Читать книгу Liebe ist Schicksal - Nikki Deed - Страница 8
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ОглавлениеAuch wenn ihr das alles furchtbar peinlich war, fühlte sie sich doch extrem erleichtert. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass sie auch nur ein einziges Mal in SEINEN Armen liegen würde, und genau das war heute geschehen. Wahrscheinlich hätte zwar jeder andere genauso gehandelt wie er, aber schließlich war ER da gewesen und niemand anderes.
Das gab ihr die Kraft, die sie dringend brauchte. Nicht nur, um die nächsten zwei Tage ohne Izzy zu überstehen - so lange musste diese nämlich doch noch im Krankenhaus bleiben -, sondern auch, um sich auf das zu konzentrieren, was vor ihr lag. Mit jeder Minute auf dem Eis wurde sie sicherer, sodass schon eine Woche später ihre Kür fast perfekt saß und sie damit alle anderen in den Schatten stellte. Auch wenn sie nur noch zu fünft waren, Hongo hatte bereits angekündigt, dass er sich bis Ende der Woche von zwei weiteren Läuferinnen verabschieden wollte, und das setzte vor allem Dorothea und ihre Schwester Theresia unter Druck.
Bis zum Turnier waren es nur noch drei Wochen und das machte Hongo zunehmend nervös. Entscheidungen zu treffen, war zwar eine der Hauptaufgaben eines Direktors und normalerweise fiel ihm dies auch nicht besonders schwer, aber zu entscheiden, welchem der Mädchen er die Chance auf ein Turnier geben sollte und welchem nicht, machte ihm jedes Mal sehr zu schaffen. Da aber hier nicht die Träume der Mädchen, sondern das Weiterbestehen seiner Schule im Vordergrund stand, machte er es kurz und schmerzlos: »Theresia und Xenia, ihr nehmt ab Montag wieder am normalen Eis–Unterricht teil. Tut mir leid, aber vielleicht schafft ihr es das nächste Mal. Und zwischen euch dreien, Jana, Doro und Julia, entscheide ich mich erst kurz vorm Turnier. Bis dahin habt ihr alle die gleichen Chancen.«
»Die gleichen Chancen? Dass ich nicht lache. Wollen wir wetten, dass er die olle Hansen schon längst in die Endauswahl genommen hat? Wir anderen hatten doch nie auch nur den Hauch einer Chance«, machte Doro ihrem Ärger Luft.
»Dann müssen wir sie eben aus dem Weg räumen«, überlegte Eva verschwörerisch.
»Ach ja? Und wie willst du das anstellen?«, fragte Theresia neugierig.
»Lasst das mal meine Sorge sein.«
* * *
Die nächsten Wochen vergingen sehr schnell und ohne jegliche Vorkommnisse, sodass Dorothea schon längst nicht mehr an Evas absurden Plan dachte. Es waren nur noch drei Tage bis zu dem großen Ereignis, und bisher hatte Herr Hongo noch keine Anstalten gemacht, zu verkünden, wer denn nun mit nach Dortmund durfte. In der Mittagspause, in der alle genüsslich ihre Mahlzeit einnahmen, kam plötzlich eine Fünftklässlerin in den Saal gestürmt und rief aufgeregt: »Heute Abend gibt es bei uns ein Turnier, ein Eiskunstturnier, bei dem die zwei Finalistinnen ermittelt werden. Es steht alles am Schwarzen Brett.«
Die Bombe war geplatzt. Die Hälfte der Mädchen, darunter Doro und Julia, sprangen auf und liefen zur Anzeigentafel.
»Bist du nicht neugierig?«, fragte Isabell und sah ihre Freundin an, die regungslos auf dem Stuhl saß.
»Nicht wirklich. Die Kleine hat doch alle wichtigen Infos umher gebrüllt. Ich schaue nachher nach, wenn sich die ganze Aufregung gelegt hat.«
Doch so ruhig, wie Jana sich in dem Moment gab, war sie bei Weitem nicht. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihr war eiskalt. Aber warum veranstaltete Herr Hongo nur so ein Spektakel?
Diese Frage klärte sich, kurz bevor der Wettstreit beginnen sollte. Die drei Mädchen standen aufgeregt in der Umkleidekabine, die Eishalle füllte sich währenddessen mit immer mehr neugierigen Mitschülerinnen, als der Lehrer zu ihnen kam: »Jede von euch hat jetzt die Gelegenheit, erst ihre Kurz– und im zweiten Durchlauf ihre Hauptkür unserem Lehrergremium vorzuführen. Wir entscheiden dann zusammen, wer von euch mich dann nach Dortmund begleitet.«
»Ist so ein Riesenaufstand denn nötig, um zwei Leute aus dreien zu bestimmen?«, platzte es aus Julia heraus.
»Es geht nicht nur um die Entscheidung an sich, ich möchte sehen, wer von euch dem Druck gewachsen ist, vor großem Publikum zu laufen. In zehn Minuten geht es los. Julia, du startest als Erste, danach Dorothea und zum Schluss Jana. Alles klar?«
Als alle drei genickt hatten, verließ er den Raum und ließ sie alleine.
»Na toll, jetzt bin ich noch nervöser«, japste Doro.
»Mach dich nicht verrückt! Bevor du startest, schließ die Augen, atme tief durch und versuch dich auf das zu konzentrieren, was vor dir liegt«, versuchte Jana, sie zu beruhigen.
Es klopfte an der Tür. Ein junges Mädchen, das Jana nicht kannte, streckte ihnen drei Flaschen entgegen.
»Die kommen gerade richtig. Danke.«
Julia nahm sie entgegen und teilte sie unter ihnen auf.
»Banane bleibt bei mir. Doro, du warst Pfirsich, oder? Und Jana Kirsche?«
Beide nickten und nahmen die Getränke entgegen. Bevor sie allerdings einen Schluck nahmen, prosteten sie sich zu und leerten die Flaschen danach bis zur Hälfte.
Danach war Warten angesagt. Julia wurde aufgerufen und verließ die Kabine. Kurz darauf war Doro dran. Jana blieb alleine zurück. Die Anspannung stieg an. Unruhig lief sie auf und ab. Es schienen Stunden vergangen zu sein, bis auch endlich sie aufgerufen wurde. Als sie sich auf den Weg machte, wurde sie den Eindruck nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Julia hatte recht, so einen Aufruhr wegen einer so einfachen Entscheidung zu veranstalten, war doch nicht normal. Da musste doch mehr dahinterstecken!
In der Eishalle angekommen, stockte ihr beinahe der Atem. Die Tribünen waren komplett besetzt, scheinbar war wirklich jeder zu dieser Veranstaltung gekommen. Ihr Blick fiel auf Hongo, der neben Herrn Torbens und Ralf Maier saß. Natürlich, das Gremium bestand aus den Sportlehrern. Ihr wurde etwas flau im Magen. Dann erblickte sie Isabell, die einen nach oben gestreckten Daumen in die Höhe zeigte. Jana musste lächeln, nahm die Schoner ihrer Schlittschuhe ab und begab sich aufs Eis.
Wie sie es schon Doro empfohlen hatte, schloss sie die Augen und atmete tief durch. Als die ersten Klänge von ›Tennessee‹ an ihr Ohr drangen, öffnete sie ihre Lider wieder und begann mit ihrer Darbietung. Alles verlief geradezu fantastisch, sie schwebte über das Eis. Es waren nur noch wenige Sekunden bis zum Ende des Kurzprogramms, als plötzlich die Musik ausfiel und es still in der Halle wurde. Jana aber schien davon gar nichts mitzubekommen, sie lief einfach weiter, beendete ihre Vorführung mit dem doppelten Axel und der Schlusspirouette und kam verdutzt zum Stehen.
Ein jubelnder Beifall ließ die Halle beinahe erbeben, doch verebbte er abrupt, als Hongo sich erhob: »Vielen Dank auch an dich. Wir machen jetzt eine halbe Stunde Pause und dann geht es mit dem Hauptprogramm weiter.«
»Wie, die Musik hat ausgesetzt? Wann das denn?«, fragte Jana, sah ihre beiden Konkurrentinnen irritiert an und leerte den Rest ihrer Flasche in einem Zug.
»Du willst uns doch nicht sagen, dass du das gar nicht mitbekommen hast?«
»Nein, wirklich nicht. War das bei euch auch?«
»Das war ein ganz mieser Test von Hongo«, ärgerte sich Julia.
Sowohl sie, als auch Dorothea hatte das Aussetzen der Musik ganz schön aus dem Konzept gebracht, sie war so verdutzt gewesen, dass sie gestürzt war und Doro war einfach nur ungläubig stehen geblieben. Beide sahen sie Jana nun mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Ablehnung an. Ihnen war bewusst, dass eine von ihnen würde gehen müssen, da Jana definitiv weiter war.
Die zweite und alles entscheidende Runde begann. Wieder war Julia die Erste, gefolgt von Doro und zehn Minuten später von Jana. Der Weg zur Eishalle kam ihr dieses Mal doppelt so lang vor, ihr Herz schien zu rasen und ihr war kalt, so unsagbar kalt. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, sie durfte jetzt keine Schwäche zulassen, geschweige denn zeigen. Sie musste gewinnen. Sie wollte zu diesem Turnier, welches ihr die Möglichkeit auf die deutschen Meisterschaften eröffnen würde, ja sogar auf die Weltmeisterschaft. Sie musste einfach gewinnen.
Die Musik setzte ein und schoss ihr wie Adrenalin in die Venen. Sie gab alles, setzte alle ihr nur mögliche Ausdruckskraft in jedes einzelne Element ihrer Darbietung, so als ob ihr Leben davon abhängen würde. Die Begeisterung der Zuschauer war nicht zu bremsen, selbst Hongo kam aus dem Staunen nicht heraus.
Nur noch ein Sprung, dann hast du es geschafft. Nur noch ein Sprung.
Und auch dieser saß fehlerfrei, doch war sie bei der Landung zu nah an die Absperrung gekommen und krachte bei der nächsten Drehung mit einem lauten Scheppern und mit voller Wucht in die Reling und blieb regungslos liegen. Mit einem Mal war es mucksmäuschenstill in der Halle, nur das immer noch vibrierende Klirren der Reling war zu hören. Herr Hongo war gleichzeitig mit Herrn Maier und Frau Doktor Blair, die etwas weiter hinten gesessen hatte, aufgesprungen und zu dem am Boden liegenden Mädchen gelaufen.
»Jana? Um Gottes willen, Jana?«
Stefan Hongo erreichte das Mädchen als Erster.
»Alles okay. Mir gehtʼs gut. Hab nur etwas die Orientierung …« Janas Stimme klang leise, aber deutlich. Sie rappelte sich auf und stand nun vor ihren deutlich erleichtert aussehenden Lehrern, wenn auch noch etwas zittrig auf den Beinen.
»Was ist passiert? Warum ist es hier so heiß?«
»Ist wirklich alles in Ordnung? Vielleicht solltest du dich setzen!«
Panisch blickte sich Jana um, ihre Atmung wurde immer schneller. »Oh Gott, Feuer, überall Feuer …«
»Jana?« Hongo berührte das völlig panische Mädchen an der Schulter. Angsterfüllt blickte sie ihn an, riss sich los und wollte gerade in die andere Richtung fliehen, als sie gegen Ralf Maier stieß, den sie zuvor gar nicht bemerkt hatte. Mit glasigen Augen starrte sie ihn an. Plötzlich wurde ihr ganz schwindelig und schwarz vor Augen. Sie versuchte sich noch an ihm abzustützen, verlor aber im gleichen Moment das Bewusstsein und fiel geradewegs in seine Arme.
Doktor Blair warf nur einen kurzen Blick auf das Mädchen, wandte sich an Ralf und meinte: »Bringen Sie sie bitte umgehend auf die Krankenstation. Ich bin sofort bei Ihnen.«
So schnell ihn seine Füße trugen, lief er los, dicht gefolgt von Hongo. Gerade als er Jana auf eines der Betten gelegt hatte, stand auch schon die Ärztin hinter ihm und schickte beide Lehrer nach draußen. Ratlos sahen sie einander an, folgten aber der Aufforderung der Ärztin, und dann hieß es warten.
Es dauerte fast eine Stunde, bis sich die Tür öffnete und Doktor Blair zu ihnen trat, ihr Blick war allerdings nicht zu deuten.
»Wie geht es ihr? Es ist doch nichts Ernstes?«, riefen die beiden wie aus einem Munde.
»Ihr Zustand ist stabil. Ich musste ihr einen Zugang legen, um ihren Blutdruck zu stärken. Außerdem bekommt sie noch Sauerstoff.«
»Und das alles wegen der Gehirnerschütterung?«, Hongo war bestürzt.
»Gehirnerschütterung?«, fragte Doktor Blair.
»Wie kommen Sie denn darauf?«
Irritiert blickte Hongo sie an. »Bevor sie das Bewusstsein verloren hat, war sie total durcheinander. Hat die ganze Zeit von Feuer geredet. Ich dachte, sie hat sich vielleicht den Kopf angestoßen bei dem Sturz und …«
»Rein körperlich geht es ihr, bis auf ein paar Prellungen, gut«, unterbrach Doktor Blair ihn. »Die Halluzinationen, die rasche Atmung und der plötzlich abfallende Blutdruck sind, wie es auch der Quicktest nachgewiesen hat, Auswirkungen des Lysergsäurediethylamids oder einfacher gesagt: des LSD. Ich muss noch die Laborwerte abwarten, aber ich bin mir ziemlich sicher.«
Fassungslos taumelte Hongo zurück. LSD? Wie war so was nur möglich? Wieso hatte Jana so etwas genommen? »Wie ist …?«
»Ich gehe davon aus, dass es in ihrer Wasserflasche war. Untersuchungen laufen bereits.« Als sie die fragenden Gesichter sah, erklärte sie, dass sie, kurz bevor sie zur Krankenstation gekommen war, an der Umkleidekabine Halt gemacht und alle Wasserflaschen eingepackt hatte.
Das war definitiv zu viel für den Direktor, er drehte sich um und ging.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jana so ein Zeug nehmen würde.« Ralf Maier hatte ausgesprochen, was alle Lehrer bei der kurzfristig einberufenen Lehrerversammlung dachten.
»Eben genau das ist das Problem«, Hongo sah immer noch sehr bedrückt aus. »Es bedeutet nämlich, dass eines unserer Mädchen ihr das LSD untergeschoben und so den Unfall provoziert hat.«
»Langsam, langsam! Noch wissen wir weder, ob es sich wirklich um LSD handelt, noch ob das der Grund für den Sturz war. Das sind doch alles nur Spekulationen«, meldete sich einer der Lehrer zu Wort.
»Doch, es wurde zweifelsfrei LSD sowohl in Janas Blut als auch in einer der Flaschen, die Doktor Blair aus der Umkleide mitgenommen hatte, nachgewiesen. Das Labor hat sich gerade bei ihr gemeldet«, erklärte Hongo, der immer noch sein Handy anstarrte.
»Wie hat sie das so schnell …« Ralf schien sehr verwirrt.
»Fragen Sie besser nicht. Ich habe selbst keine Ahnung. Fakt ist, dass hier in meiner Schule Drogen konsumiert wurden, und es nun bei uns liegt, herauszufinden, wie es dazu kam, und wer verantwortlich dafür ist. Alles andere ist bis dato unwichtig.«
»Und das Turnier?«, warf Herr Torbens ein.
»Ich werde unsere Teilnahme zurückziehen. Unsere Spitzenkandidatin ist noch immer bewusstlos, und solange ich nicht weiß, wer die Verantwortung trägt, wird niemand bei dem Turnier antreten.«
»Was, wenn sie das Zeug selbst genommen hat? Es wäre unfair den anderen gegenüber, wenn deswegen alle bestraft würden.« Torbens sprach da etwas aus, was einigen Lehrern durch die Köpfe schwirrte.
»LSD ist ein starkes Halluzinogen, wie wohl jeder von euch wissen wird. Wenn es wenigstens leistungssteigernde Wirkstoffe hätte, könnte man diese Überlegung in Betracht ziehen. Nein, ich bin sicher, dass sie es nicht freiwillig genommen hat.«
»Hat sie nicht.«
Erschrocken drehten sich die Lehrer zur Tür und erblickten dort Jana, die sich schwer atmend und nur mit Mühe am Türrahmen festklammerte.
»Um Gottes willen, was machst du denn hier? Du gehörst ins Bett!« Hongo war außer sich.
»Ich will zu diesem Turnier, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.« Blut tropfte von ihrem Handrücken auf den Boden. Sie stieß sich vom Türrahmen ab und taumelte zum Schreibtisch. »Ich will zu diesem Turnier«, wiederholte sie mit zusammen gebissenen Zähnen. »Bitte. Ich weiß, ich kann das schaffen. Bitte!« Sie stützte sich mit beiden Armen auf dem Schreibtisch ab und starrte Hongo mit unverwandtem Blick direkt in die Augen. Diese Willensstärke beeindruckte nicht nur ihn.
»Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten, aber gut, ich werde mit der Ärztin reden. Aber ich kann dir nichts versprechen.«
Herr Maier, der in der Zwischenzeit aufgestanden und zu Jana geeilt war, starrte seinen Kollegen finster an.»Aber nur, und wirklich nur, wenn Doktor Blair keine Einwände hat, darfst du antreten. Und jetzt mach, dass du wieder ins Bett kommst!«
Jana wirkte sichtlich erleichtert und atmete tief durch. Ihr Geist war mehr als willig, nur ihr Körper versagte ihr den Dienst, ihre Ellenbogen gaben nach und sie knickte zur Seite. Wieder einmal fing Ralf sie auf, bevor etwas Schlimmeres passieren konnte, nickte seinem Kollegen zu, der sofort verstand, dass er sich um sie kümmern würde, und trug Jana zurück zur Krankenstation. Sie war viel zu erschöpft, um sich zu wehren, im Gegenteil, sie war regelrecht dankbar, dass sie in seinen Armen lag und nicht selbst laufen musste.
Auf halbem Weg durchbrach er endlich das Schweigen: »Du bist so ein sturer Dickkopf. Bringst dich selbst in Gefahr, und wofür?«
»Es ist mein Traum«, hauchte sie.
»Traum hin oder her. Es ist einfach nur verantwortungslos.«
Bis zur Krankenstation herrschte wieder Schweigen. Ralf setzte das Mädchen auf dem Bett ab, wartete, bis sie sich hingelegt und zugedeckt hatte und wollte gerade gehen, um die Ärztin zu holen, damit diese die Infusion wieder anbringen konnte, als Jana ihn am Arm packte. »Hier brennt es doch nicht wirklich, oder?« Sie blickte sich ängstlich in dem kleinen Raum um. Auf Ralfs Zügen zeichnete sich ein kleines Lächeln ab. Er trat näher an ihr Bett heran, strich ihr vorsichtig eine Haarsträhne aus dem Gesicht und seine Stimme klang sehr beruhigend, als er sagte: »Keine Sorge. Hier ist alles in Ordnung. Ruh dich jetzt ein wenig aus!«
»Danke«, flüsterte sie.
* * *
»Ich kann nicht verstehen, wie Sie das zulassen können. Haben Sie sie gerade nicht gesehen? Sie ist völlig fertig.« Ralf versuchte mit aller Kraft den Direktor umzustimmen.
»Noch habe ich gar nichts zugelassen. Laut Frau Doktor sollte die Wirkung des LSD, auch wenn die Dosis relativ hoch war, spätestens morgen Abend abgebaut sein, und dann spricht aus medizinischer Sicht nichts dagegen.«
»Das ist doch unverantwortlich.«
»Was regen Sie sich eigentlich so auf? Sie sind nicht ihr Vater.«
»Nein, gewiss nicht, aber vielleicht sollte sich mal jemand so verhalten.«
»Schluss jetzt! Es ist meine Entscheidung, oder wollen Sie ihr sagen, dass sie nicht teilnehmen darf?«
»Sturer Esel«, murmelte Ralf, als er wenig später das Büro verließ.
* * *
Als Jana am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich noch schlechter als am Tag zuvor. Ihr Schädel brummte höllisch, ihr war speiübel und die Halluzinationen kamen auch noch, wann sie wollten. Als sie versuchte, sich aufzurichten, durchfuhr ein stechender Schmerz ihren Körper, dessen Ursache, wie sie gleich darauf feststellen musste, zwei große blaue Flecken waren, die quer über ihren Brustkorb verliefen. Klar, die Reling. Da bin ich volle Suppe rein gedonnert. Es war auch kein Wunder, dass sie den Schmerz gestern noch nicht gespürt hatte, so voll gepumpt mit Drogen, wie sie gewesen war. Sie musste sich zusammenreißen. Wenn irgendjemand mitbekommen sollte, wie schlecht es ihr ging, konnte sie sich das Turnier wirklich abschminken. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als die kommenden Tage allen einfach etwas vorzuspielen.
Erst, als sie einen Tag später in Hongos Auto saß und tatsächlich auf dem Weg nach Dortmund war, konnte sie aufatmen. Zwar hatte sie am Vormittag fast jedem, dem sie begegnet war, tausend Mal erklären müssen, dass sie sich wirklich in der Lage sah, an dem Turnier teilnehmen zu können, nicht zuletzt Izzy und Herrn Maier. Warum machte gerade er sich nur so viele Sorgen um sie? Doch das war jetzt alles unwichtig, in nicht mal einer Stunde waren sie, Herr Hongo und Julia, die ebenfalls teilnehmen würde, in Dortmund und schon morgen könnte sie zeigen, dass sie immer noch genauso gut war wie vor dem Sturz.
Ihrem Kopf ging es besser, der brummende Schmerz war einem kleineren, kaum wahrnehmbaren Hämmern gewichen und auch sonst waren alle Nachwirkungen der Drogen verflogen. Nur die Rippen taten noch weh, ganz besonders, wenn sie sich ruckartig bewegte.
Das Hotel, in dem sie abstiegen, war nur wenige Gehminuten von der Arena entfernt, in dem das Turnier stattfinden sollte. Es war klein, aber durchaus gemütlich. Nach dem Abendbrot, bei dem Jana eher nur in ihrem Essen rumgestochert hatte, zog sie sich rasch auf ihr Zimmer zurück, wo sie ungestört über den morgigen Tag nachdenken konnte. »Ich muss es schaffen, ich muss es einfach schaffen. Es darf nicht sein, dass die ganze Arbeit umsonst gewesen ist«, sprach sie wie ein Mantra immer und immer wieder vor sich hin, bis sie endlich in einen tiefen, aber unruhigen Schlaf fiel.
»Du siehst ein wenig blass aus, Jana. Geht es dir wirklich gut?« Herr Hongo schien nach wie vor besorgt zu sein.
»Mir gehtʼs gut. Ich bin nur aufgeregt, das ist alles. Wirklich.« Sie durfte jetzt keinen Fehler machen. Es waren nur noch ein paar Stunden bis zu dem Turnier, und noch konnte Hongo sie ausschließen lassen. Okay, als sie heute Morgen aufgewacht war, hatte sie sich übergeben müssen, so schlecht hatte sie sich gefühlt, aber das lag ganz bestimmt nur an der Aufregung.
Argwöhnisch, fast so, als könne er ihre Gedanken lesen, schaute er sie an, meinte aber nach kurzer Zeit mit einem tiefen Seufzer: »Dann lass uns mal loslegen. Das hier ist für dich.« Er drückte ihr ein kleines Päckchen in die Hand und ließ sie alleine.
Jana konnte ihren Augen kaum trauen; in dem Karton lag das wunderschönste Kleid, das sie je im Leben gesehen hatte. Es hatte beinahe dasselbe Grün wie ihre Augen und funkelte und glitzerte, wo man auch hinsah.
Nahezu eine Stunde dauerte es, bis sie fertig war. Ein letztes Mal schaute sie in den Spiegel, bevor sie schließlich ihr Zimmer verließ und im Korridor auf Julia traf, die in ihrem zitronengelben Kleid ziemlich aufgeregt wirkte und die ganze Zeit von einem Bein aufs andere hüpfte. In genau einer Stunde sollte das Turnier beginnen, auf das die beiden so lange hingearbeitet hatten. Zusammen mit ihrem Lehrer, der in der Lobby auf sie gewartet hatte, machten sie sich auf den Weg in das große Eisstadion. Da Jana schon einmal an einem Turnier teilgenommen hatte, wusste sie genau, was auf sie zukam – viele Menschen, begeisterte Unterhaltungen, freundliche Begrüßungen und mindestens ein Duzend genauso aufgeregter Mädchen, wie sie selbst es war. Bevor sich die beiden allerdings zu ihren Konkurrentinnen begeben konnten, mussten sie sich an der Anmeldung ihre Laufnummern abholen.
* * *
In Neustadt kochte die Luft förmlich über. Die Aufregung war fast greifbar. Wie bei jedem Turnier hatten die Lehrer einen riesigen Bildschirm im Speisesaal aufstellen lassen, um so gemeinsam das Turnier verfolgen zu können, und mit jeder Minute versammelten sich mehr Schülerinnen. Noch fast eine halbe Stunde verging, bis schließlich jemand rief: »Da seht! Es fängt an.« Und tatsächlich. Die erste Läuferin war aufs Eis getreten und wartete nun auf den Auftakt ihrer Musik.
* * *
»Mist, ich habe die Dreifachkombination total verkackt«, ärgerte sich Jana nach dem Ende ihres Kurzprogramms und hatte Mühe, ihre Tränen zu unterdrücken.
»Mach dir nichts draus. Du bist trotzdem auf dem dritten Platz«, versuchte Julia sie zu trösten.
Doch es half nichts, Jana war enttäuscht von sich selbst. Und das alles nur wegen den Schmerzen in der Brust, die ihre Bewegungen total einschränkten. Ihr blieb keine andere Wahl, wenn sie ihre Hauptkür bestehen wollte, musste sie es tun …
»Wie bitte? Ich soll dich tapen?« Herr Hongo starrte das junge Mädchen ungläubig an. Etwas beschämt zog sich Jana ihr Kleid vom Oberkörper und stand nur noch im BH vor ihrem Direktor, dem es bei dem Anblick fast die Sprache verschlug.
»Ich kann mich deswegen kaum bewegen. Ich bitte Sie, nein, ich flehe Sie an.«
»Scheiße. Warum hast du das nicht schon viel früher gesagt?«, vorsichtig tastete er nach dem Bluterguss auf ihrem unteren Rippenbogen.
Jana zuckte zusammen. »Dann hätte ich doch nie laufen dürfen.«
Hongo sah sie böse an.
»Bitte!«
»Scheiße, scheiße, scheiße. So eine verdammte Scheiße.« Aufgebracht schritt er in dem kleinen Raum auf und ab, raufte sich mehrmals die Haare, griff dann zu seiner Tasche und sagte: »Bring mich aber nie wieder in so eine Misere! Setz dich und halt den Arm hoch!«
Jana fiel ein Stein vom Herzen.
Mit geübten Handgriffen befestigte er mehrere blaue Tapestreifen auf ihrem Oberkörper und befand schließlich: »So, fertig.«
»Danke.«
Die zweite Runde hatte bereits begonnen, als die beiden zu Julia zurückkehrten, und keine zehn Minuten später wurde Jana aufgerufen. Mit angehaltenem Atem betrat sie die Eisfläche. Kurz bevor die Melodie erklang, erhaschte sie einen letzten Blick auf Herrn Hongo, der ihr aufmunternd zunickte. Jetzt fühlte sie sich frei, so unendlich frei. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, die Musik setzte ein und sie begann mit ihrer Choreografie.
Kaum waren die dreieinhalb Minuten vorbei, begann die Halle regelrecht zu toben. Jana fuhr strahlend zu ihrem Team hinüber, wo Hongo sie begeistert in seine Arme nahm. »Du warst unglaublich. Mein Gott, ich bin sprachlos.«
Wenige Sekunden später erschien die Punkteverteilung auf der riesigen Tafel.
»Herrgott nochmal, Jana, du hast die Höchstpunktzahl bekommen. Ich fasse es nicht. Damit bist du auf dem ersten Platz.«
Auch Jana konnte das kaum glauben und starrte fassungslos auf die Punkte. Vielleicht ist das alles nur ein Traum. Nein, ein Traum war das wirklich nicht. Sie hatte es geschafft, sie war auf dem ersten Platz gelandet, und auch keine der nachfolgenden fünf Eisläuferinnen konnte ihr diesen noch streitig machen.
Erst als die Siegerehrung begonnen hatte, Jana zusammen mit zwei anderen Mädchen auf dem Siegertreppchen stand und die goldene Medaille um den Hals trug, konnte sie es wirklich glauben. Doch je länger sie dort oben stand und von dem Blitzlichtgewitter der Fotografen geblendet wurde, desto merkwürdiger fühlte sie sich. Ihr wurde ganz heiß und alles um sie herum wurde immer undeutlicher und begann sich zu drehen – immer und immer schneller –, bis ihr ganz schwarz vor Augen wurde, sie das Gleichgewicht verlor und fiel.
* * *
Plötzlich war es ganz still im Internat – man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es. Geschockt blickten Lehrer und Schüler in den Fernseher. Keiner hatte so etwas erwartet. Wirklich jedem der Anwesenden ging nur eine einzige Frage durch den Kopf: Was ist da bloß passiert? Herr Maier war so überstürzt aufgesprungen, dass sein Stuhl mit einem lauten Krachen auf dem Boden aufgeschlagen war. So schnell er konnte, lief er in Begleitung einiger Kollegen in das Büro des Direktors, nahm dort den Hörer des Telefons zur Hand und wählte hastig eine Nummer. Es dauerte einen Moment, ehe sich am anderen Ende Herr Hongo meldete.
»Was ist passiert? Wie geht es ihr?«
»Das weiß ich selbst noch nicht. Wir sind gerade auf dem Weg ins Krankenhaus. Soweit ich mehr weiß, rufe ich zurück.«
Langsam legte der Lehrer den Hörer wieder auf und richtete sich mit schüttelndem Kopf seinen Kollegen zu, die sofort wussten, was er ihnen damit sagen wollte.
Genau in diesem Moment betraten Dorothea und Theresia den Raum, die diese Geste scheinbar falsch verstanden hatten und mit zitternder, fast weinender Stimme sagte Doro: »Wir wissen, wer Jana dieses Zeug in die Flasche getan hat. Aber wir wollten nie, dass ihr so etwas zustößt.«
Auch wenn Herr Maier ihr Klassenlehrer war und sich eigentlich um diese Angelegenheit hätte kümmern müssen, hatte er jetzt keinen Nerv dafür. Erst einmal musste er wissen, was mit Jana war, bevor er sich anderen Dingen widmen konnte.
»Wir kümmern uns darum«, meinten einige der Lehrer und folgten den beiden Mädchen.
Die Warterei zog sich ins Unendliche. Wie gebannt starrte Herr Maier auf das Telefon, das einfach nicht klingeln wollte. Erst als sich wenige Minuten später die Tür öffnete, wurde seine Aufmerksamkeit auf Isabell gelenkt, die soeben das Zimmer betreten hatte. »Wie geht es Jana?«, wollte das Mädchen von ihrem Lehrer wissen.
Niedergeschlagen und besorgt wandte er seinen Blick von ihr ab, schaute wieder zum Telefon und sagte mit leiser Stimme: »Ich weiß noch nichts Genaues. Aber wenn du magst, kannst du hierbleiben und mit mir auf Herrn Hongos Anruf warten.«
Schweigend setzte sich Izzy also neben ihren Lehrer auf den freien Stuhl. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde auch sie nervöser. Nur das Ticken der Standuhr war zu hören, so ruhig war es. Dann endlich klingelte das Telefon und ließ die beiden Wartenden heftig zusammenzucken. Blitzschnell hob Ralf ab und ohne erst zu fragen, wer am anderen Ende der Leitung war, fragte er: »Wie geht es ihr?«
»Es geht ihr gut. Sie hatte nur einen Schwächeanfall und schläft jetzt erst einmal. Die Aufregung war einfach zu viel für sie«, antwortete der Direktor.
»Nur ein Schwächeanfall? Wir sind fast umgekommen vor Sorge. Sie hätten Jana einfach nicht mitnehmen sollen.«
Er ging auf den Vorwurf nicht ein, erklärte stattdessen: »Die Ärzte hier gehen nicht davon aus, dass das die Nachwirkungen der Drogen waren. Aber um wirklich sicher zu gehen, muss sie die Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben. Deshalb werden wir morgen erst am späten Nachmittag zurück sein.«
Isabell, die alles mit angehört hatte, war erleichtert. Immerhin war ihrer Freundin nichts wirklich Schlimmes zugestoßen. Als sie jedoch aufstand, um zu gehen, bemerkte sie, dass Herr Maier immer noch genauso besorgt und niedergeschlagen aussah, wie noch vor wenigen Minuten. »Jana geht es doch gut«, sagte das Mädchen verwirrt. »Und Sie hätten das alles auch nicht verhindern können.«
»Oh doch, das hätte ich. Ich bin euer Lehrer und für euch verantwortlich. Ich hätte sie niemals mitfahren lassen dürfen.«
Er schlug die Hände vors Gesicht und Izzy wusste, auch ohne dass er es aussprach, dass er sich Vorwürfe machte und jetzt alleine sein wollte. Auch wenn die Ärzte anderer Meinung waren, glaubte Ralf Maier ganz fest daran, dass die beiden Vorfälle im Zusammenhang standen. Hatte er als Lehrer versagt? Es war seine Aufgabe als Klassenlehrer zu verhindern, dass es zum Streit zwischen den Mädchen seiner Klasse kam. Vielleicht hätte er Janas ersten Zusammenbruch nicht verhindern können, aber den zweiten ganz bestimmt. Hätte er doch nur nicht so schnell aufgegeben!
Was er allerdings nicht wusste, war, dass er Jana niemals hätte von ihrem Vorhaben abbringen können, nicht einmal Isabell hätte das geschafft. Denn nicht nur ihre smaragdgrünen und bezaubernden Augen hatte das Mädchen von ihrem Vater geerbt, sondern auch dessen Dickkopf.