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Hoffnung und Zweifel

Nicole

Eine weitere schlimme Nacht liegt hinter mir. Die Sonne lugt zaghaft durch dicke, schwere Wolken hindurch. Die Übelkeit und Panikwellen haben etwas nachgelassen. Tee und der Zwieback sind im Magen geblieben. Chris und ich haben einen kleinen Vorrat eingekauft, damit immer etwas davon da ist.

Der Darm grummelt und krampft zwar noch missmutig vor sich hin, aber immerhin hat mich die Toilette jetzt über eine Stunde nicht mehr gesehen.

Alles tut weh, am schlimmsten Unterleib und Kopf.

Es ist, als würde eine grausame, unsichtbare Kraft an jedem Zentimeter meines Körpers so lange herumzerren, bis ich endlich zerreiße. Als Sahnehäubchen obendrauf treibt mich dieses abartige Brennen in Blase und Becken in den Wahnsinn. Ich kann nicht sitzen. Liegen ist genauso unerträglich. Also rutsche ich von einer Pobacke auf die andere, während ich meinen Kräutertee trinke. Ich stehe immer wieder auf und wandere ziellos durch die Wohnung, als könnte ich den Schmerzen und unangenehmen Bildern von früheren Erinnerungen entkommen, die auf mich einströmen wie ein Blitzlichtgewitter.

Den Traum vom eigenen Hund, träume ich schon seit Kindertagen. Schon immer wünschte ich mir einen treuen Begleiter, der an meiner Seite ist, dem ich vertrauen kann, der mich aufrichtig liebt, ohne Bedingungen und Forderungen zu stellen. Dem ich das auch glauben kann. Gibt es so etwas?

Ein Hund, der mir all das schenkt und mir dazu noch hilft, die Hürden meines Lebens zu überwinden?

Darf ich mir das wünschen?

Im Moment ist das Ganze so unrealistisch wie Weihnachten im Juli.

Die Angst, dass ich wieder einer Wunschvorstellung hinterherjage, die niemals in Erfüllung gehen kann, verdunkelt jeden kleinen Funken Hoffnung. Zu oft bin ich bei meinen Versuchen gescheitert, etwas zum Besseren zu verändern.

Will ich zu viel? Ich möchte doch nur ein normales Leben führen. Darf ich das erwarten? Habe ich die Kraft, gegen noch mehr hartnäckige Windmühlen zu kämpfen? Steht mir solch ein Hund überhaupt zu? Wie finanziere ich das Ganze auf lange Sicht? Stiftungen und Fonds sind nicht auf Dauer dafür da und die Krankenkasse übernimmt erst gar keine Kosten. Gesetzlich sind sie nur für die Finanzierung von Blindenführhunden verpflichtet und selbst das müssen sich die meisten hart erkämpfen, da der ›Medizinische Dienst der Krankenversicherungen‹ oft der Meinung ist, ein Blindenstock hätte denselben Nutzen.

Hoffnung und Verzweiflung spielen Tauziehen in meinem Kopf.

»Das klappt eh nicht. Wird bestimmt genauso abgelehnt wie alles andere«, sagt meine innere Stimme, der ich mit jedem Tag mehr Glauben schenke. Aber immer, wenn ich im Internet auf Beiträge über Assistenzhunde stoße und sehe, wie sie Menschen mit PTBS helfen, kommen mir die Tränen. Dann flammt die Hoffnung neu auf, dass mir ein Hund den Alltag auf diese Weise erleichtern könnte. Aber bin ich den Belastungen, die durch Haltung und Ausbildung dieses Hundes neu hinzukommen, gewachsen?

Vom ganzen im Kreis drehen wird mir schwindelig. Ich fühle mich unsagbar müde.

Wie soll das werden, wenn ich mich zusätzlich noch um einen Hund kümmern muss? Ich bin doch null belastbar. Solche Tage wie heute sind die Regel bei mir. Was mache ich dann mit dem Hund?

Wer geht Gassi? Wer sorgt für Auslastung und Beschäftigung, wenn ich nicht vom Klo komme oder mich vor Schmerzen kaum bewegen kann? Chris hat mir zwar Hilfe versprochen, aber er ist durch seine Vollzeitstelle als Fahrer die meiste Zeit des Tages gar nicht zu Hause.

»Mach dir nicht immer so einen Kopf. Das kriegen wir schon hin«, hat er gesagt. Er sieht das alles nicht so eng und ist der Meinung, dass ich generell zu viel und zu oft zweifle.

Das stimmt zwar, aber es geht hier nicht um die Anschaffung eines neuen Computers. Es geht um ein Lebewesen. Das tauscht man nicht mal eben wieder um oder gibt es zurück, wenn es dann doch nicht funktioniert. Nein. Das Ganze muss schon vorher gut durchdacht sein.

Was ist, wenn ich wieder ins Krankenhaus muss oder von jetzt auf gleich zur Krisenintervention in eine Klinik?

Wer versorgt dann den Hund? Chris kann ihn nicht mit auf die Arbeit nehmen und einen Welpen acht bis zehn Stunden zu Hause allein lassen geht auf keinen Fall.

Ein gutes soziales Netzwerk zur Unterstützung wäre hier mehr als sinnvoll, aber wo soll ich das jetzt auf die Schnelle hernehmen? Ich habe nur Chris. Er und die Katzen sind meine Familie.

Die Online-Kontakte auf den Social-Media- Plattformen können mich mit dem Hund zu Hause nicht unterstützen und die paar Freunde, die ich habe, wohnen entweder zu weit weg oder kämpfen selbst mit ihrem Alltag.

Sabrina, die Hunde-Trainerin, zu der ich Kontakt aufgenommen habe, hat mich versucht zu beruhigen. »Ich bin auf jeden Fall für dich da und helfe dir, wo ich kann. Das packen wir zusammen schon. Die vielen Zweifel sind völlig normal. Das legt sich, glaub mir«, hat sie im letzten Telefonat zu mir gesagt. Das liegt jetzt schon Wochen zurück und ich erreiche sie nicht mehr. Das ist ein Problem und gibt mir ein mulmiges Gefühl.

Als ich den Kostenvoranschlag für den Antrag beim Fonds von ihr gebraucht habe, musste ich ihr auch ewig hinterhertelefonieren. Sie hat tagelang nicht reagiert, weder auf Anrufe noch auf Mails. Kein gutes Zeichen. Aber, wenn ich sie endlich einmal an der Strippe habe, dann ist sie immer nett und einfühlsam. Ich habe das Gefühl, dass sie mich und meine Probleme versteht.

Noch dazu gibt es kaum Hundetrainer, die auf die Ausbildung von Assistenzhunden spezialisiert sind. Erst recht nicht bei einer komplexen PTBS, unter der ich leide.

Es ist nicht leicht, einen guten Trainer zu finden. Teuer sind sie aber alle. Fast 10.000 Euro sollen die Stunden bei Sabrina insgesamt kosten, bis Lotta ein fertig geprüfter Assistenzhund ist. Dafür reicht das Geld vom Fonds gerade so aus. Nur für die Ausbildung. Alles andere muss ich anders finanzieren. Aber wie?

Die vielen Unsicherheiten und Zweifel treiben mich in den Wahnsinn und schieben mich eher in die entgegengesetzte Richtung: Ich sollte mir besser keinen Hund anschaffen.

Wenn überhaupt, dann wäre es besser, er würde in einer Patenfamilie großgezogen werden und dort die Ausbildung erhalten, wie es zum Beispiel in den USA Usus ist.

Überall lese und höre ich, wie anstrengend die Welpenzeit ist und egal wie ich es drehe und wende, ich bin nicht belastbar.

Ich sehe mich schon heulend allein mit dem Hund hier sitzen, einem Nervenzusammenbruch nahe und völlig überfordert, während das arme Fellbündel völlig verunsichert um mich herumspringt.

Was, wenn ich es mit dem Hund nachher doch nicht raus vor die Tür schaffe? Wenn ich dem kleinen Würmchen nicht das bieten kann, was er oder sie braucht? Was, wenn ich als hundeunerfahrene, blutige Anfängerin Fehler mache und dem Hund schade?

Was, wenn der die Prüfung nachher dann gar nicht schafft oder nicht mehr geeignet dafür ist?

Was, wenn ich heillos überfordert bin und den Hund zurückgeben muss? Eine Horrorvorstellung.

Also den Hund doch lieber in die Fremdausbildung oder bei einer Patenfamilie aufwachsen lassen?

Nein, wenn ich es mir recht überlege, will ich meinen Hund gar nicht in eine fremde Familie oder in so ein Drill-Institut geben. Der gehört an meine Seite, von Anfang an. Wie soll er sich denn sonst auf mich und meine ganzen Baustellen einstellen?

Wie soll ich mich an den Alltag mit Hund gewöhnen, wenn der gar nicht bei mir ist?

Mal abgesehen davon, dass ich es mir gar nicht leisten könnte, den Hund fremdausbilden zu lassen. Das würde nochmal mindestens das Dreifache kosten als die Selbstausbildung mit Trainerunterstützung. Woher soll ich die mindestens 30.000 Euro dafür nehmen? Und will ich das überhaupt?

Nein, ich will meinen Hund vom ersten Tag an begleiten und an meiner Seite wissen. Ich möchte keinen Tag mit ihm verpassen und er soll sich auf mich einstellen können. Oder besser gesagt: Wir wollen uns aufeinander eingrooven.

Ja, das wäre der Optimalfall, aber bin ich dem Ganzen gewachsen?

Das Vorhaben kann ich ohnehin abhaken, wenn mein Antrag beim Fonds abgelehnt wird.

Ich habe nicht einmal das Geld für die Anschaffung, geschweige denn für die Ausbildung, die mehr kostet als ein neues Auto.

By the way – ich hoffe, mein alter Toyota hält durch.

Wie blöd bin ich eigentlich? Ich bin doch finanziell schon mit dem Unterhalt und der Pflege meiner Katzen heillos überfordert. Ist noch gar nicht lange her, da hat mich die Nabelbruch-OP meines blinden, kleinen Katzen-Neuzugangs Stevie über 500 Euro gekostet. Also mehr als das Doppelte an Geld, das mir monatlich zur Verfügung steht, um Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs zu bezahlen. Stevie hätte ich streng genommen erst gar nicht aufnehmen dürfen.

Ich war und bin unvernünftig, was Tiere – vor allem Katzen – angeht, und verzichte für sie auf vieles.

Das, was sie mir schenken, ist unbezahlbar.

Neben unbeschwerten, glücklichen Momenten lassen sie mich durchhalten, geben mir eine Aufgabe und vor allem Liebe, die ich von Menschen nicht zulassen könnte. Tiere lieben bedingungslos.

Bei Menschen frage ich mich immer, was dahintersteckt, was sie im Gegenzug dafür erwarten. Und die meisten erwarten nach meinen Erfahrungen immer etwas im Gegenzug. In solchen Dingen bin ich ein Totalversager. Freundschaften zu knüpfen und zu halten ist etwas, das ich letztlich fast immer vergeige.

Ich bin gut darin, Leute zu vergraulen. Wo kein Vertrauen ist, kann leider keine Freundschaft wachsen, egal wie sehr ich mir die wünsche.

Ohne meine Katzen wäre ich heute nicht mehr hier.

In den Momenten, in denen ich verzweifle und das Gefühl habe, keine Sekunde länger durchzuhalten, sind sie wichtig.

Wenn ich nicht mehr will und nicht mehr kann und überlege, wie ich es am besten anstelle, mein Leben zu beenden, ist der erste Gedanke, der mir in den Kopf schießt: »Was wird aus meinen Katzen?«

Das reicht, um den lebensmüden Mist bleiben zu lassen, und ich mache weiter – mit dem stärkenden Schnurren und Liebesbekundungen meiner Fellnasen im Ohr.

Nun ist aber so ein Hund um einiges teurer als eine Katze.

Ich will ja keinen Handtaschenhund. Ich brauche einen Hund, der mir Sicherheit gibt, mich im Notfall beschützt und verteidigt.

Am besten direkt einen Dobermann oder einen Rottweiler, aber an diese Rassen traue ich mich als Hunde-Anfänger nicht ran.

Es soll daher, wenn überhaupt, ein Labrador werden.

Ein Labrador-Retriever ist anfängerfreundlich, gutmütig und leicht zu trainieren, habe ich gelesen.

Für Unterhalt und Futter nehmen wir also zum Vergleich den Labrador. Der wiegt locker das Zehnfache einer Katze und frisst entsprechend mehr. Beim Tierarzt fallen auch schnell mal ein paar Hunderter, im schlimmsten Fall sogar Tausender an, die genauso bezahlt werden müssen wie das teure Futter. Ganz zu schweigen von den Mehrkosten, wenn der Hund aus gesundheitlichen Gründen einmal Spezialfutter oder Medikamente benötigt. Und nicht zu vergessen die Hundesteuer. Alles zusammen sprengt meinen winzigen finanziellen Rahmen gewaltig.

Mache ich mir zu viele Sorgen oder bin ich einfach nur dumm und hoffe auf ein Wunder? Auf jeden Fall kommt nichts einfach so auf einen zugeflogen, erst recht kein Geld.

Und was ist mit meinem Alltag, den ein Hund auf den Kopf stellen wird? Auf der einen Seite soll genau der anders werden, aber kann ich das zulassen? Wenn mich an manchen Tagen bereits das unerwartete Klingeln des Telefons in Panik versetzt?

Veränderung ist harte Arbeit und bedeutet oft Rückschläge. Sie sind ein ständiges Tauziehen zwischen Angst und Hoffnung.

Allein der Gedanke an Veränderung und daran, dass etwas an meinem Alltag anders laufen könnte, löst unangenehme Gefühle bei mir aus. Dabei wünsche ich mir doch, dass mein Leben anders verläuft. Ich will raus aus meinem Gefängnis. Warum bereitet mir das Ganze denn eine solch große Angst? Das ist doch paradox.

Lotta und ich

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