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VI

Kynthia

Inzwischen waren einige Monate ins Land gegangen. Der Winter war vorüber, und der Prokonsul10 hatte den Geburtstag des Kaisers zum Feiertag ausgerufen. Niemand sollte arbeiten, der es nicht unbedingt musste.

„Wir feiern Taufe!“, hatte Priska strahlend den zehn Frauen verkündet, die sich jede Woche in der Wohnung der Zeltmacher trafen, während Aquila unten in der Werkstatt mit einer Gruppe von Männern über das Euangélion11 redete. „Die Gemeinde feiert ein großes Fest draußen am Fluss.“

Kynthia wusste es schon von Phaistos, und ja, sie wollte auch dabei sein. Gemeinsam mit ihrem Bruder wollte sie sich taufen lassen. Sie war so weit. Gleich nach der Versammlung würde sie es Priska sagen. Die Römerin umarmte Kynthia und küsste sie auf beide Wangen.

„Bring deine Familie mit! So ein Fest am Fluss, das ist doch etwas anderes als eine Versammlung in einem Haus. Ich werde dafür beten, dass sie sich einladen lassen.“

* * *

Kynthia lag auf dem Rücken neben Nikos im Bett, den Kopf auf ihrem Unterarm, starrte über ihn hinweg aus dem Fenster. Was sollte sie nur sagen? Die aufgehende Sonne färbte den Himmel über den Dächern des Nordmarktes zart orange.

Nikos, mir ist es sehr ernst mit meinem neuen Glauben. Ich möchte mich taufen lassen und wünsche mir, dass du bei dem Fest dabei bist. Das konnte doch so schwierig nicht sein!

Als Nikos sich bewegte, drehte sie sich schnell auf die Seite, heftete den Blick auf einen Riss im Putz an der Schlafzimmerwand. Sie würde schon noch die richtigen Worte und den richtigen Zeitpunkt finden.

„Was machst du morgen, Nikos?“, fragte Kynthia wie nebenbei, als sie später im Laden die Bestände prüften. Er zuckte die Schultern, sah auf seine Tafel und brummte:

„Wir könnten zum Meer gehen mit Leander. Und Mutter.“

Sie wusste, spürte genau, wie viel Überwindung ihn dieser Vorschlag kostete. Nikos hörte seiner Mutter schon gar nicht mehr zu, wenn sie über Kynthia schimpfte. Dennoch war zwischen ihnen nichts mehr wie früher. Kynthia hielt die Luft an. Nun konnte sie ja wohl schlecht vorschlagen, er solle seine Mutter zu Hause lassen und lieber mit ihr zur Tauffeier kommen.

„Zum Meer … das … hört sich gut an.“ Ihre Hände zitterten und sie stellte die Schüssel, die sie hielten, schnell zurück ins Regal.

„Ich … ehm.“ Sie zwang sich, ihn anzusehen. „Die Gemeinde feiert morgen Taufe. Am Fluss. Ich möchte mich auch taufen lassen.“

Er heftete den Blick auf den Stapel Amphoren zu seinen Füßen.

„Ja, dann musst du wohl dahin. Obwohl … Leander sich bestimmt gefreut hätte, wenn du mitgekommen wärst … ans Meer“, sagte er zu einem der Gefäße.

Was ist mit dir, Nikos, hättest du dich auch gefreut? Sag es, sag es, sieh mich nur an und sag es mit Blicken, aber sag es. Ich würde die Taufe verschieben. Paulos würde es gewiss verstehen. Vielleicht auch nicht, aber sei’s drum. Sag, dass du den Tag mit mir verbringen willst.

Immerhin, er sah sie an.

„Ich verstehe dich gut. Du hast es nicht leicht mit Mutter im Moment. Vielleicht haben wir wirklich alle mehr von dem Tag, wenn du ihn mit deiner Gemeinde feierst und wir drei allein zum Strand gehen.“

Kynthia schluckte.

„Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Sag mir Bescheid, wenn du mich brauchst. Ich mache jetzt mit dieser Schüssel weiter.“

Sie nahm das feuchte Tuch von ihrer Arbeit, legte mit geschlossenen Augen beide Hände um den kühlen glatten Ton und blieb so stehen, bis sie aufhörten zu zittern. Dann arbeitete sie schnell, und es gelang ihr, sich in ihr Tun zu vertiefen. Am Abend war sie so erschöpft, dass einschlief, bevor Nikos ins Bett kam.

„Was ist mit dir, Schwester?“, fragte Phaistos, als er früh am nächsten Morgen neben ihr den Töpferhügel hinaufging. „Freust du dich nicht? Das wird ein wunderschönes Fest, du wirst schon sehen. Und der Herr segnet den Tag obendrein mit schönstem Sonnenschein.“

Sonnenschein! Es war Frühling! Was war daran ungewöhnlich? Wie konnte Phaistos sich darüber wundern, dass sie traurig war? Hatte er nicht einen Moment darüber nachgedacht, dass ihr Mann und ihr Sohn an ihre Seite gehörten? Vielleicht wäre er an ihrer Stelle nicht einmal auf die Idee gekommen, Nikos zu fragen. Ja, und vielleicht wäre das auch wirklich eine ganz dumme Idee gewesen. Gut, dass sie ihn nicht gefragt hatte.

Oben am Hügel wartete eine Gruppe von etwa zwanzig Geschwistern. Priska winkte ihnen schon von Weitem zu. „Kynthia!“, rief sie fröhlich. „Ich weiß, ich hab’s schon gesagt, aber freue mich so sehr, dass du dabei bist, Schwester!“

Kynthia erwiderte die kräftige Umarmung und das herzliche Lächeln der älteren Frau zurückhaltend. Priska ließ ihren Arm auf Kynthias Schultern liegen, während sie weitergingen, auf dem breiten Kiesweg hinaus aus der Stadt in Richtung Hügel.

„Du wirkst bedrückt, meine Liebe.“ Flüchtig ließ die Römerin den Blick über die Gruppe wandern. „Nikos und Leander sind nicht dabei, oder?“

Kynthia schüttelte den Kopf und erzählte ihr von dem Familienausflug. Priska zog die Stirn in Falten. Nicht zum ersten Mal fragte sich Kynthia, was sie an Priska so sehr störte. Von Anfang an war ihr die Nähe der Römerin unangenehm gewesen, aber warum? Priska war immer gut aufgelegt. Ja, gestand sie sich ein, das war es wohl, was ihr an der Frau missfiel: Priska schien alles zu gelingen. Wie schnell hatte sie gemeinsam mit Aquila in Kórinthos eine neue und sehr erfolgreiche Zeltmacherwerkstatt aufgebaut. Das lag wohl unter anderem daran, dass sich das Ehepaar in kürzester Zeit die griechische Sprache angeeignet hatte. Bestimmt trug Paulos in den Stunden der gemeinsamen Arbeit dazu bei. Priska schien wirklich alles mühelos von der Hand zu gehen. Wie selbstverständlich gehörte sie als einzige Frau zu Paulos‘ engsten Mitarbeitern. Kaum einer anderen Frau in der Gemeinde wäre das möglich gewesen, selbst wenn sie Priskas vorbildlich starken Glauben und ihre überragende Auffassungsgabe in sich vereint hätten. Nur an einem fehlte es ihr: Die Ehe der Zeltmacher war kinderlos geblieben.

„Jetzt endlich sehe ich einen Sinn darin“, hatte sie den Frauen bei einer Versammlung unter Tränen anvertraut.

„Als Mutter könnte ich dem Herrn nicht mit voller Kraft dienen. Nicht auf die Art und Weise, wie ich es jetzt tue, meine ich“, hatte sie hastig hinzugefügt. „Jede Mutter, die ihren Kindern das Wort Gottes mit auf den Lebensweg gibt, dient dem Herrn. Für mich hatte Gott andere Aufgaben im Sinn. Und jetzt, nach vielen Jahren der Bitterkeit, kann ich ihm von Herzen dafür danken.“

„Mir geht es gut, Priska, mach dir keine Sorgen“, sagte Kynthia und war froh, als eine Frau vor ihnen einen Gesang anstimmte, der ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich zog und das Gespräch beendete. Nach wenigen Takten setzten weitere Sänger ein. Kynthia erkannte sofort die fröhlichen und gleichzeitig sehnsuchtsvollen Klänge der Musik des jüdischen Volkes und auch die hebräische Sprache würde sie inzwischen wohl unter anderen erkennen, obwohl sie die Worte nicht verstand.

„Was singen sie?“

„Gefällt dir das Lied? Es ist ein Psalmvers von König David für die Pilgerfahrt nach Jerusalem:

Wie schön und wie wunderbar ist es, wenn Brüder einträchtig zusammenleben!

Immer wieder fingen die Sänger von vorne an, immer mehr Geschwister stimmten in die Melodie ein, die einen kraftvoll, die anderen zaghaft, andere, wie Kynthia, summten zuerst nur die Melodie mit. Geschwister waren sie, alle miteinander. So sehr sie sich auch voneinander unterschieden mit ihren persönlichen Geschichten und denen ihrer Völker, ihren Eigenarten, ihren Muttersprachen: Alle gemeinsam priesen Gott für ihre Gemeinschaft. Nach und nach schien ihr Lobpreis die ganze Landschaft zu erfüllen. Schon lange waren sie nicht mehr alle zusammengekommen, und Kynthia hatte gar nicht gewusst, wie viele sie inzwischen waren. Natürlich hatte Priska ihnen erklärt, dass sie sich deshalb inzwischen bei den Zeltmachern und in anderen Wohnungen trafen, weil selbst die große Villa des Titius Iustus längst zu klein war, um alle aufzunehmen. Jede Woche betete Priska mit den Frauen in der Werkstatt für die Neubekehrten und schon oft hatte sie gestaunt, wie viele Namen genannt wurden. Einmal sogar zwanzig in einer einzigen Woche. Aber erst heute, da sie alle zusammengekommen waren, wurde ihr klar, wie groß die Gemeinde geworden war.

„Wir sind sein auserwähltes Volk!“, betonte Paulos immer wieder. „Nicht mehr nur wir Juden. Durch Christos gehört ihr nun auch dazu!“

Was für ein Gedanke! Kynthia ließ ihn in sich Raum greifen, atmete ihn tief ein mit dem Duft der Frühlingsblumen ringsum. Wir, ja wir alle. Handwerker, Kaufleute, Reiche, Griechen, Juden, Fremde. Daran, dass Sklaven unter ihnen waren, und zwar nicht, um zu dienen, sondern um gemeinsam mit ihnen den Herrn anzubeten, hatte sich Kynthia noch immer nicht gewöhnt, aber Paulos wurde nicht müde, es zu sagen: Sie alle gehörten zusammen, keiner war besser als der andere, sie alle waren Kinder Gottes! Anfangs war ihr die Vorstellung schwergefallen. Sie, Kynthia, die Töpferin, ein Kind Gottes! Immer wieder hatte sie darüber nachgedacht, hatte versucht zu verstehen, was Paulos damit meinte. Heute, zum ersten Mal, begriff sie es, ohne darüber nachzudenken. Hier, mitten in den frühlingsgrünen Hügeln der Korinthia, erklang der Lobpreis der Kinder des Einen. Das Lied breitete sich in ihrer Seele aus, erfüllte sie von Kopf bis Fuß und mit ihm die Gewissheit: Gott, der große Gott, der einzig wahre Kyrios, der Herr der Herren, hat mich zu seinem Kind gemacht. Sie spürte Freude, echte, tiefe Freude. Alle diese Menschen hier waren ihre Geschwister! Nicht nur Phaistos, alle. Wie es ihr auch immer gehen würde: Sie war nicht allein. Jetzt summte sie nicht mehr. Sie sang aus voller Kehle wie schon sehr, sehr lange nicht mehr.

Die Gemeinde wanderte noch ein ganzes Stück, bis endlich der Fluss in Sicht kam. Kynthia blieb stehen und betrachtete das schmale Band, das sich von Nemea herunter in Richtung Golf schlängelte. Würde sich wohl irgendetwas ändern nach der Taufe? Würde sie Iesoús dadurch näherkommen? Sich immer wie seine Jüngerin fühlen, so wie jetzt in diesem Augenblick? Würde sie ab heute nie wieder daran zweifeln, dass es richtig war, ihm zu folgen?

* * *

Die Geschwister, die zuerst am Fluss angekommen waren, hatten im klaren Wasser schon eine nicht zu seichte Stelle ausgemacht und sich am Ufer niedergelassen. Inzwischen stand die Sonne hoch darüber und ließ ihre Strahlen über die Wellen wandern. Kynthia holte tief Luft. Sie hatte ihr ganzes bisheriges Leben in Kórinthos verbracht, kannte aber diesen Teil der Korinthia nur vom Hörensagen, denn auf dieser Seite gab es weit und breit keine Töpferschlammgrube. Die Stadt mit ihrem Lärm und ihren Gerüchen war weit weg. Der Duft von Blüten war an ihre Stelle getreten, den Blüten der wilden Blumen und der Zitrus-, Oliven- und Weinplantagen. Das Gras war jetzt im Frühling noch grün, nicht braun und von der Sonne verbrannt. Kynthia zog die Sandalen aus, schloss die Augen und genoss das Kitzeln der weichen Halme unter den Sohlen und zwischen den Zehen.

Der Klang vertrauter Stimmen ließ sie die Augen öffnen. Nicht weit entfernt standen Paulos, Silas und Timotheos und unterhielten sich gestenreich. Vermutlich planten sie den Ablauf der Taufe. Etwa fünfzig Geschwister wollten sich heute taufen lassen. Dennoch, das hatte er längst klar gestellt, überließ Paulos seit ihrer Ankunft das Taufen ganz den beiden jüngeren Männern. Wer von den beiden sie wohl taufen würde? Silas? Kynthia musste sich eingestehen, dass sie sich das wünschte. Sie hatte nichts gegen Timotheos, ganz und gar nicht, aber er war im Vergleich zu Silas und Paulos doch recht kühl und zurückhaltend. Sicher, er war noch sehr jung, jünger als Kynthia selbst, und gerade im Umgang mit Frauen recht unsicher. Sie dachte daran, wie seine Gesichtszüge allmählich weich wurden, wenn er die Gemeinde im Lobpreis anleitete. Wenn er sang, vergaß er vielleicht, darüber nachzudenken, was man vom ihm erwartete. So ging es ihr manchmal beim Töpfern, wenn die Zeit nicht drängte. Ganz gleich, ob sie an der Drehscheibe eine einfache Schüssel herstellte oder das Material zu einer Statue aufbaute, bei der es auf Feinheiten ankam: Hin und wieder vergaß sie den Auftraggeber und seine Anforderungen und versank ganz in ihrem Tun, spürte den feuchten Ton an ihren Händen und nahm wahr, wie er unter ihrem Druck seine Form veränderte. Womöglich sah sie dann auch so entspannt aus wie Timotheos, wenn er Psalmen sang. Sie zuckte zusammen, als sie den Blick des jungen Mannes auf sich spürte, freundlich aber fragend. Sie musste ihn angestarrt haben. Was mochte er jetzt von ihr denken? Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde, nickte ihm lächelnd zu, was er erwiderte, und lenkte den Blick aufs Wasser.

„Grüß dich, Kynthia!“

Sie fuhr herum und ließ den Blick an der schlanken Figur der Sprecherin mit der jungen Stimme hochwandern.

„Danaë! Talaos, du auch!“ Sie sprang auf und fiel den beiden um den Hals. Danaë hakte sich bei Talaos ein und seufzte.

„Sie haben auf mich eingeredet, er und Papa, dass ich mich un-be-dingt taufen lassen soll. Wegen Phaistos. Weil sich das so gehört, meinen sie, dass eine Braut dieselben Götter verehrt wie ihr zukünftiger Mann. Da habe ich gesagt, lieber Bruder, wenn du dich taufen lässt, mache ich mit. Allerdings“, Danaë lehnte sich vor und flüsterte Kynthia ins Ohr: „- hätte ich nicht gedacht, dass er sich darauf einlässt.“

Natürlich wusste sie genau, dass Talaos ihre Worte sehr wohl gehört hatte und zwinkerte ihm zu.

„Tja!“, machte er nur, schenkte Kynthia ein breites Grinsen und hob die Schultern.

„Weiß es Phaistos schon?“ Kynthia hielt Ausschau nach ihm. „Da drüben steht er, siehst du, bei Priska und Aquila. Kommt mit, er wird sich freuen. - Phaistos!“

Sie lief den beiden voran.

„Schau mal, wer hier ist. Die beiden lassen sich auch taufen.“

Phaistos zog die Augenbrauen hoch und begrüßte Danaë und Talaos mit einem Nicken.

„Ja, ich weiß. Silas hat es mir erzählt.“ Er lächelte schief. Dann fasste er Talaos am Arm. „Kommt, ich bringe euch zu ihm. Vielleicht will er vorher noch einmal mit euch reden. Kommt.“

Kynthia starrte den dreien fassungslos nach.

„Was ist jetzt schon wieder mit ihm los? Ich dachte, er würde sich freuen“, murmelte sie, mehr vor sich hin als zu Priska.

„Vermutlich zweifelt er, ob die beiden es wirklich ernst meinen mit Iesoús. Ehrlich gesagt, teile ich seine Zweifel.“

Wirklich ernst? So ernst wie Phaistos und Priska und Aquila? Wer meinte es schon so ernst? Wer durfte sich dann überhaupt taufen lassen? War Priska überzeugt, dass sie, Kynthia, es wirklich ernst meinte? Sie sah die Römerin an, schüttelte dann aber die ärgerlichen Gedanken ab. Heute war kein Tag zum Streiten, nicht mit Phaistos und auch sonst mit niemandem. Ein schöner Tag sollte es werden, einfach nur schön. Sie nickte Priska und Aquila zu, murmelte: „Bis später“, und schlenderte in Richtung Ufer.

Silas und Timotheos waren nirgends in Sicht. Immer noch machte niemand Anstalten, mit der Feier zu beginnen. Ob noch Täuflinge fehlten? Sie könnten doch schon einmal anfangen. Zumindest schon einmal alle auf einem Fleck versammeln und Lobpreislieder singen. Oder was sie auch immer vorhatten. Aber dieses Warten machte Kynthia langsam kribbelig. Sie blickte von der Wiese aus über das schmale Stück Kiesufer, dessen Breite sie mit ihrem Körper hätte ausmessen können und betrachtete das klare Uferwasser. Sie schritt über den Kies, tauchte die Zehen ins Wasser und zog sie gleich wieder heraus. Da sollte sie ganz hineinsteigen? Viel zu kalt! Sei nicht so ein Mädchen!, schalt sie sich. Vermutlich war dieses Wasser das reinste, in dem sie je gebadet hatte. Welches Gewässer könnte einer Taufe wohl würdiger sein?

„Nicht so schnell, Kynthia!“, hörte sie Phaistos‘ ungewohnt gut gelaunte Stimme hinter sich und drehte sich um. Er winkte ihr lachend zu. „Es ist ja noch kein Täufer im Fluss! – Komm her zu uns, wir fangen an!“

Paulos sprach ein paar Worte, auch darüber, dass bei aller Freude über jeden einzelnen Täufling nicht vergessen werden durfte, dass die Taufe und die Aufnahme in die Gemeinde auch Pflichten mit sich brachte. Dass niemand diese Entscheidung leichtfertig treffen dürfe. Kynthia schluckte. Aber nein, sie würde nicht noch einmal darüber nachdenken. Sie wollte ganz dazugehören. Paulos fuhr fort.

„Lasst uns nun noch einmal beten für alle, die heute diesen Schritt gehen wollen. Und wer von euch in diesen Momenten zu dem Entschluss gelangt, dass er doch noch nicht so weit ist, möge einfach den Rest des Tages mit uns feiern und sich dann weiter unterweisen lassen, bis er sicher ist, dass er sein altes Leben im Wasser dieses Flusses dort zurücklassen und ein neues Leben in Christos beginnen möchte.“

Kynthia dachte an Danaë und Talaos, verbot sich aber, sie mit den Blicken in der Menge zu suchen. Sie würden schon wissen, was sie taten.

Die Gemeinde stimmte einen Halleluja-Gesang an, während ein Täufling nach dem anderen ins Wasser stieg, wo Silas und Timotheos ein kleines Stück abseits vom Ufer standen und auf sie warteten. Kynthia erblickte Danaë und Talaos in der Gruppe, die Timotheos zugeteilt worden war und winkte ihnen zu. Phaistos erspähte sie ganz am Anfang der Reihe, die bei Silas anstand. Da gehörte er wohl auch hin, nach vorne. Sie kannte niemanden, der diesen Moment so lange herbei gesehnt hatte wie er. Als er wieder auftauchte, sang sie laut und rief mit allen anderen laut: „Halleluja!“ Jedes Mal, wenn ein neuer Mensch in Christos aus dem kalten Wasser auftauchte, wurde er so begrüßt. Bei dem Täufling vor ihr konnte sie Silas‘ Fragen deutlich verstehen: „Willst du Iesoús Christos von ganzem Herzen treu nachfolgen? Bist du bereit, ihm und seiner Gemeinde treu zu dienen? Willst du den Werken Satans ganz und gar den Rücken kehren und als neuer Mensch in Christos leben?“

Endlich war Kynthia an der Reihe. Silas streckte ihr mit einem warmen Lächeln die Hand entgegen. Er war zwar nie ganz untergetaucht, aber bei den sieben Taufen vorher hatte er doch einige Tropfen abbekommen, die jetzt in Bart, Wimpern und Locken glänzten. Kynthia beantwortete seine Fragen mit einem deutlichen Ja! Ja, sie wollte Christos treu nachfolgen, gemeinsam mit all diesen Menschen hier! Die rechte Hand fest von Silas‘ Rechter umschlossen und von seinem linken Arm gestützt, hielt sie den Atem an und ließ sich ins kalte Wasser sinken. Es war kein angenehmes Gefühl, das konnte sie beim besten Willen nicht behaupten, und sie war sehr froh, dass sie schnell wieder auftauchen durfte. Sie wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht und lachte verlegen, aber als sie die jubelnden und klatschenden Geschwister am Ufer sah und hörte, als Silas sie herzlich in den Arm nahm und leise zu ihr sagte: „Jetzt jubeln die Engel im Himmel über dich“, vergaß sie das kalt an ihrer Haut klebende weiße Leinengewand für einen Moment. Priska nahm sie am Ufer in Empfang, reichte ihr das Tuch und den trockenen Chiton, den Kynthia bei ihr gelassen hatte, und umarmte sie fest. Dass Priska schon jetzt fast genauso nass war wie die Täuflinge selbst, schien sie nicht zu stören. Sie ging zu der Gruppe von Schwestern, die für die getauften Frauen Tücher hochhielten, hinter denen sie sich umziehen konnten. Als sie wieder zum Vorschein kam, wartete Phaistos schon auf sie.

* * *

Noch vor Sonnenuntergang machten sich alle auf den Heimweg, denn sie wollten zu Hause sein, bevor es ganz dunkel war. Auf dem kurzen Stück des Weges, den Kynthia und Phaistos allein zurücklegten, schwiegen sie. Es war kein unangenehmes Schweigen. Heute nicht. Es war das Schweigen zwischen vertrauten Menschen, die gemeinsames Nichtreden gut aushalten. Wieder einmal sah Kynthia Phaistos neidisch hinterher, als er sich verabschiedete und die Treppe zu seiner eigenen Wohnung hinaufstieg. Wieder einmal würde sie sich in ihr Zuhause schleichen, vorsichtig wie ein Dieb, und hoffen, Kassandra nicht zu begegnen. Sie trat in die Küche und atmete auf. Alle hatten sich schon zurückgezogen. Vermutlich war der Ausflug sehr anstrengend gewesen. Kynthia schenkte sich in der Küche einen Becher voll Wasser ein und setzte sich an den Tisch. Ein Riss im Holz zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, und sie begann, ihn mit dem Fingernagel zu bearbeiten. Nach diesem Tag, den sie so sehr genossen hatte, an dem sie in der Gemeinschaft mit ihren Geschwistern so tiefe Freude und Zufriedenheit verspürt hatte, fühlte sie sich hier, in ihrem eigenen Zuhause, das sie mit ihrer Familie teilte, so allein wie wohl noch niemals zuvor. Und wie so oft in den vergangenen Wochen war es ihr plötzlich, als läge in ihrer Brust kein lebendiges Ding, das Leben durch ihren Körper fließen ließ, sondern ein schwerer, toter Stein. Sie hörte sich selbst seufzen. Muss ich so fühlen?, dachte sie und löste den festen Griff vom Becher, legte die Hände übereinander auf den Tisch. Sind meine Gedanken und Gefühle stärker als mein Wollen? Nein. Ab sofort entscheide ich selbst, an wen und an was ich denke.

Entschlossen stand sie auf und ging ins Schlafzimmer. Aus Leanders Ecke hinter seinem Vorhang hörte sie ihn atmen. Sie legte sich neben Nikos und betrachtete ihren schlafenden Mann; seine Züge, die heute einmal nicht so hart schienen wie an so vielen Abenden, seit er die Anteile an der Ziegelei übernommen hatte. Wie auch immer, gerade jetzt schien er sorgenfrei zu schlafen, und sein Gesicht sah aus wie das des Mannes, in den sie sich im ersten Jahr ihrer Ehe verliebt hatte. Anscheinend hatte er einen schönen Tag hinter sich. Ob er genauso schön gewesen wäre, wenn sie mitgekommen wäre? Sie schüttelte den Gedanken ab und legte sanft den Arm um ihn. Brauen und Nase zuckten kurz, aber die Augen blieben geschlossen. Im Stillen dankte sie Iesoús für das Glück, mit einem Mann verheiratet zu sein, den sie liebte und begehrte. Und der ihr seit ihrem allerersten Ehejahr schon so oft gezeigt hatte, dass auch er sie … nun, jedenfalls mochte und respektierte. Zwei Handwerkerfamilien hatten sich durch die Heirat ihrer Kinder zusammengeschlossen. Kynthia erinnerte sich noch gut daran, dass sie genauso große Angst gehabt hatte vor dem Zusammenleben mit dem ihr kaum bekannten Mann wie wohl die meisten jungen Frauen. Und von allen jungen Frauen, die sie kannte, war sie die Einzige gewesen, der ihr Mann erlaubt hatte, in seinem Geschäft mitzuarbeiten. Natürlich hatte auch ihr Vater dafür gesorgt, dass das möglich war, nachdem sie von seinen beiden einzigen am Leben gebliebenen Kindern allein körperlich zum Töpfern in der Lage war. Und die Mutter war kränklich, so lange Kynthia denken konnte. Hoffnung auf weitere Söhne gab es also wohl nicht. Nach Phaistos‘ Sturz vom Baum mit vier Jahren war es undenkbar, dass er mit seinem steifen Arm jemals das Handwerk seines Vaters würde verrichten können. Also hatte der Vater Phaistos zu einem befreundeten Keramikmaler in die Lehre geschickt, als es an der Zeit war, und seiner Tochter das Töpferhandwerk beigebracht. Dass sie sich als recht begabt erweisen würde, hätte er sich vielleicht gar nicht träumen lassen. Ob Nikos‘ Familie Kynthia deswegen für ihn erwählt hatte? Weil sie sich eine fleißige und fähige Frau für ihn wünschten, die etwas von seiner Arbeit verstand? Möglich war es. Aber ob ER sie sich deswegen ausgesucht hätte? Oder wäre ihm eine der hübscheren Töpferstöchter vielleicht doch lieber gewesen? Nikos seufzte im Schlaf, als hätte er ihre stille Frage gehört. Noch einmal küsste sie ihn sanft auf die Schulter und lächelte. Mit dem Duft seiner Haare in der Nase, schloss sie die Augen wieder und dachte beim Einschlafen: Ob er sie nun von Anfang an begehrt hatte oder nicht: Sie hatte sich gefreut auf ihren Bräutigam und seit der allerersten Liebesnacht mit ihm nicht eine einzige als unangenehm empfunden. Nicht wenige waren sogar sehr schön gewesen. Nikos war ein wunderbarer Mann, und sollte sich jemals irgendjemand zwischen sie stellen, würde sie ihn gewiss nicht kampflos aufgeben.

10 Im alten Rom der gewesene Konsul; er wurde nach Ablauf seiner einjährigen Amtszeit oft Statthalter einer römischen Provinz.

11 Evangelium

Die Korinther

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