Читать книгу Liebe ist Schicksal - Nikki Deed - Страница 6
4.
ОглавлениеDie erste Nacht in ihrem neuen Leben war alles andere als angenehm gewesen. Zuerst hatte sie große Schwierigkeiten gehabt, überhaupt einzuschlafen und dann wurde sie auch noch von Alpträumen geplagt. Doch würde sie sich wohl oder übel an ihr neues Leben gewöhnen müssen. Dazu gehörte auch, sich mit allem vertraut zu machen, sie konnte sich ja wohl kaum die ganze Zeit in ihrem Zimmer verkriechen. Ihr Zimmer – wie sich das anhörte, ganz ungewohnt. Gedankenverloren blickte sie aus dem Fenster, beobachtete die kleinen Wolken, die am Himmelszelt vorbeizogen.
Jetzt hör doch endlich auf damit, hör endlich auf zu heulen. Du bist doch schließlich kein kleines Kind mehr, riss sie sich selbst aus ihrer Traumwelt, wischte sich ein paar Tränen aus den Augen, schnappte sich die Krücken und machte sich auf ihre Entdeckungstour durch die Schule.
Doch das Vorankommen war mühselig – einerseits, weil sie sich in dem Gebäude noch rein gar nicht auskannte und so immer wieder in Sackgassen geriet, und andererseits tat ihr das Bein weh, kaum, dass sie das Erdgeschoss erreicht hatte.
Erschöpft ließ sie sich auf eine der Couchen fallen, die rechts und links der Eingangshalle standen und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Die warmen Sonnenstrahlen, die durch die große Glasfront schienen, umspielten die zarten Züge ihres Gesichtes.
»Was machst du denn hier? Ich dachte, du ruhst dich noch ein wenig aus. Du sollst dich doch noch nicht so sehr anstrengen!« Herr Hongo war mit einem Stapel Akten aus seinem Büro gekommen und wirkte nun sichtlich überrascht, als er sie erblickte.
»Ich musste einfach mal raus, sonst wäre mir die Decke auf den Kopf gefallen.«
»Wenn du magst, kann ich dir die Namen und Zimmernummern der Mädchen geben, die über die Ferien hier im Internat geblieben sind. Wenn ich mich nicht irre, müsste sogar jemand aus deinem Jahrgang hier sein oder zumindest früher als die anderen zurückkommen … ich kann gern noch mal in den Unterlagen nachschauen.«
Auch wenn dieser Vorschlag nur gut gemeint war, es war Jana alles andere als genehm. So gerne sie früher immer Menschen um sich gehabt hatte, noch war es zu früh – sie konnte und wollte niemandem gegenüber Rede und Antwort stehen müssen. Herr Hongo verstand ihre Einwände, auch wenn er es lieber gesehen hätte, wenn sie sich einem anderen gegenüber öffnen und ihre Gefühle zulassen würde.
»Aber vielleicht können Sie mir einen anderen Gefallen tun?«
»Der da wäre?«
»Ich würde gerne wissen, welchen Unterrichtsstoff meine Klasse in den letzten Wochen, oder besser Monaten, durchgenommen hat. Ich möchte nicht hinterher hängen, wenn das neue Schuljahr beginnt. Vor allem auch, weil wir ja hier in einem anderen Bundesland und die Lehrpläne doch bestimmt anders sind.«
»Aber deine Noten waren doch so weit recht in Ordnung. Ich glaube eigentlich nicht, dass du dir das antun musst.«
»BITTE«, flehte sie ihn beinahe an, »ich … ich …«
»Du brauchst die Ablenkung, damit du nicht immer an deine Eltern denken musst. Habe ich recht? Du musst nichts erklären. Ich weiß genau, was in dir vorgeht. Auch ich habe jemanden verloren … Wenn du magst, kannst du morgen früh in meinem Büro vorbeikommen und dir die Unterlagen abholen.«
»Vielen Dank.«
Ein kleines Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, doch entging dem Direktor nicht, wie traurig, ja verzweifelt sie wirklich war.
* * *
Kaum hatte er die kompletten Unterlagen am nächsten Morgen zusammengesucht, stand Jana auch schon vor seiner Bürotür. Immer noch zögernd überreichte er ihr den Ordner, meinte aber im gleichen Moment: »Da hast du dir wirklich sehr viel vorgenommen. Wenn du Hilfe brauchst, weißt du ja, wo du mich findest. Die Bücherei hat rund um die Uhr geöffnet.«
Zurück auf ihrem Zimmer musste auch sie erst einmal schlucken, es war wirklich unglaublich viel Unterrichtsstoff, den sie da durcharbeiten wollte. Okay, einiges hatte sie bereits in ihrer alten Schule durchgenommen, aber auch das wollte sie nicht außen vorlassen, nicht zuletzt, da sie die letzten vier Wochen im Krankenhaus hatte liegen müssen. Für Geschichte, Biologie und Erdkunde brauchte sie bestimmt nicht viel Zeit, die Themen waren übersichtlich, aber bei Mathe, Chemie und Physik – diese Fächer lagen ihr ohnehin nicht so –, wusste sie gar nicht, wo sie ansetzen sollte.
Also fing die Büffelei an. Da außer ihr lediglich drei oder vier Mädchen im Internat geblieben waren, hatte sie genug Ruhe, egal ob sie in der Bibliothek oder im Computerraum saß. An den Tagen, an denen es nicht so übermäßig warm war, saß sie draußen auf einer Bank vor dem Gebäude, im Schatten einer großen Trauerweide, genoss die frische Luft und die Sonnenstrahlen, und war vertieft in ›Die Leiden des jungen Werther‹.
* * *
In der zweiten Augustwoche, am vierzehnten, kam schließlich der Tag, den sie schon so lange herbeigesehnt hatte, denn endlich wurde sie von dem Gips befreit, den sie so sehr hasste. Doch um einen Stützverband und die ausdrückliche Anweisung, das Bein noch mindestens zwei Wochen lang zu schonen, kam sie nicht herum. Und danach würde sie sich noch auf etliche Stunden Physiotherapie einstellen müssen. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass sie noch lange nicht aufs Eis durfte. Und dabei war der Gedanke daran und die Vorfreude darauf, das Einzige, das ihr im Moment die Kraft gab, weiterzumachen.
Enttäuscht machte sie sich, kaum dass sie zurück in der Schule war, wieder an die Arbeit. Wirklich konzentrieren konnte sie sich aber beim besten Willen nicht, die Wörter in dem Buch ergaben heute überhaupt keinen Sinn. Nachdem mehr als eine Stunde vergangen war, ohne dass sie auch nur eine Seite gelesen hatte, sich jetzt auch noch der Himmel zuzog und es urplötzlich anfing zu regnen, beschloss sie, es für heute einfach sein zu lassen. Mit dem Buch unterm Arm und den Krücken in der Hand, humpelte sie schnell Richtung Eingangstür – nur noch drei Stufen lagen vor ihr, gleich war sie im Trockenen. Doch dann passierte es; sie rutschte auf der, durch den Regen glitschigen Stufe aus und verlor den Halt.
Und dabei ist der Gips gerade erst ab, dachte sie noch verzweifelt und schloss die Augen.
Alles geschah wie in Zeitlupe, doch ehe sie die Treppe hinabstürzen konnte, wurde sie von jemandem aufgefangen.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
Zögernd öffnete sie die Augen und blickte in die wunderschönsten und bezauberndsten blauen Augen, die sie in ihrem Leben je gesehen hatte. Kalte und warme Schauer liefen ihr gleichzeitig den Rücken hinunter, ihr Herzschlag beschleunigte sich und die winzig kleinen Härchen in ihrem Nacken und auf den Armen schienen Kilometer hoch zu Berge zu stehen, doch konnte sie ihren Blick nicht abwenden, brachte nicht mal ein Wort hervor; ihre Kehle schien wie zugeschnürt.
Diese blauen Augen gehörten zu einem umwerfend gutaussehenden jungen Mann mit kurzen dunklen Haaren, den Jana auf Mitte zwanzig schätzte. Sowohl sein Sakko als auch sein weißes Hemd waren durch den Regen ganz durchnässt und schmiegten sich wie eine zweite Haut auf seinen gut durchtrainierten Körper.
»Du musst wirklich etwas vorsichtiger sein! Es hätte ja sonst was passieren können«, meinte dieser junge Mann mit einem Lächeln, während er ihr Buch und Krücken zurückgab, welche zu Boden gefallen waren. »Jetzt aber schnell rein, bevor uns der Regen noch wegspült.«
Kaum hatten die beiden die Türschwelle übertreten, verabschiedete er sich und verschwand hinter der nächsten Biegung, bevor Jana sich auch nur bei ihm bedanken konnte. Oh mein Gott, ist der süß, und ich bin einfach nur dämlich, dachte sie, während sie noch immer wie angewurzelt dastand und ihm nachschaute.
Erst Minuten später kam sie wieder zur Besinnung und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer, doch egal was sie auch in den nächsten Tagen versuchte, sie konnte diese blauen, diese wundervollen blauen Augen einfach nicht mehr aus ihrem Kopf bekommen.
* * *
Im Laufe der nächsten beiden Wochen kehrten mehr und mehr Schülerinnen ins Internat zurück, zunehmend wurde es lauter und hektischer. Das letzte Wochenende vor dem Schuljahresbeginn zum ersten September, nutzten viele, um ausgelassen durch die Natur und das Städtchen zu spazieren. Jana, die einfach noch keinen Kontakt zu anderen wollte, verkroch sich die meiste Zeit in ihrem Zimmer. Mittlerweile konnte sie die verhassten Krücken beiseite lassen, doch zu ihrem großen Kummer durfte sie noch immer nicht aufs Eis, da es angeblich zu gefährlich sei. Wehmütig stand sie also nur am Eis, betrachtete die glitzernde Oberfläche und dachte, mal wieder, an ihre Vergangenheit. War es denn zu viel verlangt, einfach wieder glücklich zu sein?
So in Gedanken vertieft, bemerkte sie gar nicht, dass mittlerweile zwei weitere Mädchen die große Halle betreten hatten und sie aus der Entfernung anstarrten. Doch die Akustik in der Halle war wirklich erstaunlich. Als die beiden anfingen zu tuscheln, wurde sich Jana ihrer Gegenwart gewahr.
»Die kenn ich doch«, hörte sie die eine sagen. »Die hat doch bei der NRW–Juniorenmeisterschaft den dritten Platz belegt.«
»Ach was, red doch keinen Stuss!«
»Nein, wirklich, schau sie dir doch an! Das ist sie bestimmt! Aber was will die hier?«
Jana wollte sich nicht länger anstarren lassen und lief peinlich berührt davon.
Dann war es schließlich so weit, das Wochenende und somit auch die Sommerferien waren vorbei und das neue Schuljahr sollte beginnen. Ein weiterer Schritt in ihrem neuen Leben. Bereits um sechs Uhr morgens war Jana auf den Beinen, die halbe Nacht über hatte sie kein Auge zumachen können vor lauter Aufregung, und auch jetzt fühlte sie sich nicht viel ruhiger. Da sie weder wusste, wohin sie sollte oder was auf sie zukommen würde, stand sie eine Stunde später vor der Tür des Direktors, der ihr, genauso hektisch, nur schnell mitteilte, dass sie sich in den Unterrichtsraum K10 begeben sollte.
Irritiert und allein gelassen machte sie sich also auf den Weg. In nicht einmal zwanzig Minuten sollte der Unterricht beginnen, weshalb sich schon einige Mädchen in dem Klassenzimmer aufhielten, vor dem sie nun eintraf. Doch so sehr es Jana auch wollte, sie konnte sich nicht zu ihnen begeben. Wie erstarrt stand sie im Flur und starrte Löcher in die Luft. Die Minuten wollten einfach nicht vergehen, ihr kam es so vor, als ob sie schon seit einer Ewigkeit so dastünde, als plötzlich jemand ihren Arm packte und rief: »Na komm schon, oder willst du schon am ersten Tag eine Strafe aufgebrummt bekommen, wenn dich ein Lehrer nach Unterrichtsbeginn noch hier stehen sieht?«
»Aber es sind doch noch mindestens fünf Minuten, bis …«, versuchte sich das junge Mädchen zu verteidigen, doch ließ ihre blonde Mitschülerin sie gar nicht erst zu Wort kommen.
»Ach papperlapapp, du wirst mir noch dankbar sein.« Sie zog Jana in den Raum, führte sie an einen Tisch und sagte: »Setz dich am besten hier hin!«
Verunsichert schaute Jana abwechselnd von dem Platz, dem Fensterplatz ganz vorn in der ersten Reihe, zu dem Mädchen, entschied sich aber weiter nichts dazu zu sagen und packte lieber ihre Schultasche aus. Gerade hatte sie ihren Terminplaner in der Hand, als die Blonde wieder zu ihr kam, sie dieses Mal von oben bis unten musterte, bis sie schließlich fragte: »Ist es wahr, was die anderen sagen?«
»Und was wäre das?«
»Die meinten, dass du dieses Jahr den dritten Platz bei den NRW–Juniorenmeisterschaften gewonnen hast. Stimmt das?«
Bevor sie allerdings auch nur einen Piepser von sich geben konnte, betrat ein Mann das Klassenzimmer und begrüßte die Schüler. Jana starrte ihn an, ließ das Buch fallen und traute ihren Augen nicht. Vor ihr stand doch tatsächlich dieser gut aussehende Mann, der ihr noch vor ein paar Tagen geholfen hatte. Konnte das wirklich sein oder träumte sie nur?
Wie angewurzelt stand sie auf ihrem Platz und blickte IHN an. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, was ER hier zu suchen hatte, doch die Antwort darauf ließ nicht lange auf sich warten, denn genau in diesem Moment betrat auch Herr Hongo das Klassenzimmer und richtete sich an die verdutzt aussehenden Schülerinnen: »Ich darf euch mit großer Freude euren neuen Mathematik–, Sport– und Klassenlehrer Herrn Ralf Maier vorstellen!«
Alle begannen zu klatschen. Scheinbar freuten sie sich über die neue Besetzung, nur Jana stand noch immer wie weggetreten neben ihrem Platz.
»Hier, das ist dir runtergefallen!«
Herr Maier stand direkt vor ihr und hielt ihren Terminplaner in den Händen. Etwas grob wurde Jana nun von ihrer blonden Mitschülerin in die Seite gestoßen, was sie endlich aus ihrer Traumwelt riss. Verlegen brachte sie ein »Danke!« heraus.
Bevor allerdings der normale Unterricht beginnen konnte, wandte sich der Direktor noch einmal an die Klasse: »Alles, was mit der Organisation dieses Jahres zu tun hat, wird euch Herr Maier gleich noch genauer erläutern. Ach ja und Jana«, er sah sie an und erklärte: »Bis auf Weiteres bist du erst mal noch vom Sport befreit. Nach der Mittagspause sehen wir uns zur Physiotherapie.«
Damit verließ er den Raum und ließ den neuen Lehrer mit der Klasse alleine. Dieser stellte sich zunächst einmal vor. Er war sechsundzwanzig Jahre alt, hatte gerade sein Referendariat in einer nicht allzu großen Stadt Thüringens abgeschlossen und da man ihm den Posten im Internat angeboten hatte, war er ohne zu zögern nach Neustadt gekommen. Abschließend sagte er: »Ab heute werde ich euch in allen Fragen zur Seite stehen, Mathe und Sport unterrichten, euer Ausdauer– und Krafttraining unterstützen und euch fördern. So und nun, da ihr mich etwas besser kennt, würde ich auch gerne etwas über euch erfahren! Eure Namen, wo ihr herkommt, eure Hobbys und so weiter.«
Nicht nur für den neuen Lehrer war dies hilfreich, sondern auch für Jana, die so all ihre Mitschülerinnen kennenlernen konnte. Doch was sollte sie selbst sagen? Sollte sie gleich von vornherein von den schrecklichen Monaten, die sie durchlebt hatte, erzählen oder damit noch warten?
Da er in der letzten Reihe begann und sich nach vorne arbeitete, hatte sie noch etwas Zeit, darüber nachzudenken. Nach und nach erfuhr sie, dass neben ihr, nur zwei weitere Mädchen ihrer Klasse wegen des Eiskunstlaufens hier im Internat waren. Von Herrn Hongo wusste sie bisher nur, dass die Klassen nicht nur nach Alter, sondern vielmehr nach Qualifikation der Schülerinnen eingeteilt wurden.
Schließlich kam sie an die Reihe, wenn auch früher als erwartet, doch bevor sie auch nur einen Ton sagen konnte, ergriff Herr Maier das Wort: »Wir beide hatten schon das Vergnügen, nicht wahr?
Jana fühlte förmlich, wie sie rot anlief und nickte nur, bevor sie sagte: »Ich heiße Jana Hansen, bin vierzehn Jahre alt und komme aus der Nähe von Köln. Meine Hobbies sind Lesen, Schreiben und Reiten. Leider musste ich mein Pflegepferd Tristan im Sommer abgeben.«
»Oh, du schreibst? Darf ich fragen, was du so schreibst?«
Verlegen und fast stotternd antwortete sie: »Gedichte und manchmal Kurzgeschichten.«
»Nicht schlecht, nicht schlecht. Ihr habt alle echt wunderbare Interessen, die euch alle sehr vielseitig machen. Ich bin wirklich beeindruckt. Aber jetzt zum ernsteren Teil des Tages.«
Daraufhin verteilte er den Stundenplan und ein Raunen lief durch den Raum. Auf den ersten Blick sah dieser nämlich besorgniserregend vollgestopft aus. Nachdem dieser erste Schock verdaut und weitere organisatorische Kleinigkeiten geklärt waren, konnte der Unterricht beginnen. Die Stunde war erst einmal geprägt von Wiederholungen des Vorjahres, und zu mehr kamen sie auch nicht, denn kaum dreißig Minuten später läutete es bereits zur ersten Pause. Während die restlichen Mädels den Klassenraum verließen, blieb Jana still auf ihrem Platz sitzen und starrte aus dem Fenster, sodass sie gar nicht bemerkte, dass sie nicht alleine war, denn auch Herr Maier war noch anwesend und wandte sich erneut an sie: »Bei deiner Vorstellung hast du dich recht kurz gehalten. Meinst du nicht auch?«
Sichtlich erschrocken fuhr sie zusammen. »Sie wollten wissen, wie ich heiße, woher ich komme und was meine Hobbies sind, und genau das habe ich doch erzählt!«, versuchte sie sich mit einer leicht zittrigen Stimme zu verteidigen.
»Jetzt komm schon! Du weißt genau, was ich meine. Herr Hongo hat mir alles über dich erzählt. Warum hast du das nicht mit deinen neuen Mitschülerinnen geteilt? Sie werden es doch auf kurz oder lang eh erfahren.«
Um Fassung ringend, dass sie jetzt doch jemand auf ihre Vergangenheit angesprochen hatte, murmelte sie: »Ich kann nicht darüber reden, noch nicht.«
»Ich weiß, es muss sehr hart für dich sein. Wenn das Leben einfach so von heute auf morgen komplett auf den Kopf gestellt wird und man von vorne beginnen muss, das ist für niemanden leicht. Aber alles zu verleugnen, ist doch auch nicht die richtige Lösung. Glaub mir, mit jemandem darüber zu reden, hilft!«
Aufgebracht und den Tränen nahe, umklammerte sie ihre Schultasche noch fester, blickte dann ihren Lehrer an und konterte: »Ich verleugne gar nichts! Ich weiß, dass meine Eltern tot sind und nichts auf der Welt sie mir zurückbringen kann. Ich muss meine Trauer aber keinem auf die Nase binden, ich will kein Mitleid, sondern einen ganz normalen Start, ohne von jemandem als traurige, allein gelassene kleine Jana abgestempelt zu werden. Ist das denn zu viel verlangt?«
Zur gleichen Zeit stand, unweit der Tür, das blonde Mädchen im Flur, dass Jana vor Unterrichtsbeginn ihren Platz zugewiesen, sich später als Isabell Braun vorgestellt hatte und eine der beiden Mädchen aus dem Eisteam war. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie nicht mit den anderen nach draußen gegangen war. Vielleicht war es ihr Instinkt gewesen, der ihr riet, hier zu bleiben, denn so hatte sie alles mit anhören können.
Nach der Mittagspause, welche Jana alleine auf ihrem Zimmer zugebracht hatte, um den nervigen Fragen ihrer neugierigen Mitschüler aus dem Weg zu gehen, machte sie sich etwas demotiviert auf den Weg zu ihrer ersten Stunde Physiotherapie. Vier lange Wochen lang musste sie das jetzt nun jeden Tag für zwei Stunden über sich ergehen lassen – vier weitere Wochen, in denen sie nicht aufs Eis durfte. Dabei hatte sie sich so sehr auf das erste Mal gefreut, und um diesem Moment möglichst schnell näher zu kommen, würde sie alles geben. Doch leichter gesagt, als getan. Schon recht schnell gelangte sie an ihre Leistungsgrenze und sie musste schockiert feststellen, dass nicht nur ihre Belastbarkeit, sondern auch ihre Ausdauer und Beweglichkeit stark unter dem neunwöchigen Gips hatten leiden müssen.
Zwei Stunden später, am Ende ihrer ersten Trainingseinheit, wollte sie sich frustriert und niedergeschlagen auf den Weg in ihr Zimmer machen, als Herr Hongo sie noch einmal zu sich rief: »Zieh nicht so ein Gesicht! Das du heute nicht gleich in Topform bist, hättest selbst du wissen müssen. Aber mach dir keine Sorgen, bald bist du wieder so fit wie früher.«
Sie stieß ein ungläubiges Schnauben aus, auf das der Lehrer aber gar nicht achtete, sondern einfach weitersprach: »Deinen ersten Schultag hast du jetzt auch schon hinter dir. Ich hoffe, dir gefällt es hier. Hast du dich denn schon mit jemandem anfreunden können?«
Das Mädchen versuchte, den Tag Revue passieren zu lassen, doch das Einzige, an das sie denken konnte, war dieser Ralf Maier. So in Gedanken versunken, huschte ein kleines Lächeln über ihre Lippen, was auch Herr Hongo bemerkte, es auch falsch deutete: »Das ist schön, denn Freunde sind wirklich wichtig. Also dann bis morgen und jetzt guck nicht mehr so böse!«
* * *
Die nächsten anderthalb Wochen entpuppten sich als die reinste Tortur, Herr Hongo verlangte ihr beinahe Unmögliches ab, doch blieben die Fortschritte der Physiotherapie recht überschaubar. Auch im Unterricht kam sie kaum hinterher, dabei war sie an ihrer alten Schule immer eine der besten Schülerinnen gewesen, was zusätzlich an ihrem Ego nagte.
Um am Ball bleiben zu können, musste sie bis in die Nacht hinein den Unterrichtsstoff nacharbeiten und sich auf die kommenden Stunden vorbereiten, doch jetzt, da sie auch wieder am normalen Sportunterricht teilnehmen durfte und musste, dadurch aber die Physio auf den späten Nachmittag fiel, blieb ihr dafür kaum Zeit, wenn sie wenigstens ein paar Stunden schlafen wollte. Lange würde sie diese Strapazen wohl nicht durchhalten können, ohne dass es ihr andere ansehen würden. Doch je mehr sie sich auch selbst unter Stress setzte und von einem zum anderen Termin hechtete, desto weniger Zeit blieb ihr, sich mit ihren Mitschülerinnen auseinander zu setzen, oder an IHN zu denken.
Manchmal hatte sie sich schon dabei ertappt, wie sie IHN einfach nur minutenlang angestarrt und sich dabei ein immer größer werdendes warmes Gefühl in ihr ausgebreitet hatte. Doch ebenso wusste sie, dass diese Schwärmerei sehr gefährlich werden konnte. Allein, wenn er sie aufrief, eine Frage zu beantworten, bekam sie eine Gänsehaut, es lief ihr eiskalt den Rücken runter und sie hatte das Gefühl, hochrot anzulaufen – von dem Gestammel, das sie dabei nicht selten von sich gab, ganz zu schweigen. Sie musste diese immer größer werdenden Gefühle IHM gegenüber schnellstmöglich in den Griff bekommen. Aber wie nur?
Dann zeichnete sich endlich ein Lichtblick am Horizont ab. Die zweite Woche dieses Schuljahres war fast vorbei, als Herr Hongo sie in die Eishalle bestellte. »Es wird Zeit, dass wir dich wieder eislauftüchtig bekommen, oder? Also zieh dich schnell um!«
Dies ließ sich das junge Mädchen nicht zweimal sagen. Schnell wie der Blitz schlüpfte sie in ihre Schlittschuhe und trat voller Vorfreude vor die Eisfläche.
»Fangen wir zunächst mal mit ein paar Runden an. Wollen wir doch mal sehen, wie du dich auf dem Eis machst. Also, nichts überstürzen!«
Vorsichtig stellte sie erst den einen, dann den anderen Fuß auf die glitzernde Eisbahn, atmete tief durch und stieß sich leicht von der Reling ab. Dieses Gefühl war einfach unbeschreiblich, ihr gesamter Körper fing an zu kribbeln und sie fühlte sich einfach nur noch glücklich, so glücklich, dass sie für einen Moment lang alles um sich herum vergaß und ihr beinahe die Tränen kamen. Fast konnte sie die Musik hören, zu der sie bei ihrem letzten Turnier gelaufen war, setzte einen Fuß vor den anderen und glitt sanft über die Oberfläche. Sie fühlte sich frei, einfach so wunderbar frei und unbeschwert.
»Sehr gut, sehr gut. Dein Gleichgewicht hast du also noch. Das wird vieles leichter machen«, lächelte ihr Hongo entgegen, der sie mit seinen Worten aus ihrer Traumwelt gerissen hatte.
»Für heute lassen wir es dann auch mal gut sein. Ruh dich etwas aus, ab morgen wird es dann etwas stressiger.«
Irritiert, weil sie doch nicht mehr als zehn Minuten gelaufen war, wollte Jana protestieren, als ihr Blick auf die Uhr fiel und sie überrascht feststellte, dass bereits über eine Stunde vergangen war. Sie hatte komplett das Zeitgefühl verloren.
Nur wenige Minuten später saß sie wieder in ihrem Zimmer auf der Fensterbank, einem ihrer Lieblingsplätze, und schaute in den bereits sternenbehangenen Himmel. Heute war sie das erste Mal seit dem Unfall wieder glücklich gewesen und das machte sie auch irgendwie traurig. Durfte sie denn nach all dem überhaupt wieder glücklich sein?
Auch wenn dieser Gedanke an ihr hing wie ein dunkler Schatten, genoss sie von nun an jede Minute, die sie auf dem Eis verbringen durfte. In den ersten Stunden sollte sie lediglich leichte und unkomplizierte Schrittfolgen laufen, doch nach und nach wurde nicht nur Hongos Tempo höher, sondern auch seine Anforderungen. Er ließ ihr kaum Zeit zu verschnaufen. Wenn er so auch im normalen Unterricht agierte, konnten die nächsten Jahre noch recht lustig werden.
Nachdem sie die gefühlte fünfhundertste Pirouette endlich gestanden und danach einen Schluck Wasser getrunken hatte, rief Herr Hongo: »So und jetzt Schluss mit dem Kinderkram, so kommen wir nie weiter. Jetzt will ich einen Axel sehen. Los!«
Konnte sie ihren Ohren trauen? Sollte sie sich tatsächlich schon in einem Sprung versuchen, und dann ausgerechnet am schwierigsten? Mit einem tiefen Seufzer setzte sie an und lief sich ein paar Runden ein, nicht nur, um in der richtigen Position zu starten, sondern auch, um sich die genaue Reihenfolge wieder ins Gedächtnis zu rufen: Einlaufen rückwärts auf dem rechten Fuß, Absprung vorwärts–auswärts auf dem linken, Drehung, Landung rückwärts–auswärts auf dem rechten Fuß. Noch vor wenigen Monaten war dieser Sprung einer ihrer liebsten gewesen, sie konnte ihn im Schlaf oder mit verbundenen Augen auch als doppelten stehen, doch jetzt, nur wenige Wochen nach dem Unfall, bei dem sie sich das rechte Bein gebrochen hatte, bekam sie Panik, die sich rasch in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Was, wenn ihr Bein das noch nicht aushielt? Was, wenn sie unglücklich aufkäme und es wieder brechen würde? War sie wirklich schon so weit, dieses Risiko einzugehen?
»Na los, worauf wartest du noch!«, rief Hongo ihr zu und riss sie aus ihren Gedanken.
Sie holte tief Luft, versuchte sich zu konzentrieren und versuchte es noch einmal. Alles funktionierte so gut wie zuvor; sie glitt in Ausgangsposition, setzte in die Vorwärtsrichtung um, verlagerte dabei den Druck auf die Vorwärts–Auswärts–Kante und holte kräftig mit den Armen aus, bereit für den Absprung. Doch noch bevor sie auch nur einen Millimeter vom Eis abhob, rammte sie die Kufen beider Schlittschuhe so fest in die Eisfläche, dass sie abrupt zum Stehen kam und tiefe Spuren hinterließ.
Irritiert rief ihr der Lehrer zu: »Was auch immer das gerade werden sollte, ein Axel war es jedenfalls nicht. Reiß dich ein wenig zusammen und auf ein Neues!«
Doch bevor sie widersprechen oder für einen neuen Versuch ansetzen konnte, klingelte zu ihrer großen Erleichterung die Eieruhr, die die heutige Stunde beendete.
»Na gut, ok, dann machen wir eben morgen weiter, aber dann will ich einen perfekten Axel sehen!«
Morgen, oh nein, wie soll ich das nur schaffen?
* * *
Der nächste Tag kam schneller, als ihr lieb war. Erst Mathematikunterricht bei Ralf Maier, dann noch Sport bei und mit ihm; ihr Herz hatte alleine schon in diesen Stunden gefühlte einhundert Aussetzer, wenn sich ihre Blicke trafen; und dann auch noch Physio und Einzeltraining bei Hongo. Wie sollte sie diesen Tag nur überstehen? Schon bei dem Gedanken, dass er heute einen Sprung von ihr sehen wollte, erschauerte sie, was sie verunsicherte und sich dann auch deutlich in ihren Leistungen widerspiegelte.
»Stopp, stopp, stopp, stopp, stopp! Was zum Teufel ist den heute nur mit dir los? Du stellst dich an, als wäre das hier deine erste Eislaufstunde«, rief Hongo dann auch bei ihren ersten jämmerlichen Versuchen. »Jetzt schüttle einfach mal alle Gedanken ab und konzentriere dich auf das, was du machen sollst! Mach deinen Kopf frei und dann noch mal von vorne!«
Doch so einfach war das nicht, Jana verkrampfte nur noch mehr, sodass der Lehrer keine zehn Minuten später das Training beendete. Zu ihrer großen Verwunderung – eigentlich hatte sie mit einer gehörigen Standpauke gerechnet –, stellte er keine Fragen, sondern ließ sie nur mit den Worten »Bis morgen« alleine in der Halle zurück.
War das eben Enttäuschung in seinem Blick gewesen, oder hatte sie sich das nur eingebildet? Jetzt, da sie alleine war, kam sie sich albern und dumm vor. Nicht nur er schien von ihr enttäuscht zu sein, sie war enttäuscht von sich selbst.
Langsam glitt sie zurück zur Reling, doch bevor sie vom Eis ging, drehte sie sich noch einmal um und blickte zurück.
Vielleicht ist es besser, wenn ich mir einen neuen Traum suche und von ganz vorne anfange.
In dieser Nacht fand sie keine Minute Schlaf, wälzte sich hin und her und versuchte, sich klar zu werden, was sie eigentlich wollte. Doch sie kam zu keinem endgültigen Entschluss, selbst in dem Moment nicht, als sie sich am nächsten Morgen auf den Weg zu Herrn Hongos Büro machte. Sie wusste nur, dass es so wie im Moment nicht weitergehen konnte. Vorsichtig klopfte sie an seine Tür, doch nichts geschah. Sie lauschte einen Moment und klopfte ein weiteres Mal, dieses Mal kräftiger und lauter. Wieder nichts …
Dann versuche ich es eben später noch mal, überlegte sie und wollte gerade gehen, als sich etwas weiter hinten im Flur eine Tür öffnete und eine Traube Lehrer auf den Flur traten.
Hm … na klar, das Lehrerzimmer, wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen?
Sie suchte in der Menge, doch Herr Hongo war nicht zu sehen.
Gleichfalls niedergeschlagen wie frustriert machte sie sich auf den Weg in ihr Klassenzimmer, um nur Minuten später zu erfahren, dass ihr Direktor für die nächsten drei Tage nicht anwesend sein und somit auch ihre Physiotherapie ausfallen würde. So blieben ihr also noch drei Tage, um sich wirklich klar zu werden, was sie eigentlich wollte.
An diesem Abend saß sie nachdenklich auf der Fensterbank ihres Zimmers und schaute in den Himmel. Wie wunderbar hell doch heute der Vollmond zwischen den einzelnen Wolken hervor lugte. Sie war noch nie jemand gewesen, der zu Gott gebetet oder auch nur an eine überirdische Macht geglaubt hatte, doch wünschte sie sich in diesem Moment nichts sehnlicher als ein Zeichen, etwas, dass ihr die Entscheidung leichter machen oder gar abnehmen würde. Doch nichts geschah …
* * *
Am Morgen des dritten Tages machte sich Jana ganz früh auf den Weg in die Eiskunsthalle. Sie wollte noch ein allerletztes Mal auf dem Eis stehen, bevor sie an diesem Abend Herrn Hongo ihre Entscheidung mitteilen wollte. Unbefangen glitt sie über das Eis, es schien fast so, als würde sie schweben. Über ihren iPod hörte sie leise das Lied, zu dem sie bei ihrem letzten Turnier gelaufen war. Beinahe spürte sie die Atmosphäre von damals, die Faszination und Anspannung, die absolute Stille und die begeisterten Zuschauer, sogar den Geruch von damals glaubte sie, nun in der Nase zu haben. Sie lief eine Pirouette nach der anderen, machte eine Drehung nach der anderen und dann, wie aus heiterem Himmel setzte sie, ohne dass es ihr tatsächlich bewusst war, zum Sprung an. Erst als sie bereits in der Luft war, erkannte sie, was sie da machte, erschrak über sich selbst, sodass sie beinahe zu Boden krachte, als ihre Schlittschuhe wieder die Eisfläche berührten. Wackelig kam sie zum Stehen, ihre Atmung ging unwahrscheinlich schnell, doch das war es nicht, was sie irritierte. Sie war tatsächlich gesprungen, hatte tatsächlich die Ängste überwunden, die sie all die letzten Stunden noch in sich getragen hatte. Wie konnte das nur geschehen und vor allem: Warum gerade jetzt? Ihr blieb keine Wahl, sie musste es einfach noch einmal probieren, denn wenn es eben beinahe funktioniert hatte, musste es doch jetzt definitiv klappen. Doch weit gefehlt. Kaum hatte sie zum Sprung angesetzt, brach sie ohne erklärlichen Grund wieder ab, und umso verzweifelter sie es probierte, desto weniger wollte er gelingen.
»So ein Mist, so ein verdammter Mist!«, ärgerte sie sich laut über sich selbst. »Warum klappt das denn nicht?«
»Weil du zu verbissen an die Sache gehst«, ertönte hinter ihr eine Stimme, die sie sichtlich zusammenschrecken ließ.
»Was weißt du schon?«, entgegnete ihr Jana fast patzig, während das blonde Mädchen zu ihr auf die Eisfläche trat. Auch sie hatte ihre Schlittschuhe an.
»Na ja, ganz einfach. Wenn man etwas unbedingt und sofort schaffen will und ganz verbissen an die Sache herangeht, ist man total verspannt, der Körper verkrampft und es klappt rein gar nichts.« Ohne große Umschweife drehte sie eine Runde auf dem Eis, sprang den Axel, kam direkt vor Jana wieder zum Stehen und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Izzy. Freut mich, dich kennenzulernen.«
Irritiert schüttelte Jana ihre Hand, meinte aber im selben Moment: »Ich kenn deinen Namen, wir sind in derselben Klasse.«
»Ich weiß, aber bisher hatten wir noch nicht wirklich das Vergnügen«, sagte sie lachend.
Jetzt konnte auch Jana nicht anders und stimmte in das Lachen ein.
»Du darfst dich nicht so sehr darauf versteifen! Denke einfach an etwas, das dein Herz berührt! Der erste Sprung hat doch auch fast geklappt.«
Fast beschämt murmelte Jana: »Schaust du mir echt schon so lange zu?«
»Wir hatten heute Morgen wohl beide die gleiche Idee, ungestört ein paar Minuten auf dem Eis zu verbringen, bevor der Unterricht losgeht, aber du warst eben ein wenig schneller. Leider haben wir nicht mehr viel Zeit«, stellte sie mit einem Blick auf die Uhr fest, »also, wenn du es noch einmal probieren willst, wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt dafür! Setz dich nur nicht selber unter Druck! Entspann dich! Schließ die Augen und denke an das, was dich glücklich macht!« Sie schwieg einige Augenblicke und fragte dann: »Hast duʼs?«
»Ich denke schon«, log Jana.
»Na dann los!«
Jana schluckte all ihre Ängste hinunter, versuchte den Kopf frei zu bekommen und nur noch an etwas zu denken, was sie glücklich machte. Das aber war leichter gesagt, als getan. In den letzten Monaten war so viel Schreckliches in ihrem Leben passiert, dass sie so auf die Schnelle keinen Gedanken finden konnte, welcher sie glücklich machte. So fuhr sie nur einige Runden im Kreis, bis Izzys Stimme sie aus den Gedanken riss. »Ich will dich ja nicht hetzen, aber wenn du nicht bald in die Pötte kommst, kommen wir noch zu spät zum Unterricht und dann kriegen wir beide Ärger mit dem Maier!«
Ralf Maier, hm …
Wie gut konnte sie sich noch an den Moment erinnern, als sie IHN das erste Mal gesehen, seine starken Arme gespürt, seine wunderschönen blauen Augen gesehen hatte – als wäre es gestern gewesen. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem ganzen Körper aus, ihr wurde auf einmal so unendlich warm. Konnte es sein, dass dieser Gedanke an IHN sie wirklich glücklich machte. Ein Versuch war es wert, ohne Frage, doch dazu war jetzt keine Zeit mehr – die Schulglocke läutete, jetzt blieben kaum mehr fünf Minuten bis Unterrichtsbeginn.
In Windeseile schlüpften die beiden Mädchen aus ihren Schlittschuhen und rannten die Flure entlang, erreichten ihren Klassenraum just in der Sekunde, als das erneute Läuten den Beginn des Unterrichts verkündete.
»Tut mir echt leid, dass wir meinetwegen fast zu spät gekommen sind«, flüsterte sie Izzy zu, als Herr Maier die Aufgabenstellungen der kommenden Tage an die Tafel zu schreiben begann.
»Ach, kein Problem, wir machen einfach nachher weiter, okay?«
Dann machen wir einfach nachher weiter – Jana wusste gar nicht, wie sie damit umgehen sollte, geschweige denn, was sie darauf antworten sollte. Sie war doch nur in die Eishalle gegangen, um ein letztes Mal die Erinnerungen aufleben zu lassen, bevor sie ihrer alten Leidenschaft Lebewohl sagen wollte. Doch ehe sie sich überlegt hatte, wie sie das diesem fast fremden Mädchen erklären sollte, hörte sie sich plötzlich selber sagen: »Okay.«
»Supi, dann treffen wir uns um halb sechs in der Halle!«
Na super, wie willst du denn jetzt aus dem Schlamassel wieder rauskommen?
Je länger sie versuchte, eine Lösung zu finden, desto schneller schien die Zeit zu verstreichen, und ehe sie sich versah, war der Unterricht an diesem Tag schon vorbei. Da sie Izzy auch nicht vor den Kopf stoßen wollte, machte sich Jana also gegen fünf Uhr auf den Weg. Vielleicht sollte sie ihr einfach sagen, dass sie das Eiskunstlaufen an den Nagel hängen wollte, oder zumindest darüber nachgedacht hatte, aber sobald sie auf dem Eis angekommen war, ließ Izzy sie gar nicht erst zu Wort kommen.
»Schön, dass du da bist. Machen wir doch gleich da weiter, wo wir heute Morgen unterbrochen wurden! Also, entspann dich, schließ die Augen, denk an etwas Wundervolles und dann los!«
Dabei grinste sie Jana unverhohlen an. Trotz dass das einer ausdrücklichen Aufforderung gleich kam, fühlte sich Jana kein bisschen unter Druck gesetzt, eben ganz anders als bei Herrn Hongo, der von ihr scheinbar immer noch sehr enttäuscht war. Er hatte es nicht mal für nötig gehalten, die Physiotherapie persönlich abzusagen, sondern war ohne ein Wort verschwunden.
Sie versuchte, diese Gedanken abzuschütteln, sie waren alles andere als hilfreich, und rief sich den Moment in Erinnerung, als sie Ralf Maier das erste Mal gesehen hatte. Wieder überkam sie dieses warme Gefühl, ihr Herz begann schneller zu schlagen. Fast meinte sie, auch Izzy könnte das hören. Sie steckte die Kopfhörer ihres iPods in die Ohren, startete eines ihrer Lieblingslieder, schloss die Augen und fing an zu laufen. Komischerweise tat das mal wieder so richtig gut, sie fühlte sich frei, so unbeschwert. Sie öffnete die Augen und setzte zum Sprung an.
Ohne zu fallen, ohne zu stolpern, oder auch nur zu straucheln, landete sie nur Sekunden später wieder auf ihren Füßen. Sie war einfach nur überrascht von sich selbst. Vor ein paar Minuten noch hätte sie schwören können, dass sie nie wieder einen Axel würde springen können, und jetzt hatte sie es tatsächlich geschafft. Es war vielleicht noch ein wenig wacklig, aber sie hatte es geschafft.
Sprachlos kam sie neben Izzy zum Stehen, die sie freudestrahlend anlächelte und jubelte: »Siehst du, ich hab es dir doch gleich gesagt. Das war nahezu perfekt.«
»Der Meinung bin ich aber auch.«
Erschrocken fuhr Jana herum und blickte direkt in die Augen ihres Direktors, der ohne ihr Bemerken die Eishalle betreten und sie die ganze Zeit beobachtet haben musste. Verlegen versuchte sie, ihm etwas zu entgegnen, doch ihr fehlten die richtigen Worte.
»Schon gut, du brauchst nichts zu sagen. Eigentlich warst du schon vor Wochen so weit, aber dir hat der Mut gefehlt. Du hattest den Glauben an dich selbst und an das, was du erreichen kannst, verloren. Und da konnte ich dir nicht helfen. Aber mir war bewusst, dass du nur den richtigen Ansporn brauchst, und den hast du wohl durch Izzy gefunden. Du bist also wieder so weit, ab morgen kannst du mit den anderen zusammen am Training teilnehmen.«
»Also war es Hongos Vorschlag gewesen, dass du mir hilfst?«, fragte Jana ihre blonde Mitschülerin, als sie wenig später in der Umkleide saßen.
»So halb und halb.«
»Wie jetzt?«
»Ich habe schon seit Längerem versucht, mit dir ins Gespräch zu kommen, aber du warst immer beschäftigt und so unnahbar. Als mich Herr Hongo dann gebeten hat, dir ein wenig unter die Arme zu greifen, fand ich das eine großartige Gelegenheit, endlich mal mit dir reden zu können. Okay, viel geredet haben wir jetzt noch nicht …« Sie fing an zu lachen, fügte dann aber schnell noch hinzu: »Vielleicht können wir ja Freundinnen werden, so richtig beste Freundinnen. Das wäre echt schön. Das würde ich gerne sein – ich würde gerne deine Freundin sein.«
Als Jana an diesem Abend auf ihrem Bett saß und wieder einmal durch das Fenster den leuchtenden Sternenhimmel beobachtete, kamen ihr immer und immer wieder die Worte dieses Mädchens in den Sinn. Ich würde das gerne sein – ich würde gerne deine Freundin sein. Wie hatte sie das nur so einfach sagen können, und das, obwohl sie sich nicht einmal kannten? Da Izzy allerdings nicht gleich eine Antwort darauf bekommen hatte, war sie ein wenig enttäuscht aufgestanden und hatte, bevor sie gegangen war, noch gemeint: »Ich warte auf dich und deine Antwort, ganz egal, wie lange du brauchst. Du kannst auf mich zählen.«
Jetzt im Nachhinein tat es Jana leid, dass sie Isabell so vor den Kopf gestoßen hatte. Einerseits wollte sie ja endlich Freunde finden, doch andererseits hatte sie auch große Angst davor, sich immer wieder rechtfertigen zu müssen oder auf den Tod ihrer Eltern angesprochen zu werden.
Was sollte sie jetzt nur machen?
Vielleicht sollte sie sich morgen bei Izzy entschuldigen. Aber wofür denn? Etwa dafür, dass sie noch nicht bereit war, sich einem anderen zu öffnen? Sie wusste einfach nicht mehr wo ihr der Kopf stand. Ihre Gedanken schienen sich förmlich zu überschlagen. Und dann ganz plötzlich musste sie auch noch an ihren Lehrer Ralf Maier denken. Warum war es ausgerechnet ER, der ihr die Kraft gab, wieder an sich selbst zu glauben?