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Hintergrund zum Buch
Wenn das Leben zum Kampf wird, gehst du entweder unter, oder du lernst aufzustehen – immer und immer wieder.
Ich sehe mich lieber als eine Überlebende. Die Bezeichnung Opfer mag ich nicht, denn sie bedeutet Hilflosigkeit, und die zieht sich wie ein roter Faden durch mein bisheriges Leben oder eher wie ein viel zu dunkler Schatten, den ich einfach nicht abschütteln kann.
Niemals wieder will ich mich hilflos und ausgeliefert fühlen. Und doch bin ich täglich damit konfrontiert. Unverständnis, blöde Kommentare, Ablehnung und Kopfschütteln von außen gibt es gratis dazu. Sogar von Ärzten und Psychologen, für die Einfühlungsvermögen immer mehr zum Fremdwort wird. Ein Arzt sagte einmal zu mir: ›Sie können sich nicht ständig in der sozialen Hängematte ausruhen‹. Ein speziell für Traumatherapie ausgebildeter Psychotherapeut schmetterte mir ein ›Sie sind anstrengend‹ an den Kopf. Das war dann unsere letzte Sitzung und meine Suche ging von vorne los. Das Vertrauen in die Medizin, die Psychotherapie und nicht zuletzt in mich selbst bröckelte mehr und mehr, während ich Sprüche à la ›Stellen Sie sich nicht so an‹ und ›Da müssen Sie einfach jetzt durch, ist noch keiner dran gestorben‹ sammelte, anstatt professionelle Hilfe zu erhalten. Das Leid, das keiner sieht und das oft niemand sehen will, ist nicht weniger schlimm, nur weil es den Menschen nicht direkt ins Auge springt wie ein gebrochener Arm oder eine körperliche Behinderung.
Gut ausgebildete therapeutische Hilfe zu finden ist verdammt schwer und die Wartelisten dieser Raritäten sind lang. Ein bis zwei Jahre auf Hilfe zu warten, die keinen Aufschub duldet, wenn es um Leib und Leben geht, ist leider bittere Realität.
Der mühselige Kampf mit den Behörden raubt einem nebenbei die letzten Kraftreserven. Unzählige Male war ich kurz davor, frustriert aufzugeben. Immer wieder habe ich mein Krönchen gerichtet, mich aufgerappelt und dabei viel zu oft die Schuld bei mir gesucht: Ich bin zu schwierig, zu unnormal. Mir ist nicht mehr zu helfen. Ich passe nirgends rein. Genau diese Gedanken führen in einen Abgrund, aus dem Betroffene nur schwer wieder herauskommen. Zum Glück habe ich die Hoffnung nie aufgegeben. Die Stimme tief in mir wird niemals müde mir zuzurufen, dass es irgendwo genau die Hilfe gibt, die ich brauche; nur da unten, im Abgrund, finde ich sie mit Sicherheit nicht.
Wie sieht es auf der anderen Seite aus? Was ist, wenn nicht nur die Seele krankt, sondern auch der Körper? Wer sieht genau hin? Wo finde ich Heilung, wenn ich den Psycho-Stempel habe oder besser gesagt, aufgedrückt bekomme? Dabei geht es doch darum, endlich einmal verstanden und GESEHEN zu werden. Stattdessen werde ich von einer Schublade in die nächste geschubst. Das Nicht-Ernstgenommen- Werden bleibt, so dass sich eine Erkrankung namens Endometriose jahrelang in meinem Körper unerkannt ausbreiten konnte. Diese gemeine, chronische und nicht heilbare Erkrankung hätte bei Weitem nicht so viel Schaden an meinen inneren Organen angerichtet, wäre sie früher erkannt worden. Leider sind meine Beschwerden über sechs Jahre lang in die Schublade ›das ist nur psychosomatisch‹ gewandert und auf sture, oft taube Ohren gestoßen. Für die Götter in Weiß war es naheliegender, dass die Unterleibsbeschwerden und die weiteren unangenehmen Symptome nichts Organisches sind. Nein, nicht bei der Trauma-Geschichte in meiner Akte, auf der groß und breit der ›Psycho-Stempel‹ prangt. Ist doch klar, dass das alles vom Trauma kommt. Wozu genauer untersuchen? Flehen, betteln und versichern, dass dies jetzt aber andere Beschwerden sind, half nichts. Und so putzte ich die Klinken unzähliger Arztpraxen und Krankenhäuser. Die meisten haben mich mit Augenrollen als Simulantin abgewimmelt, bis ein Spezialist nachgegeben und mir geglaubt hat, dass das, woran ich litt, nicht normal war. Endlich! Leider hatte zu diesem Zeitpunkt die Endometriose schon Organe zerstört. Meine Gebärmutter war nicht mehr zu retten, die Eierstöcke verklebt. Mein Bauchfell war komplett vernarbt und musste raus. Im Gegensatz zu meinem Uterus wächst das aber glücklicherweise nach. Nur ein Kind wird niemals mehr in mir wachsen, ob ich das will oder nicht. Wenigstens wusste ich nach den ganzen Jahren endlich, was mich mit diesen abartigen Schmerzen peinigte.
Die ganze Odyssee mit zahlreichen schmerzhaften Untersuchungen und Operationen hat jedoch Spuren hinterlassen.
›Re-Traumatisierung‹ nennen es die Fachleute. Der Krater meiner alten Wunden von den traumatischen Kindheitserlebnissen wurde nicht nur wieder aufgerissen, sondern mit Benzin übergossen und angezündet. Und auf einmal ist heute selbst simples Blutabnehmen für mich ein Höllentrip. Mein Bewusstsein macht, was es will. Entweder spaltet es sich komplett ab oder es schaltet in den Kleinkindmodus. Ich kann nichts mehr steuern und breche von jetzt auf gleich schreiend in Tränen aus.
Kurz gesagt: Fast zwanzig Jahre Therapie und harte Aufarbeitung, die mir bis dahin einen einigermaßen stabilen Alltag ermöglicht hatten, sind wie weggewischt und meine Trauma-bedingten Symptome schlimmer denn je.
Hier sitze ich, fühle mich immer noch oft wie ein hoffnungsloser Fall und on top steht die Diagnose Endometriose. Bis heute gibt es kein Heilmittel. Also heißt es, damit leben zu lernen, irgendwie. Die Krankheit ist weit verbreitet, aber man sieht sie den Betroffenen äußerlich meist genauso wenig an wie psychische Leiden. Das bringt uns wieder an den Ausgangspunkt zurück und zu der Frage:
»Wozu braucht denn eine äußerlich kerngesunde junge Frau einen Assistenzhund und was ist das überhaupt?«
Oft stoße ich im Alltag auf Unverständnis und beinahe unüberwindbare Hürden. Ob in Supermarkt oder Arztpraxis. Sprüche wie den Folgenden höre ich leider immer wieder: »Stopp mal! Hier dürfen Hunde nicht rein! Können Sie denn nicht lesen? Was denken Sie sich denn eigentlich dabei?«
Ja, was denke ich mir eigentlich? Immer brauche ich eine Extrawurst. Wer bin ich, dass ich mir sowas herausnehme? Ich bin die, die dafür kämpft, ein einigermaßen selbstständiges und vor allem selbstbestimmtes Leben zu führen, ohne mich ständig dafür erklären und rechtfertigen zu müssen. Ich habe es satt, an meine Wohnung gefesselt zu sein. Auch ich möchte und muss einmal raus vor die Tür. Zumindest will ich es versuchen können, und zwar jeden Tag aufs Neue. Muss ich meine Hilflosigkeit für jedermann nach außen hin sichtbar machen? Muss ich dafür mehrmals täglich fremden Menschen auf die Nase binden, dass ich für die ganz alltäglichen Dinge Hilfe benötige, weil ich das allein nicht schaffe? Muss ich jedem erklären, dass es eben nicht dasselbe ist, wenn mir fremde Menschen helfen, anstatt ein speziell dafür ausgebildeter Hund, den ich kenne und dem ich vertraue, wenn ich mal wieder die Orientierung verliere oder eine Panikattacke bekomme?
NEIN! Muss ich nicht, kann ich nicht und will ich nicht.
Mehr Aufklärung ist wichtig. Ich möchte Mut machen, damit sich mehr Menschen trauen, aus ihren Gefängnissen auszubrechen und ins Leben zu springen. Dafür sollte sich niemand rechtfertigen müssen. Erst recht nicht für die Hilfsmittel, die dafür nötig sind, damit ein Mensch den Sprung wagen kann.
Das ist einer der Hauptgründe, weshalb ich dieses Buch schreibe, und ich finde es super, dass ihr Interesse an der Thematik habt und wissen wollt, was alles so dahintersteckt.
Ich hoffe, dass ich euch einen guten Einblick verschaffen kann.
Ich weiß noch, wie viele Fragen und Zweifel ich zu Beginn hatte. Viele davon habe ich mich kaum getraut zu stellen.
Meine Unsicherheit war grenzenlos und wurde immer stärker, je mehr ich gegoogelt und nach Antworten gesucht habe.
Ich möchte hier vermitteln, was es bedeutet, einen Assistenzhund zu haben – mit allen Konsequenzen, allen Vor- und Nachteilen.
Ich möchte aufklären, wie wichtig Verständnis und Unterstützung für Betroffene sind.
Lotta und ich erzählen euch von den Stolpersteinen und Herausforderungen, die sich aufgetan haben und die wir tagtäglich überwinden. Wir erzählen auch von den Dingen, die wir besser mal vorher gewusst hätten, damit uns eine Menge Ärger und Leid erspart geblieben wäre.
Eine besondere Stellung in diesem Buch hat der Hund, dieses treue Wesen, das in der Lage ist, so viel für den Menschen zu tun und zu verändern.
Mir ist es ein großes Anliegen, hervorzuheben, dass der Hund kein Roboter ist, kein Mittel zum Zweck, kein Dienstleister, der 24/7 wie einprogrammiert funktioniert und ansonsten ausgetauscht wird. Der Hund ist weder Rollstuhl noch Krücke. Er ist ein fühlendes Wesen, das an der Seite seines Menschen im Stande ist, Wunder zu vollbringen.
Mit diesem Buch möchte ich für Interessierte und Betroffene etwas mehr Klarheit und Verständnis in Assistenzhund-Mythen bringen, wobei die Betroffenen mir aus persönlichen Gründen besonders am Herzen liegen, müssen sie doch viel zu oft für Verständnis und Hilfe kämpfen und diese suchen wie den Heiligen Gral.
In diesem Sinne wünsche ich euch viel Freude beim Lesen und hoffe, dass ihr nicht nur Antworten auf offene Fragen, sondern auch Mut, Kraft und Hoffnung im Buch findet.
Nicole Kunkel – Koblenz, im Juli 2021