Phaistos stockte der Atem. Schnell stellte er die Fußsohlen wieder ganz auf den Boden. Am liebsten hätte er sich klein gemacht und ganz hinter dem Glatzkopf versteckt, der vor ihm stand. „Wer du auch sein magst: Gott will dich heilen. Geh zu Paulos, damit er dir die Hände auflegen kann.“

Dann wurde es wieder völlig still im Raum. Phaistos glaubte, sein Herz klopfen zu hören. Sein Mund war völlig trocken, und er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Einige der Anwesenden drehten suchend die Köpfe nach allen Seiten. Phaistos hielt den Atem an. Irgendetwas in ihm drängte ihn vorzutreten. Konnte das sein? War wirklich er gemeint? Sicher bildete er sich das nur ein. Gleich würde jemand anderes nach vorne gehen. Der Gott, der hier angebetet wurde, kannte ihn doch gar nicht. Unmöglich, nein, es musste einfach jemand anderes gemeint sein. Kynthia hatte mit beiden Händen seine Linke ergriffen.

„Phaistos, bitte, lass uns endlich gehen, das hier ist mir unheimlich“, flüsterte sie.

Er schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen. Nein, weggehen wollte er nicht, auf keinen Fall. Timotheos stimmte das Lied wieder an. Fast alle sangen leise mit.

Paulos‘ Stimme tönte über den Gesang und die Menschenreihen vor ihnen hinweg:

„Der Geist Gottes hat durch unseren Bruder gesprochen. Heute Abend will der mächtige Schöpfer des Alls an einem oder einer Anwesenden in diesem Raum, seine große Kraft und Liebe erweisen. Komm her zu mir, nimm an, was er dir schenken will.“

Noch immer ging niemand nach vorn. Phaistos legte die freie Hand auf Kynthias Finger, die sein Handgelenk fest umklammerten.

„Lass mich los“, zischte er ihr zu.

Sie schüttelte den Kopf. Einige der Umstehenden hörten auf zu singen und drehten sich nach ihnen um. Eine Frau lächelte, nickte ihm zu, trat zur Seite und streckte den Arm aus, wie um ihm den Weg freizuhalten. Tatsächlich bemerkten die Umstehenden ihre Geste und bildeten eine Gasse, einige immer noch mit den Augen suchend, für wen sie gerade den Weg frei machten.

„Ich glaube wirklich, dass ich gemeint bin. Lass mich los oder geh mit, aber halt mich nicht auf.“

Kynthia wurde rot und starrte erst ihn an, dann spürte sie wohl all die Blicke, die nun auf sie beide gerichtet waren, und senkte den Kopf. Endlich gab sie seine Hand frei. Nun steigerte sich der Gesang wieder, blieb aber immer noch leiser als zuvor. Er ging voran, mitten durch die Menschenmenge hindurch auf Paulos und Silas zu. Blicke. Von allen Seiten Blicke. Neugierig, mitleidig. Sie bohrten sich in seine linke Schulter und wanderten den Arm hinunter bis zur Hand, dann zurück zu seinem Gesicht, dann weg von ihm. Konnte es wirklich passieren? Würde er nie wieder solche Blicke ertragen müssen? Was hatte er zu verlieren? Phaistos stand nun genau vor Paulos, sah aber zu Silas, der hinter dem Alten stand. Über Silas‘ Gesicht huschte ein freundliches Lächeln.

„Phaistos“, sagte Paulos, als würde er ihn zum zweiten Mal begrüßen. Dann fasste er ihn sanft am rechten Ellbogen und fragte: „Willst du geheilt werden?“

Wollte er das? Natürlich wollte er das. Sollte der Gott der Juden doch zeigen, ob er mehr konnte als alle anderen. Phaistos sah Paulos an, schluckte schwer und nickte. Der Gesang ging weiter, und Phaistos war sehr froh darüber. Jetzt konnte er seinen Herzschlag schon in den Ohren spüren.

All diese Blicke. Er wollte sie nicht beachten. Paulos stand nun links neben ihm. Phaistos verstand die Frage in seinem Blick – Bist du bereit? – und nickte noch einmal. Der kleine Mann musste die Arme ein wenig heben, um ihm sanft beide Hände auf die Schulter zu legen. Phaistos überlegte, ob es unhöflich wäre, ihn zu unterbrechen, um zu fragen, ob er sich hinknien solle, aber Paulos hatte bereits die Augen geschlossen und das Gesicht nach oben gerichtet. Phaistos verschloss fest die Lippen.

„Herr“, rief er, „du hast uns gezeigt, dass du Phaistos heilen willst. Schon so lange musste er mit diesem Leiden leben. Jetzt willst du ihn befreien. Halleluja, Herr, wir loben und preisen dich für deine Güte, deine Liebe, deine Kraft. - Im Namen unseres Herrn Iesoús Christos spreche ich dir, Phaistos, Heilung zu. Heilung von Gott, unserem allmächtigen Vater.“

Dann bewegte er nur noch die Lippen, nein, er murmelte irgendetwas, aber Phaistos verstand kein einziges seiner Worte. Was, wenn nun gar nichts passierte. Doch, jetzt. Bildete er es sich nur ein? Weil er unbedingt wollte, dass etwas passierte? Allmählich breitete sich von der Schulter her eine kräftige Wärme in seinem Arm aus, durch den Ellbogen, das Handgelenk, bis in die Fingerspitzen hinein. In der Schulter aber blieb sie am stärksten. Phaistos nahm plötzlich wahr, dass Kynthia neben ihm stand, Paulos gegenüber. Die Hände vor dem Mund aneinander gelegt, die Augen weit aufgerissen, sah sie dem kleinen Mann ins Gesicht. Schließlich öffnete Paulos die Augen, nahm seine Hände von Phaistos‘ Schulter und nickte ihm zu.

„Bewege deinen Arm.“

Phaistos öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber Paulos nickte ihm aufmunternd zu. Zögernd und mit zitternden Händen umfing er die linke mit der rechten, wie er es gewohnt war. Verlegen lächelte er Paulos an, dann Silas. Erstaunlich! Die beiden wirkten völlig ruhig. Dabei müssten sie doch genauso nervös sein wie er selbst, aber sie drängten ihn in keiner Weise, das Ergebnis ihrer Bemühungen unter Beweis zu stellen. Sie mussten sich wohl sehr sicher sein. Die Stille in dem Raum, in dem so viele Menschen nichts weiter taten als abzuwarten, was mit ihm passierte, war kaum auszuhalten. Er selbst wollte es gar nicht mehr wissen. Am liebsten hätte er weiter einfach nur so dagestanden, in der hinteren Reihe, und zugesehen, wie das hier jemand anderem passierte. Nun trat Kynthia dicht vor ihn, sah ihm in die Augen und reichte ihm die linke Hand. Die Finger der rechten in den Stoff seiner Tunika gekrallt, hob er langsam die Schulter, beugte den Ellbogen und legte seine linke Hand in die seiner Schwester. Kynthia schrie leise auf.

„Es geht“, sagte er ganz leise, dann noch einmal lauter und dann drehte er sich um und rief: „Ich kann meinen Arm bewegen! Zum ersten Mal seit ich vier Jahre alt war!“

Er spürte Tränen aufsteigen und Paulos‘ Hand, die nun wieder auf seiner Schulter lag. Der Alte sah ihn gütig an.

„Jeden Tag wird es ein bisschen leichter gehen, Phaistos. Und bald wirst du beide Arme gebrauchen können wie alle anderen hier.“ Dann wandte er sich der Versammlung zu, hob wieder beide Arme und rief laut:

„Preist den HERRN. Er ist wunderbar.“

Das Gemurmel im Saal verwandelte sich in Jubel und Beifall, vermischt mit Rufen. „Halleluja!“, riefen die Menschen. Was für ein wunderschönes Wort. Von hinten erklangen eine Schellentrommel und eine Flöte. Timotheos stimmte eine neue Melodie an und sang:

„Halleluja, preist den Herrn. Preist den allmächtigen Gott und seinen Sohn Iesoús Christos!“

Immer mehr Anwesende stimmten ein. Phaistos umarmte Kynthia, die lachend weinte. Immer wieder hielt er seinen linken Arm mit der rechten Hand fest aus Sorge, eine zu heftige Bewegung könnte die Heilung zunichte zu machen. Er lachte über sich selbst, lachte vor Freude, legte den rechten Arm um Paulos‘ Schulter und rief:

„Danke“!

Der streckte lächelnd die Zeigefinger beider Hände nach oben. Phaistos verstand und dann – dann streckte Phaistos das Gesicht in die Höhe, breitete langsam, ganz vorsichtig, beide Arme aus und rief:

„Ich danke dir und preise dich, du einzig wahrer Gott! Ich preise dich, Iesoús Christos! Halleluja!“

Die Korinther

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