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3.

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Die nächsten vier Wochen, die Jana aufgrund ihrer Verletzungen im Krankenhaus verbringen musste, waren das Reinste auf und ab ihrer Gefühle. Immer genau dann, wenn sie dachte, den Tod ihrer Familie verkraften und überwinden zu können, brach sie in Tränen aus, verkroch sich stundenlang unter ihrer Bettdecke und verweigerte sogar die Mahlzeiten. Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz; sie kannte die fünf Phasen der Trauer aus dem Unterricht, doch wusste sie nicht, in welcher sie sich befand, da sie sich stets abwechselten, oder wie sie jemals akzeptieren sollte, allein zu sein. Herrn Hongo sah sie nur noch selten, da er viele Wege zu erledigen hatte.

Bevor ihr neues Leben dann schließlich beginnen sollte – noch hörte sich das alles recht befremdlich an –, musste sie zu einer alles abschließenden Untersuchung, bei der sie dem Arzt zum gefühlten hundertsten Mal versprechen musste, sich auch weiterhin zu schonen. Immerhin war die Fraktur ihres Beines noch nicht verheilt, sodass sie noch geschlagene drei Wochen mit diesem Gips ausharren musste.

Beim Packen ihrer wenigen Habseligkeiten fiel ihr Blick auf den Kalender, der neben dem Fenster hing. Da wurde ihr bewusst, dass sich vor genau einem Monat ihr ganzes Leben verändert hatte. Traurig setzte sie sich auf ihr Bett und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, der Schmerz war noch immer zu groß.

Erst als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, bemerkte sie Herrn Hongo, der gekommen war, um sie abzuholen.

»Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es in dir aussieht, aber glaube mir, irgendwann wird es leichter. Jetzt sollten wir aber auch langsam aufbrechen! Sonst kommen wir zu spät.«

Da Jana noch nicht viel Übung im Umgang mit den Krücken hatte, kamen sie nur langsam voran. Den ganzen Weg über schwiegen sie. Erst in dem Moment, als sich der Wagen in Bewegung setzte und das Krankenhaus immer kleiner wurde, brach sie ihr Schweigen: »Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin für das alles.«

»Du musst nur an dich glauben, dann kannst du alles erreichen, was du willst!«

»Aber ich war nicht mal auf der Beerdigung, nicht einmal an ihren Gräbern, ich fühle mich nicht einmal dazu in der Lage. Besonders stark klingt das nicht.«

»Kopf hoch! Das wird schon!«

Obwohl sie wusste, dass er ihr nur Mut machen wollte, half alles nichts, die Angst vor dem Neuen blieb. Außerdem gab es da noch eine Frage, die dem Mädchen auf der Seele brannte und auf die sie unbedingt eine Antwort brauchte, doch sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie ihren neuen Direktor darauf ansprechen sollte und so schwieg sie lieber.


Schweigend vergingen auch die nächsten Stunden, in denen Jana einfach nur aus dem Fenster sah – die Fahrt wollte und wollte kein Ende nehmen. Die Grenze zu Schleswig–Holstein hatten sie gerade hinter sich gelassen, als sie schließlich das Schweigen brach: »Darf ich Sie noch etwas fragen?«

»Klar doch, raus mit der Sprache! Was liegt dir auf dem Herzen?«

»Im Krankenhaus meinten Sie, dass Sie meine Eltern von früher her kannten. Wissen Sie noch? Ist das wahr?«

»Oh ja. Ich habe deine Eltern, oder besser gesagt deine Mutter, damals während meiner Schulzeit kennengelernt. Sie war schon zu jener Zeit eine bildschöne Frau. Sie hat mich dann auch etwas später Thomas, deinem Vater, vorgestellt. Kurze Zeit darauf ist unser Kontakt allerdings durch eine andere, nicht so schöne Geschichte abgebrochen und ich habe sie seitdem nicht wiedergesehen.«

»Aber warum wollten sie dann, dass Sie sich um mich kümmern, wenn Sie seit Jahren keinen Kontakt mehr zu Ihnen hatten?«

Er schwieg einen Moment, bevor er sagte: »Da sie sowieso vorgehabt haben, dich zu mir auf meine Schule zu schicken, war das wohl die einzige logische Konsequenz. Wann sie allerdings diesen Entschluss gefasst haben, kann ich dir nicht sagen.«

»Vielen Dank!«

»Aber für was denn?«

»Na dafür, dass Sie für mich da waren und mir geholfen haben.«

Herr Hongo wirkte sprachlos, fast etwas verlegen. Zu seinem Glück kamen sie ihrem Ziel näher, sodass er das Thema wechseln konnte: »Siehst du den Wald da vorne? Da hinter liegt Neustadt, dein neues Zuhause. Du wirst sehen, dir wird es dort gefallen.«

Genau in diesem Augenblick fuhren sie in das Tal und konnten von oben herab auf das kleine Städtchen blicken, das ringsherum von Bergen umgeben war. Die untergehende Sonne tauchte alles in ein wunderschönes Abendrot, das besonders schön von dem großen See – am Rande der Ortschaft – widergespiegelt wurde. Allein diese Aussicht erfüllte Janas Herz mit Freude und Wärme.

»Wenn du genau hinsiehst, kannst du sogar schon unsere Schule sehen! Es ist das große Gebäude oberhalb des Sees«, sagte er, erfreut über ihre Begeisterung.

»Es ist wirklich wunderschön hier.«

»Siehst du! Habe ich dir zu viel versprochen? Richtig Augen wirst du machen, wenn du Neustadt aus der Nähe siehst. Warte es nur ab!«

Je näher sie der kleinen Stadt kamen, umso mehr verstand sie, was er gemeint hatte. Jedes Haus glich dem anderen, alle waren weiß, hatten ein rotes Dach und einen kleinen Vorgarten mit den verschiedensten Blumen. Direkt in der Mitte des Städtchens stand eine riesige Kirche.

»Mann, hier sieht ja alles gleich aus. War das beabsichtigt?«

»Allerdings. Als Neustadt vor ungefähr dreihundertfünfzig Jahren gegründet wurde, hatte der damalige Bürgermeister das so beschlossen, um jegliche Streitigkeiten unter den Bewohnern zu vermeiden. Und soweit ich weiß, hat das bis jetzt auch funktioniert. Außerdem ist es nicht gerade billig, hier in Neustadt zu wohnen.«

»So sieht es hier auch aus, ehrlich gesagt«, antwortete Jana.

»Außerdem gibt es hier drei Sportplätze. Zwei gehören dem Internat, der andere der Gemeinde. Wenn du jetzt geradeaus siehst, kannst du die Schule sehen. Sie musste etwas außerhalb des Ortes gebaut werden, weil wir sonst Schwierigkeiten mit dieser komischen Verordnung bekommen hätten. Allerdings ist dafür die Aussicht von der Schule aus atemberaubend schön. Eine noch schönere findet man nur, wenn man dort oben auf die Klippen steigt, die über der Schule liegen. Ich glaube, zurzeit leben knapp fünftausend Menschen hier in Neustadt – eine richtige Kleinstadt eben. In meiner Schule wohnen immer so um die einhundert Schülerinnen, was dem Durchschnitt eines Internats entspricht. Du musst wissen, dass wir besonders hohe Anforderungen an unsere Schüler haben und nicht jeden aufnehmen. Man muss wirklich schon eine bedeutende Begabung und den nötigen Ehrgeiz haben. So ist jede Klasse, also von der fünften bis zur dreizehnten, auch nur ein einziges Mal vertreten und auch immer nur mit höchstens zwölf Schülerinnen besetzt. Wir bevorzugen kleine Klassen, weil die leichter zu unterrichten sind. Momentan haben wir zwei Eisklassen – wie ich sie gerne nenne –, die mit jeweils neun Läuferinnen besetzt sind und von mir und Herrn Torbens unterrichtet werden, zwei Volleyballteams, eine recht gute und große Fußballmannschaft, ein Lacrosse–Team und eine durchaus starke Klasse für rhythmische Gymnastik. Ach ja, und natürlich unsere Gerätemädels. Damit in der Schule nicht mehr Lehrer herum laufen als Schüler, unterrichten eigentlich die meisten sowohl Sport als auch eines der üblichen Fächer wie Deutsch, Englisch und so weiter. Zudem gehören zu unserem Team, also neben den zehn Lehrkräften, vier Köchinnen, ein Hausmeister und unsere Ärztin.«

Genau in diesem Moment stoppte Herr Hongo den Wagen, da sie die Eingangshalle des Internats erreicht hatten. Vorsichtig stieg Jana aus dem Auto und schaute sich erst einmal in Ruhe das riesige fünfstöckige Gebäude an.

»Was du jetzt nicht sehen kannst, ist, dass das Internat in einer U–Form gebaut wurde, durch einen Glasdurchgang im ersten Stock sind die einzelnen Teile miteinander verbunden. Mitsamt dem Keller hat die Schule sechs Stockwerke, was im Vergleich zu anderen Schulen schon relativ groß ist. Ganz unten, also im Keller, sind die Sport– und Eissäle, die Umkleidekabinen und der Schwimmbereich. Um sich leichter zurechtzufinden, sind die Räume mit den Nummern U1 bis U10 gekennzeichnet. Im Erdgeschoss befinden sich die Küche, der Speisesaal, mein Büro, die Lehrerzimmer, eine recht ordentliche Krankenstation und die große Eingangshalle, die du von hier aus auch schon gut sehen kannst. Im ersten Stock findet man die Klassenzimmer, die mit den Nummern K1 bis K12 beschriftet sind. Außerdem befinden sich dort zusätzlich zwei kleine Computerräume, die jeweils fünfzehn Computer besitzen, eine Bibliothek und ein kleines Musikzimmer, das aber noch nicht voll ausgestattet ist. In der zweiten Etage befinden sich jeweils die Wohnungen der Lehrer, sie haben die Nummern L1 bis L12. Und die letzten zwei Stockwerke sind allein für euch Schüler. In der unteren Etage sind dreißig, in der oberen fünfundzwanzig Schlafsäle mit jeweils dazugehörigem Badezimmer, die sich jeweils zwei Mädchen teilen – nummeriert von S1 bis S55. Hast du noch irgendwelche Fragen?«

Mit ihren großen, leuchtend grünen Augen sah sie ihren neuen Lehrer an und meinte schließlich nur: »Gibt es für das Internat auch einen Lageplan, damit ich mich nicht verlaufe?«

»Da brauchst du absolut keine Angst zu haben. Frag einfach jemanden nach dem Weg, wenn du dich nicht zurechtfindest. Und jetzt lass uns reingehen!«

Vorsichtig stieg Jana die große Steintreppe empor. Als sie nach sechs Stufen oben angekommen war, schloss sie ihre Augen und atmete noch einmal tief durch, bevor sie das neue und unbekannte Gebäude betrat. Das war schließlich der erste Schritt in ihr neues Leben.

»Ich bringe dich jetzt erst einmal auf dein Zimmer und dann kannst du dich ein wenig ausruhen, Einverstanden?«, fragte Herr Hongo in entstandene Stille hinein.

Dies war ihr mehr als recht, da sie von dieser langen und anstrengenden Fahrt doch recht müde war.

Während die beiden den Gang zum Fahrstuhl entlang liefen, meinte der Lehrer: »Du hast Glück. Letzte Woche haben die Sommerferien begonnen und fast alle Schülerinnen sind zu Hause bei ihren Eltern. Somit hast du viel Ruhe und kannst dich erst einmal einleben und erholen. Du kannst essen, wann du willst – in der Küche gibt es immer was – und auch ansonsten tun und lassen, was du möchtest.«

»Aber ich dachte, dass in den Sommerferien die Schulen und Internate geschlossen sind.«

»Normalerweise ist das auch der Fall, aber diese Schule wird auch von mehreren Schülerinnen besucht, deren Eltern im Ausland arbeiten und daher nur wenig für ihre Kinder da sein können. Und damit gerade diese Mädchen auch in den Ferien eine Betreuung haben, bleibt das Internat geöffnet. Weihnachten und Ostern bleiben mal mehr und mal weniger hier. Du brauchst absolut keine Angst haben, hier wird immer jemand sein!«

»Und was ist mit den Lehrern?«

»Einige der Lehrer bleiben, andere fahren in den Ferien nach Hause. Aber lass dir das später von deinen Mitschülerinnen erklären! Die wissen darüber mehr als ich. Du wirst schon sehen! Schau, wir sind da!«

Genau im diesem Moment blieb er vor dem Zimmer mit der Aufschrift ›S22‹ stehen und öffnete die Tür.

Im ersten Moment konnte Jana nicht viel von dem Raum sehen, da man von der Tür aus nur auf eine weitere Wand blickte. Auf der linken Seite befand sich die Tür zu dem Badezimmer und auf der rechten eine kleine Sitzecke mit einem Tisch und zwei Stühlen. Man musste um die Wand herumgehen, dann konnte man die beiden Betten und die dazugehörenden Kleiderschränke sehen.

»Und was meinst du? Gefällt dir dein neues Zimmer?«

»Ich hätte es mir niemals so groß vorgestellt. Es ist wirklich schön hier.«

»Es freut mich, dass es dir gefällt. Ruh dich jetzt ein wenig aus! Und wenn du Fragen hast, dann komm ruhig zu mir.«

Danach verließ Herr Hongo das Zimmer und ließ sie allein. So viel Neues prasselte gerade auf sie ein, dass ihr der Kopf schwirrte. Sie war müde und ausgelaugt, zudem drückte der Gips durch die viele Lauferei ganz schön, also setzte sie sich auf ihr neues Bett.

Je länger sie so alleine da saß, desto schlechter und einsamer fühlte sie sich. Sie hatte keine Ahnung, was sie hier alles erwarten würde. Und wieder überkam sie der Gedanke, dass es besser gewesen wäre, wenn auch sie bei dem Unfall ums Leben gekommen wäre – auch wenn sie wusste, dass es falsch war, so etwas auch nur zu denken.


Liebe ist Schicksal

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