Читать книгу Liebe ist Schicksal - Nikki Deed - Страница 7

5.

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Der Rest der Woche verging eigentlich recht schnell und ohne große Zwischenfälle, und je mehr Zeit Jana auf dem Eis verbrachte, desto besser wurde sie wieder. Vorbei waren die Stunden der Angst, fast schämte sie sich, wenn sie an die letzten Wochen dachte. Wem sie das zu verdanken hatte, wusste sie, doch war sie im Umgang mit Isabell immer noch etwas unsicher und so blieb sie erst einmal auf Distanz.


Als Jana an diesem Wochenende angestrengt über ihren Hausaufgaben saß – mittlerweile war sie schon zwei Monate hier –, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab, es fiel ihr ungemein schwer, sich auch nur einen Moment auf die Dinge zu konzentrieren, die vor ihr lagen. Nachdem sie bemerkte, dass sie lediglich ein paar Tintenkleckse auf ihren Aufgaben hinterlassen hatte, legte sie alles beiseite und holte ihr kleines Tagebuch zur Hand, welches sie gut versteckt hinter ihrem Nachttischschränkchen aufbewahrte. Immer, wenn sie nicht mehr weiter wusste oder ihre Trauer zu groß war, schlug sie es auf und schrieb ihre Gedanken nieder. So konnte sie wenigstens einem anvertrauen, wie sie sich fühlte und was in ihr vorging.


Hey du!

langsam komme ich hier recht gut zurecht, doch weiß ich auf der anderen Seite nicht mehr, was ich machen soll!

Ich habe keine Kraft mehr, um nach außen hin die Starke zu spielen. Ich vermisse meine Eltern so sehr, dass ich das Gefühl habe, mein Herz zerreißt, wenn ich nur an sie denke.

Und dann noch diese komischen Gefühle, die ich jedes Mal habe, wenn ich IHN sehe, und die von Tag zu Tag größer zu werden scheinen. Habe ich mich vielleicht verliebt? Aber das kann doch gar nicht sein… Er ist doch mein Lehrer und wird niemals die Gefühle für mich haben, die ich für ihn hege. Dabei weiß er noch nicht einmal davon, und er darf es auch niemals erfahren.

Warum muss denn alles nur so kompliziert sein?

Was soll ich denn nur machen?


Bis bald , mein Freund!


Stumme Tränen der Verzweiflung liefen ihr über die Wangen, in ihrem Kopf schienen sich die Gedanken fast zu überschlagen: Du musst dich jemandem anvertrauen! Einem Menschen – nicht einem Buch. Einer Freundin Ich würde gerne deine Freundin sein


Tief in ihr drin wusste sie, was zu tun war, doch ihr selbst fehlte der Mut. Ja, der Gedanke an eine Freundin, mit der man über alles reden konnte, die sogar ihre größte Leidenschaft mit ihr teilte, war überwältigend, doch diesen ersten Schritt zu gehen, dafür war sie noch nicht komplett bereit. Unentschlossen machte sie sich auf den Weg in die Eishalle. Hier würde sie einen klaren Kopf bekommen und für einen Moment alles um sich herum vergessen können, aber zu ihrem großen Bedauern waren beide Hallen besetzt.

»Zwei Dumme, ein Gedanke.«

Irritiert und erschrocken drehte sich Jana um und blickte direkt in die Augen von Isabell.

»Nicht, dass du dumm wärst, um Gottes willen, das wollte ich damit nicht sagen«, entgegnete diese schnell, als sie Janas verdutzten Gesichtsausdruck bemerkte.

»Schon klar.«

Beide konnten sich das Lachen nicht länger verkneifen.

»Hm … und was nun?«, fragte Jana eher an sich selbst gewandt.

»Ich hab ʼne Idee, komm mit!«

Ohne auf eine Antwort zu warten, packte Izzy die Hand ihrer Mitschülerin und schleifte sie hinter sich her. Den Weg, den sie nun entlang liefen, hatte Jana zuvor noch nicht wirklich beachtet, und so konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, wohin Isabell sie führte. Zuerst liefen sie durch den kleinen Garten, der hinter der Schule lag, dann vorbei an einer Allee hochgewachsener Bäume, bis sie schließlich ihr Ziel erreicht hatten und Izzy abrupt stehen blieb.

Jana konnte ihren Augen kaum glauben, so überwältigt war sie von diesem Anblick – der See, der direkt vor ihnen lag, war einfach wunderschön. Es war wie in einem Traum: Das tiefblaue Wasser glitzerte im untergehenden roten Sonnenlicht, darauf schwammen anmutig Schwäne, die märchenhaft ihre Bahnen zogen, das Gras und die Bäume ringsherum wiegten sich im sanften Wind.

Noch nie zuvor war sie hier gewesen – sondern hatte den See nur ein einziges Mal vom Auto aus gesehen, als sie in Neustadt angekommen war.

»Hab ich mir doch gedacht, dass es dir hier gefällt«, meinte Isabell, als sie bemerkte, wie erstaunt Jana war.

Wie verzaubert stand diese am Ufer des Sees und genoss einfach nur diesen herrlichen, traumhaften Ausblick. »Es ist einfach wunderschön. Hier fühle ich mich frei und unbekümmert, als ob alle meine Sorgen einfach von mir abfallen würden.«

»Du hast Sorgen? Erzähl mir davon! Du kannst mir vertrauen!«

Als Jana zögernd den Kopf hob und dabei dem Mädchen direkt in die Augen blickte, konnte sie erkennen, dass sie es wirklich ernst meinte, und ohne weiter darüber nachzudenken, fing sie an zu erzählen. Mehr als eine halbe Stunde lang hörte Isabell aufmerksam zu, bis sie schließlich sagte: »Und du kannst dich an gar nichts mehr erinnern, was zwischen der Ohrfeige deines Vaters und dem Aufwachen im Krankenhaus passiert ist?«

Traurig schüttelte Jana den Kopf und sagte mit leiser, kaum wahrnehmbarer Stimme: »Ich hab mich so oft versucht zu erinnern, aber es will und will nicht zurückkommen. Ich verstehe das einfach nicht.«

»Das muss ja schrecklich für dich gewesen sein, als du das alles erfahren hast.«

»Hm …« Mehr brachte sie nicht über ihre Lippen und schaute mit Tränen in den Augen hinaus auf den See.

Als konnte Izzy in Jana hineinschauen, fragte sie:

»Aber das ist noch nicht alles, was dich bedrückt. Hab ich recht?«

Zögernd wandte Jana ihren Blick ab und schaute abermals traurig in die Ferne. Sollte sie ihr wirklich noch von ihren Gefühlen gegenüber ihrem Mathelehrer erzählen, oder hatte sie nicht schon genug verraten? Hin und her gerissen überlegte sie, was sie nun tun sollte. Wenn sie Izzy alles erzählte, dann hätte sie jemanden, mit dem sie auch in Zukunft darüber reden konnte, aber auf der anderen Seite hatte Jana Angst davor, wie ihre Mitschülerin reagieren würde, wenn sie jetzt schon alles erfuhr, denn so nah standen sie sich nun wirklich nicht.

»Ist schon gut. Du brauchst es mir nicht verraten, wenn du nicht kannst. Aber wenn du irgendwann darüber reden willst, bin ich da. Okay?«

»Dankeschön.«


Einen Moment lang saßen sie schweigend nebeneinander, während die Sonne immer tiefer sank. Schließlich brach Izzy das Schweigen: »Hast du die Hausaufgaben für Bio schon gemacht? Ich komme nicht weiter, irgendwie fehlt mir da der Durchblick.«

Kichernd erwiderte Jana: »Mir geht es in Mathe so. Ich kann mich da einfach nicht richtig konzentrieren.«

»Na, das ist ja auch kein Wunder. Der Maier sieht aber auch zu gut aus, da ist man einfach zu schnell abgelenkt«, kicherte nun auch Izzy, die im Schein der Abendsonne zum Glück übersah, wie rot Jana wurde.

»Wenn du meinst«, räusperte sich Jana verlegen.

»Findest du das nicht? Seine Augen sind einfach unglaublich … hm … Aber Spaß beiseite, vielleicht können wir uns ja gegenseitig helfen. Du hilfst mir in meinen Problemfächern und ich dir bei deinen. Was meinst du?«


* * *


In den kommenden Tagen unternahmen die beiden sehr viel miteinander. Sie lernten für die Schule, trainierten auf dem Eis, fuhren mit ihren Inlinern durch die Stadt oder saßen einfach nur am See, der mittlerweile zu Janas Lieblingsplatz geworden war, und unterhielten sich über dieses und jenes. Da es abends auch des Öfteren etwas später wurde, kam es hin und wieder vor, dass Isabell die Nacht in Janas Zimmer verbrachte, da sie so spät einfach nicht mehr in den Korridoren erwischt werden wollte.

»Es wäre viel einfacher, wenn ich einfach hier in deinem Zimmer bleiben würde … also, wenn ich zu dir ziehen würde«, meinte Isabell nach knapp einer Woche und der dritten Nacht, welche sie in Janas Zimmer verbracht hatte – eigentlich mehr aus Spaß.

»Aber nur, wenn du mir zeigst, wie du deine Pirouettenkombination springst!«, konterte Jana ohne zu zögern.

»Das versuche ich dir doch schon die ganze Zeit beizubringen. Warte mal … Im Ernst jetzt? Oh wie geil, heißt das, du bist einverstanden?«

»Mann, hast du eine lange Leitung. Natürlich heißt das Ja.«


Nachdem sich die beiden die Zustimmung des Direktors geholt hatten, machten sie sich auch schon an die Arbeit, und da Isabell nicht allzu viele Sachen hatte, kamen sie recht gut und schnell voran.

»Oh je, Doro wird ganz schön sauer sein, wenn sie heute Abend feststellt, dass sie ab jetzt allein wohnt«, meinte Izzy nachdenklich, als sie ihre letzten Sachen in die Kiste geräumt hatte. Da Dorothea und Isabell bis dahin die Einzigen aus der Jahrgangsstufe im Eis–Team waren, hatten sie sich ein Zimmer geteilt, doch eine tiefere Freundschaft hatte sich zwischen ihnen nie wirklich entwickelt. »Hoffentlich rächt Sie sich nicht irgendwie. Sie ist schon immer neidisch auf alle, die besser sind als sie selbst. Sie ist intrigant, selbstsüchtig und versucht ständig, einem Steine in den Weg zu legen. Noch schlimmer ist nur ihre Schwester.«

»Meinst du nicht, dass du etwas übertreibst?«

»Bestimmt nicht, du wirst es schon noch sehen. Ich kann es zwar nicht beweisen, aber ich bin davon überzeugt, dass sie letztes Jahr meine Schlittschuhe manipuliert hat, weil ich und nicht sie am Turnier teilnehmen durfte.«

»Oh … was ist denn passiert?«

»Zum Glück nichts wirklich Schlimmes. Beim letzten Probelaufen ist mir beim Binden ein Schnürsenkel abgerissen und so musste ich auf mein zweites Paar zurückgreifen. Später hat mir dann der Schuster erklärt, dass die Nieten an der Kufe gelockert waren.«

»Und wie kommst du drauf, dass Doro das war?«

»Hm … ich weiß, das klingt komisch, aber das ist mehr so Intuition. Weist du, die Schuhe waren fast neu, ich hatte sie gerade erst richtig eingelaufen, und dann ihr Blick, als Hongo meinte, dass ich bei dem Turnier laufen werde.«

»Ach komm, du übertreibst!«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sei nur vorsichtig!«

»Mach dir um mich nur keine Sorgen! Sie wird sich an mir die Zähne ausbeißen.«


* * *


Am nächsten Tag, es war der letzte dieses Septembers und vor allem dieser Woche, ließ Herr Hongo beide Eislaufteams sich in der großen Eishalle versammeln, um eine Bombe platzen zu lassen: »Am ersten Dezember, also in weniger als neun Wochen, findet in Dortmund ein wichtiges Turnier statt, das zweien von euch die Chance auf die nächste Landesmeisterschaft eröffnen wird. Wer mich begleiten wird, hängt ganz davon ab, wie ihr euch in den kommenden Wochen bewährt, wie ihr euch in Kraft, Ausdauer und Geschick verbessert. Die endgültige Auswahl werde ich zu einem unbestimmten Zeitpunkt treffen. Bis dahin will ich sehen, dass ihr alle euer Bestes gebt! Bevor ihr euch jetzt aber übereifrig an die Arbeit macht, was wahrscheinlich in einem heillosen Durcheinander enden wird, gibt es noch ein paar grundlegende Veränderungen. Auch wenn einige von euch schon einmal an einem Turnier teilgenommen haben, muss ich immer wieder feststellen, dass der Kurzkür zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Bevor ihr euch alle eine eigene Choreographie ausdenkt, werden wir vorher die wichtigen Elemente durchgehen, damit ihr alle auf dem gleichen Stand seid. Darunter fallen beim Kurzprogramm der doppelte Axel, ein dreifacher Sprung, eine Sprungkombination, eine eingesprungene Pirouette, eine Grundpirouette, eine Pirouettenkombination und eine Schrittfolge. Erst wenn ihr diese beherrscht und ein gutes Kurzprogramm auf die Beine gestellt habt, werden wir an der Kür arbeiten, die weitaus mehr Sprünge, Pirouetten und Schrittfolgen beinhaltet. Doch nur die Besten von euch werden diese Gelegenheit bekommen. Das Training wird hart, und ich will keine Beschwerden hören!«


Und genau so wurde es von der ersten Sekunde an, kaum dass die Mädchen wieder in ihre beiden Klassen unterteilt worden waren. Es galt das Motto: Wer nach der Stunde noch stehen kann, hat nicht alles gegeben.

Da es unmöglich war, dass alle neun Mädchen zur gleichen Zeit auf dem Eis standen, wurde die Klasse in drei Gruppen à drei Schüler unterteilt; die einen standen auf dem Eis, die anderen waren an den Geräten und die letzten an den Ballettstangen. Nach jeweils einer halben Stunde wurde gewechselt. Zu allerletzt waren dann Jana, Isabell und Svenja auf dem Eis und mussten wie die anderen zuvor ihren doppelten Axel zeigen, und ebenfalls wie zuvor, hatte Hongo an jedem der Sprünge etwas auszusetzen. Immer wieder hallten seine Rufe durch die Halle. » … zu tief … früher abspringen … falsche Drehung … Beine übereinander …«

Die Schwierigkeit bestand nicht darin, den Sprung perfekt zu stehen – der Axel gehörte schließlich zu den Pflichtelementen, die von Beginn an trainiert wurden – sondern eher darin, ihn in einem Lauf dreimal hintereinander zu stehen, ohne an Schwung oder Kraft zu verlieren. Selbst Jana hatte so ihre Schwierigkeiten. Zweimal hintereinander war kein Problem für sie, doch beim dritten hatte sie kaum noch genügend Kraft. Izzy hingegen überstand die Dreierkombination ohne große Mühe, und erntete mal wieder sehr viel Lob.

»So will ich das von euch allen sehen! Nehmt euch mal ein Beispiel!«


»Meine Güte, bin ich fertig«, brachte Jana nur noch hervor, bevor sie sich auf ihr Bett fallen ließ. »Ist der immer so?«

Irritiert schaute Izzy sie an: »Wenn du meinst, heute war es schlimm, dann freu dich schon auf die Choreographien! Hongo gilt nicht ohne Grund als bester Lehrer.«

»Na super«, fing Jana an zu kichern. »Aber was mache ich denn falsch? Früher war das alles kein Problem für mich«, fragte sie, nun wieder ernster.

»Dir fehlt die Kraft. Du musst bei der ersten Landung ein wenig mehr ins Knie gehen, aber gleichzeitig das linke Bein stärker durchdrücken und waagerechter halten. Vielleicht sollten wir … also du, ein paar Extra–Einheiten auf dem Rudergerät einlegen. Aber nicht mehr heute«, fügte sie schnell hinzu, als Jana bereits im Aufbruch war. »Wir sollten uns ausruhen, und jeden Tag ein bisschen mehr machen. Oder willst du dich morgen vor lauter Muskelkater nicht mehr bewegen können? Komm, wir machen jetzt unsere Hausaufgaben und bereiten uns auf den Unterricht vor. Ich kenne Hongo; sind unsere Noten wegen dem Turnier in Gefahr, werden wir automatisch ausgeschlossen.«

Jana verdrehte nur die Augen und machte sich widerwillig an die Matheaufgaben. Eigentlich wollte sie viel lieber ins Bett und einfach nur noch schlafen. So ausgepowert hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Doch weit gefehlt – nach den Hausaufgaben schleifte Izzy sie zum Abendbrot und danach noch zu einem ausgiebigen Spaziergang.


Doch all die Strapazen zeigten am nächsten Tag Wirkung. Als Jana in der Früh erwachte, stellte sie erstaunt fest, dass nicht ein Muskel in ihrem Körper sich sträubte. Ganz anders sah es bei den übrigen Eismädels aus, die bei jedem Schritt zu humpeln schienen und ihr Leid jedem unterbreiteten, dem sie begegneten.

»Es ist jedes Mal das Gleiche«, Izzy konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Immer, wenn ein Turnier ansteht, kann man beobachten, wie sich alle darauf stürzen und ihre Körper so überfordern, dass die Leistungen eher nachlassen. In zwei oder drei Tagen haben wir abends die Eishalle für uns alleine und können so lange üben, wie wir wollen. Und jetzt iss dein Frühstück auf! Eine ausgewogene Ernährung gehört genauso zu einem guten Training.«

»Oh, du bist so schlau«, grinste Jana Izzy an, während sie ihr Omelette aß.


Genauso, wie es Isabell vorausgesagt hatte, kam es dann auch. Die meisten Mädchen gaben weiterhin alles, versuchten, jede freie Minute auf dem Eis zu stehen, vernachlässigten dafür das Krafttraining. Man konnte förmlich zusehen, wie deren Leistungen abnahmen. Jana und Izzy hingegen, ebenso wie zwei andere Mädchen aus der neunten Klasse, verbrachten mehr Zeit an den Geräten als auf dem Eis.

Der Montag kam, vor nicht mal drei Tagen hatten sie erfahren, dass ein Turnier stattfinden würde, und die erste Schülerin fiel bereits wegen Bänderüberdehnung aus, und weitere zwei Tage später war abends zumindest eine der beiden Eishallen leer, sodass die beiden Freundinnen zusammen mit Svenja und Sarah, den beiden aus der neunten Klasse, üben konnten. Schon recht schnell kristallisierte sich heraus, dass Izzy die beste von den vieren war, und somit als Trainer fungierte.

Morgens Unterricht, nachmittags Sport und Training, und abends die Einzeleinheiten, zwischendurch noch die Hausaufgaben und Vorbereitungen auf den kommenden Schulstoff – der straffe Zeitplan kam Jana nur allzu recht. Sie hatte kaum noch Zeit, um an ihre Gefühle ihrem Lehrer gegenüber zu denken. Nur wenn sie abends erschöpft im Bett lag, schweiften ihre Gedanken hin und wieder ab, wenn die Augen nicht gleich zufielen.


* * *


So vergingen die nächsten zwei Wochen. Mittlerweile waren zwei weitere Mädchen aus der anderen Klasse vom Turnier ausgeschlossen, als Herr Hongo endlich der Meinung war, dass die Grundelemente bei jedem so gut saßen, dass man sich dem Kurzprogramm zuwenden könnte. Dazu sollte sich jede der Schülerinnen bis zum nächsten Tag ein Lied aussuchen, zu dem sie laufen wollten. Aber es sollte nicht irgendein Lied sein; als besondere Herausforderung hatte Hongo vorgegeben, dass es eine bekannte Filmmusik sein sollte. Isabell musste nicht lange überlegen. Sie war schon immer eine quirlige und aufgeweckte Läuferin gewesen und entschied sich daher für die Titelmusik zu ›Fluch der Karibik‹. Jana allerdings hatte so überhaupt keine Idee. Zwar war sie früher immer zu eher klassischen Stücken gelaufen, doch wusste sie nicht, ob sie diese Richtung beibehalten sollte.

»Wie soll ich denn bis morgen wissen, welches Lied ich nehmen will? Ich war doch schon immer so entscheidungsfroh. Mann, das ist doch gemein.«

»Hm … lass uns doch mal überlegen, welcher Typ du bist! Du bist eher die schüchterne, stille, in sich gekehrte Person, die das Traurige magisch anzieht, oder?«

Entrüstet entgegnete Jana: »So siehst du mich also?«

»Stimmt es, oder stimmt es?«

»Ja, ja, du hast ja recht«, gab sie schließlich kleinlaut zurück.

»Ganz spontan würde ich ja jetzt sagen: Enya, ›Only times‹, aber ich wüsste jetzt auf die Schnelle nicht, ob oder in welchem Film das Lied vorkommt. Du bist wirklich schwierig.«

Etliche Minuten später, beide hatten das Thema schon fast vergessen, platzte Izzy schließlich mit einem Vorschlag heraus: ›Pearl Habor mit Tennessee‹. Warte kurz, ich glaub, ich hab die CD noch irgendwo.« Sie stürmte zu ihrem Schrank, kramte unendlich lange in ihren Kartons herum, bis sie zu dem CD–Player lief, eine CD einlegte und nur wenig später das gesuchte Lied anspielte.

»Meinst du echt?«

»Aber klar. Das passt wie die Faust aufs Auge.«

»Okay, dann aber dein Auge, vor allem, wenn Hongo nicht deiner Meinung ist.«


Isabell schlief bereits, während sich Jana in ihrem Bett immer noch hin und her wälzte. In Gedanken versuchte sie, ihr Kurzprogramm so zusammenzustellen, dass es auch zu der Musik passte. Doch es war wie verhext, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, immer wieder musste sie an Ralf Maier denken.

Der nächste Morgen kam schneller, als ihr lieb war, sie hätte schwören können, dass sie nur zwei Stunden geschlafen hatte, und so sah sie auch aus. Tiefe Augenringe zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab, sodass man hätte meinen können, sie habe die ganze Nacht hindurch geweint. Izzy schien dies zwar zu bemerken, verkniff sich aber jeden Kommentar, worüber Jana äußerst dankbar war. Wie sollte sie ihrer neuen Freundin auch erzählen, dass eine unerreichbare Liebe ihr den Schlaf raubte?

Gedankenverloren kritzelte sie auf ihren Unterlagen herum, während sie versuchte, dem Unterricht zu folgen, doch alles, was bei ihr ankam, war nur »Blablabla«. Als die Schulglocke endlich das Ende der letzten Stunde verkündete, atmete Jana mehr als erleichtert auf und packte geschwind ihre Sachen zusammen.

»Hey, hey, nicht so schnell! Warte auf mich!«, rief ihr Isabell noch nach, doch Jana war bereits zur Tür raus.


»Kannst du mir vielleicht mal verraten, was mit dir los ist?«, rüttelte Izzy Jana aus ihren Gedanken, als sie an diesem Abend über ihren Hausaufgaben brüteten, Jana aber immer wieder geistesabwesend Löcher in die Luft starrte. »Du bist schon den ganzen Tag so komisch. Im Unterricht schaust du die ganze Zeit nur aus dem Fenster und träumst vor dich hin. Dann warst du auf einmal weg und hast nichts gesagt. Und jetzt bist du mit deinen Gedanken doch auch schon wieder sonstwo. Was ist denn los?«

»Nichts, gar nichts. Mach dir keine Gedanken!«, versuchte Jana abzulenken.

»Hm, klar. Schau dir doch mal deine Notizen an! Wir sitzen jetzt schon eine Stunde hier und du hast nicht eine Aufgabe gelöst. Schau doch selbst!« Etwas sauer griff Isabell zu Janas Notizen.

»Nein! Nicht! Lass das!«

Jana versuchte, sie davon abzuhalten, sich ihren Schreibblock zu greifen, doch es war zu spät, und schon segelten mehrere kleine Zettel, die zwischen den Seiten lagen, zu Boden.

»Tut mir leid, das wollte ich nicht. Warte, ich helfe …« Gerade hatte sie sich gebückt, um einige der auf den Kopf gelandeten Blätter aufzuheben, als ihr Blick auf eine Zeichnung fiel. »Aber das ist doch der Maier … Hä? Wieso hast du den denn gemalt?«

Ohne auf die Frage zu reagieren, riss ihr Jana das Bild aus der Hand, hob die anderen Zettel auf und legte alle zusammen in ihre Unterlagen zurück.

»Hallo? Rede mit mir!«

»Lass mich doch einfach in Ruhe!«

»Vergiss es! Ich will endlich mal wissen, was hier los ist. Also raus mit der Sprache!«

Gereizt sprang Jana auf, der Stuhl fiel krachend zu Boden, und mit Händen zu Fäusten geballt stand sie nun am Tisch. Tränen tropften auf die Schularbeiten.

»Bitte, rede doch endlich mit mir!«

»Mann … verdammt, ich glaube, ich habe mich verliebt.«

»Mensch, Süße, das ist doch schön. Moment, warte mal, heißt das … willst du sagen … verliebt in den Maier?« Fassungslos starrte Izzy ihre Freundin an, die immer noch weinend dastand.

»Ich weiß doch selbst, dass das absurd ist. Aber was soll ich denn machen? Ich weiß einfach nicht mehr weiter.« Beschämt und völlig fertig ließ sich Jana zu Boden sinken. Izzy konnte sich diese herzzerreißende Szene nicht mehr länger mit ansehen, kniete sich neben sie, nahm ihre Freundin in die Arme und streichelte ihr behutsam über den Kopf.

»Och Süße. Es tut mir so leid, dass du so sehr leidest.« Jetzt hatte auch sie die größte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis sich Jana so weit beruhigt hatte, dass sie Isabell alles erzählen konnte.

»Dann war es für dich also Liebe auf den ersten Blick? Oh, das ist ja so romantisch. Ich bin richtig neidisch.«

Auf Janas Gesicht zeichnete sich zum ersten Mal dieses Tages ein Lächeln ab. »Ich weiß ja selbst, dass diese Gefühle schwachsinnig und falsch sind, aber sie machen mich auch irgendwie glücklich. Schon allein bei dem Gedanken an ihn, wird mir ganz warm ums Herz.«

»Und trotzdem geht es dir so schlecht.«

»Weißt du, es tut so weh, jemanden zu lieben und zu wissen, dass er niemals so empfinden wird, dass er niemals wissen wird, was er mir bedeutet. Wenn ich nur wüsste, wie ich diese Gefühle abstellen kann, aber ich … ich … «, fing sie wieder an zu schluchzen.

»Hey, hey, nicht wieder weinen. Ich weiß, ich kenne dich jetzt noch nicht so lange, und um Gottes willen, ich will dir nicht vorschreiben, was du machen sollst. Lass nur den Kopf nicht hängen, genieße deine Gefühle. Sei glücklich, dass du solche Gefühle hast und nutze sie zu was Großem. Ich bin hier, ich bin für dich da und werde es immer sein. Und jetzt Schluss mit dem Gejammer, wir müssen schließlich noch unsere Hausaufgaben erledigen!«


* * *


In dieser Nacht konnte Jana endlich einmal wieder richtig schlafen, die Unterhaltung mit Isabell hatte ihr eine riesige Last von der Seele genommen. In den darauffolgenden Tagen wich Izzy ihr keinen Moment von der Seite, holte sie aus ihren Tagträumen und spornte sie zu Höchstleistungen an. Allmählich nahm auch die Choreographie ihres Kurzprogramms Gestalt an, doch noch immer stand sie den dreifachen doppelten Axel nicht.

»Oh Mann, das gibt es doch gar nicht. Wieso klappt das denn nicht?« Missmutig stampfte sie mit dem linken Fuß auf und hinterließ eine kleine Kerbe im Eis.

»Du stößt dich bei den ersten beiden Sprüngen immer noch nicht stark genug vom Boden ab.«

»Du hast leicht reden. Seit Wochen versuch ich das jetzt schon. Und das blöde Rudergerät bringt auch nichts. Ist doch Mist!«

Izzy runzelte die Stirn, als ob ihr gerade etwas in den Sinn gekommen war. Ohne auf Janas fragende Miene zu achten, stürmte sie los und kam keine fünf Minuten später mit einem kleinen Paket in den Händen zurück, aus dem sie vier kleine silberne Manschetten holte. »Das sind Gewichte, jeweils zu zweihundertfünfzig Gramm.«

»Ja und? Was hast du jetzt mit denen vor?«

Jana hatte die Frage noch nicht ganz ausgesprochen, als Izzy ihr schon die erste am linken Schlittschuh befestigt hatte. Dann noch eine auf der rechten Seite, die dritte ums linke und die letzte ans rechte Handgelenk.

»Und jetzt? Soll das ʼnen Unterschied machen?«

»Sei doch nicht immer so ungeduldig! Du wirst es gleich sehen. Versuch jetzt mal einen ganz normalen einfachen Axel zu springen!«

Jana sah ihre Freundin an, als hätte diese den Verstand verloren. Sie wollte den doppelten dreimal hintereinander stehen und nicht wieder mit dem Basiswissen anfangen. Doch sie befolgte die Anweisung, lief sich kurz ein und setzte zum Sprung an.

Holla, was war das denn?

Beim Absprung merkte Jana deutlich, dass die kleinen Gewichte sie doch mehr behinderten, als sie gedacht hatte, doch stand sie den Sprung ohne größere Schwierigkeiten.

»Hm, okay, dann die hier.«

Kaum war Jana neben Izzy zum Stehen gekommen, tauschte Isabell auch schon die Manschetten aus.

»Los! Noch mal!«

Dieses Mal spürte Jana die Gewichte schon vom ersten Moment an und so sah auch der Sprung aus.

»So, mit denen läufst du jetzt so lange, bis jede Pirouette und jeder Sprung, ob einfach, doppelt oder dreifach, sitzt! Verstanden?«

»Verstanden schon, aber erklärst du mir auch, was das Ganze soll?«

»Ist doch ganz einfach: Du kannst deine Kraft nicht richtig einschätzen, sodass deine Sprünge zu tief sind. Mit den unterschiedlichen Gewichten hier musst du anders koordinieren und deine Kraftreserven mobilisieren. Und jetzt los, wir haben nur noch zwei Stunden bis zum Abendbrot!«

Im ersten Moment sah das gar nicht so schwer aus, doch entpuppte sich die Aufgabe schon wenig später. Die Dreihundert–Gramm–Manschetten konnte Jana zwar schon zehn Minuten später beiseitelegen, doch schon bei den nächsten, die lediglich fünfzig Gramm pro Einheit schwerer waren, hatte sie größere Schwierigkeiten.

So vergingen die Stunden, ohne dass der Berg Manschetten kleiner, dafür Jana aber immer frustrierter wurde.


»Mach dir keinen Kopf, wir haben Zeit und du wirst sehen, dass es hilft!«, versuchte Isabell ihre Freundin zu trösten, als sie auf ihrem Zimmer angelangt waren und sich Jana entnervt aufs Bett hatte fallen lassen. »Dein Wort in Gottes Ohr.«


Wie Izzy es vorhergesagt hatte, zeichneten sich bei Jana in den folgenden zwei Tagen sichtbare Fortschritte ab. Selbst die Siebenhundertfünfzig–Gramm–Manschetten machten ihr nach wenigen Versuchen nichts mehr aus und sie stand jeden Sprung.

»Das sollte jetzt reichen. Versuch jetzt mal, ohne die Gewichte deinen dreifachen doppelten Axel!«

Gesagt, getan. Ohne die Manschetten fühlte sich Jana plötzlich so viel leichter, sie schwebte förmlich übers Eis. Sie hatte eindeutig mehr Kraft und verschätzte sich prompt. Im Gegensatz zu vor drei Tagen sprang sie nun so kräftig ab, dass alle drei Sprünge ohne Schwierigkeiten klappten, doch hatte sie nach der letzten Landung noch so viel Schwung, dass sie nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte und mit voller Wucht gegen die Flächenabgrenzung krachte.

Als Isabell, immer noch geschockt, bei ihr angelangt war, richtete sich Jana bereits lachend auf und rieb sich über die Knie: »Oh Mann, erst zu wenig Schwung und jetzt zu viel. Aber wenigstens schaffe ich den Sprung jetzt.«

Jetzt stimmte auch Izzy ins Lachen ein.


Wieder einmal viel zu früh läutete es zum Unterrichtsende und so hatten die beiden keine Zeit mehr, ihre Choreographie noch einmal zu laufen. Da Herr Hongo aber morgen von allen die Kurzkür sehen wollte, um die Gruppe weiter zu verkleinern, beschlossen sie, nach dem Abendbrot noch mal eine kleine Übungsstunde einzulegen. Zu ihrer Überraschung hatten sie das Eis für sich alleine und konnten ungehindert trainieren.

»Toll, bei dir sieht das so einfach und gleichzeitig so super aus. Hongo wäre blöd, wenn er dich nicht mitnimmt«, schwärmte Jana, als Izzy ihr Programm vorgeführt hatte.

»Ach, übertreib nicht! Hier und da muss ich noch kleine Verbesserungen vornehmen. So und jetzt du!«

Da die beiden so mit ihrem Training beschäftigt waren, hatten sie nicht bemerkt, dass sie seit einigen Minuten Publikum hatten: Herr Hongo saß zusammen mit Herrn Torbens und Herrn Maier oben auf einer der Tribünen.


Izzy drückte auf Play ihres kleinen Recorders und die ersten Klänge von ›Tennessee‹ erfüllten den Raum. Schwerelos glitt Jana übers Eis, sie fühlte sich frei und gleichzeitig so lebendig. Ihren dreifach doppelten Axel stand sie problemlos, und auch sonst sahen ihre Figuren, ja ihre ganze Kür einfach atemberaubend aus.

»Das ist Jana, wie ich sie kenne. Sie lebt ihre Musik«, meinte Herr Hongo, als er sah, wie begeistert Herr Maier dem Schauspiel beiwohnte.

Als sie zum Abschluss in ihre letzte Pirouette einsetzte, entdeckte sie Ralf und ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Ein kurzer Augenblick, der reichte, dass sie komplett aus dem Takt kam und stürzte.

»Oh Gott, Jana, ist dir was passiert?« Izzy war sofort bei ihr und half ihr auf die Beine, während auch die drei Lehrer geschockt zu ihr eilten.

Warmes Blut lief Janas Arm hinunter, doch bevor dies jemand sehen konnte, bedeckte sie die Stelle mit ihrer Hand.

»Geht es dir gut? Das sah ja böse aus«, fragte Herr Hongo, als er die beiden Mädchen erreicht hatte.

Jana sah beschämt zu Boden. Izzy, die ihre Freundin noch immer stützte, wusste sofort, warum. Es war wegen ihres Klassenlehrers, wegen Ralf Maier. Also war er auch der Grund für ihren Sturz.

»Mir ist nichts passiert. Mir geht es gut. Wirklich.«

Izzys Blick fiel auf Janas Hand, das Blut sickerte langsam durch ihr Shirt.

»Aber wir sollten langsam Schluss machen für heute, Jana. Es ist schon spät.« Ohne die Reaktion der Lehrer abzuwarten, führte Isabell ihre Freundin aus der Halle und direkt in die Umkleidekabine. »Zeig mal her!«

»Ist nicht schlimm.«

Doch schon hatte Izzy Janas Arm gepackt und den Ärmel hoch geschoben. »Nicht schlimm, würde aber nicht so bluten … Oh je, dass sieht wirklich nicht gut aus.« Sowohl an ihrem linken Ellenbogen, als auch an der Schulter zeichneten sich einige tiefere Schürfwunden ab, die immer noch stark bluteten.

»Ich habe eben sehr dünnes Blut. Schon ein kleiner Piekser blutet bei mir total stark. Blöd nur, dass ich Null negativ bin.«

»Aha … und was bedeutet das?«

»Ich kann zwar jedem Blut spenden, aber wenn ich Blut brauche, muss der Spender auch Null negativ sein, da es sich sonst nicht verträgt. Und Spender mit meiner Blutgruppe sind selten. Ich glaube, unter zehn Prozent.«

»Ich weiß meine Blutgruppe gar nicht.«

Nachdem die Blutung so mehr oder weniger versorgt war – Izzy Tat, was sie konnte, doch es wäre ihr lieber gewesen, wenn Jana wenigstens mal kurz die Ärztin hätte drüber schauen lassen – machten sie sich auf in ihr Zimmer.

»Abgesehen von deinem Sturz am Ende war deine Kür definitiv besser als meine. Du sahst echt toll aus.«

»Ach quatsch … «

»Aber du musst dir echt was überlegen; du kannst ja nicht ständig aus dem Konzept kommen, wenn der Maier auftaucht!«

»Du hast es also bemerkt.«

»Mensch Jana, dass würde sogar ein Blinder merken. Wenn du nicht aufpasst, weiß hier bald jeder, dass du ihn magst.«


Während Isabell in dieser Nacht schon tief und fest schlummerte, konnte Jana einfach keinen Schlaf finden. Zu viele Gedanken kreisten ihr im Kopf herum. Sie versuchte, eine Möglichkeit zu finden, ihre Gefühle auszublenden, doch es war zwecklos.


Der nächste Morgen kam mal wieder viel zu schnell, doch Jana fühlte sich recht ausgeruht und fit – abgesehen von der noch immer schmerzenden Schulter und der damit verbundenen Bewegungseinschränkung. Die Unterrichtsstunden allerdings zogen sich wie Kaugummi, und je näher der Augenblick der Vorführung rückte, desto aufgeregter wurde sie. Sie musste es einfach schaffen, sie wollte beweisen, dass sie nicht das kleine hilflose Waisenmädchen war, sondern eine starke junge Frau, die sich trotz der Schicksalsschläge zurück ins Leben, an die Spitze kämpfen konnte.

Von den ursprünglichen achtzehn Mädchen waren nur noch zwölf übrig, ganz so, wie es Izzy vorhergesagt hatte, doch jede von ihnen lief ohne große Fehler. Nachdem auch Isabell eine Glanzleistung abgeliefert hatte, war endlich Jana an der Reihe. So aufgeregt wie heute war sie schon lange nicht mehr gewesen. Zu ihrem Glück waren nur die zwei Eislauftrainer anwesend, von Ralf fehlte jede Spur. Die Musik startete, sie atmete noch einmal tief durch und setzte sich in Bewegung …


»Ich muss gestehen, dass ich beeindruckt bin. Ihr alle habt euch um einiges verbessert, sodass uns die Entscheidung wahrlich nicht leicht fällt. Da nur zwei von euch mit nach Dortmund kommen, werden heute leider wieder einige von euch ausscheiden. Wir haben uns dazu entschlossen, heute acht von euch in die nächste Runde zu schicken. Wer das sein wird, könnt ihr in zwei Stunden am Schwarzen Brett erfahren. Freut euch aber nicht zu früh, denn die nächste Zeit wird richtig hart für euch werden. Bis zum Turnier sind es keine sechs Wochen mehr.«


Das Schwarze Brett befand sich in der Mitte des Glasdurchgangs, von dem aus man einen phantastischen Ausblick hatte. Eine riesige Schar Mädchen stand vor dem Aushang und verwehrte Jana und Izzy den Blick, doch anhand deren Reaktionen konnten sich die beiden Freundinnen recht schnell einen Überblick verschaffen, bis auch endlich Isabell sich durch die Menge gequetscht hatte.

»Wir sind beide noch dabei«, strahlte sie Jana an.

»Du machst Witze.«

»Nein, schau doch selbst, wenn du mir nicht glaubst. Außerdem sind sowohl Doro, als auch ihre ältere Schwester Theresia und deren Freundin Eva, die zwei Jahre über uns sind, weiter. Und Xenia und Maria aus der neunten, und Julia aus der elften Klasse.«

»Ah, okay. Dann bin ich mal gespannt, was jetzt die nächsten Wochen auf uns zukommt.«

»Das kann ich dir sagen: Nicht nur hartes Training, sondern sehr hartes Training.«

Wie aufs Kommando ließen beide die Schultern sinken und stöhnten gemeinsam auf, bevor sie in Gelächter ausbrachen.


* * *


Izzy behielt mal wieder recht: Das bisherige Training war nichts im Vergleich zu dem, was jetzt auf sie zu kam. Die erste Einheit begann noch vor Unterrichtsbeginn, die letzte endete kurz vor dem Abendbrot. Nach nur einer Woche mit diesem Pensum brach Maria unter Tränen zusammen, was ihren Ausschluss vom Turnier bedeutete.

»Mann, das ist doch unmenschlich«, ließ Eva ihrem Ärger freien Lauf, »wir buckeln uns hier noch zu Tode, und wofür?«

»Wenn du dem Druck nicht gewachsen bist, dann kannst du ja gehen und uns anderen die Eisfläche überlassen!«, donnerte Isabell zurück.

»Wer redet denn mit dir, Braun? DU solltest dich lieber zurücknehmen und deine große Klappe halten, sonst passiert noch ein Unglück!«

»Du drohst mir? Na komm schon, wenn du dich traust!«

Bevor Isabell wusste, wie ihr geschah, bekam sie einen so heftigen Stoß, dass sie das Gleichgewicht verlor und zu Boden krachte.

»ISABELL? EVA? Könnt ihr mir mal verraten, was in euch gefahren ist?« Hongo war fassungslos.

»Das war ihre Schuld …«, versuchte Doro, ihre Freundin zu schützen, doch schnitt ihr der Lehrer das Wort ab, indem er abrupt die Hand hob. »Es ist mir gleich, wessen Schuld es ist, oder wer angefangen hat. Ihr könnt eure Meinungsverschiedenheiten gerne auf dem Eis austragen, aber ich dulde hier keine körperlichen Auseinandersetzungen oder Handgreiflichkeiten! Eva, du kannst gehen!«

»Aber … «, versuchte sie zu widersprechen.

»Kein Aber, ich schließe dich vom weiteren Training und somit vom Turnier aus. Und das ist mein letztes Wort.«

Sie warf Isabell, die noch immer auf dem Boden saß, einen vernichtenden Blick zu und verließ wutentbrannt die Halle.

»Oh je, wenn Blicke töten könnten, wäre ich jetzt tot.«

»Das ist nicht witzig, Fräulein. Noch so eine Handlung und du fliegst ebenfalls. Hast du mich verstanden?«

Izzy hatte auf einmal einen riesigen Kloß im Hals und nickte nur. Mit Hongo war heute scheinbar nicht gut Kirschen essen.

»Lasst euch das alle eine Warnung sein! Und jetzt hoch mit dir, die Stunde hat längst begonnen.«

Wortlos versuchte sich Isabell aufzurichten, als ein unangenehmes Knacken und ein damit verbundener unerwartet heftiger Schmerz ihr rechtes Knie durchfuhr und sie mit einem dumpfen Aufschrei wieder zu Boden sackte.

»Oh Gott, Izzy, was ist passiert?« Jana war sofort an ihrer Seite und versuchte, ihr zu helfen. Das schmerzverzerrte Gesicht ihrer Freundin sprach Bände, mit Tränen in den Augen hielt sie ihr Knie. Sofort war auch Hongo zur Stelle, der nach einem kurzen Blick sofort erkannte, worum es sich bei Izzys Verletzung handeln musste. Ohne große Umschweife beendete er die Trainingseinheit und trug das Mädchen zur Krankenstation, wo Doktor Blair, eine US–amerikanische Ärztin Mitte vierzig nach nur kurzer Untersuchung mit texanischem Akzent Hongos Vermutung bestätigte: »Hier haben wir definitiv einen Bänderriss. Ob vollständig oder teilweise, kann ich so ohne Weiteres nicht sagen.«

»Aber sie wird doch in fünf Wochen wieder fit sein?«

»Das kann ich Ihnen zu hundert Prozent verneinen. Ganz egal, ob ein operativer Eingriff notwendig ist oder nicht, kann ich Ihnen prophezeien, dass Ms. Braun definitiv die nächsten zehn Wochen ausfällt. Tut mir leid.«

»Operation?« Isabell stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben.

»Keine Sorge, Kleine. Eine Operation ist auf jeden Fall die bessere Option. Der Heilungsprozess verläuft schneller und mit weniger Komplikationen, und kann sogar in den meisten Fällen ambulant durchgeführt werden«, versuchte die Ärztin die aufsteigende Panik zu mindern.

»Und ich kann hinterher wieder genauso Eislaufen wie vorher?«

»Wenn du dich schonst und ausreichend Physiotherapie machst, ganz bestimmt.«


Wie eine Seifenblase schienen nun aber Hongos Träume von dem Sieg bei diesem Turnier geplatzt zu sein. Er hatte all seine Hoffnungen in Isabell gelegt, die schon bei der letzten Meisterschaft den zweiten Platz belegt hatte. Bevor er sich mit dem jungen Mädchen auf den Weg ins Krankenhaus machte, ergriff diese die Hand von Jana. »Jetzt liegt alle Hoffnung bei dir.«

»Was meinst du?«

»Du musst die anderen besiegen und dir den Pokal holen!«

»Du bist ganz schön melodramatisch«, grinste Jana.

»Bitte, du musst es mir versprechen! Du musst gewinnen. Für dich, für mich, für uns alle.« Ernst sah sie ihre Freundin an und erst als diese »Okay, okay, ich verspreche es« entgegnete, prustete sie vor Lachen los.

»Oh Mann, du bist echt blöd.«


In dieser ersten Nacht so ganz alleine in ihrem Zimmer fand Jana keinen Schlaf. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Izzys Verletzung, das bevorstehende Turnier, das immense Training, die Angst zu versagen und die Gefühle für ihren Lehrer – das alles ließ ihr keine Ruhe. Als sie dem Hin–und–her–Gewälze schließlich überdrüssig war und die Nachttischlampe anknipste, war es bereits halb fünf. Sie ließ ihren Blick ziellos durchs Zimmer schweifen, blieb dann aber am Kalender hängen.

H eute ist schon der dreißigste Oktober. Ma n n, wie schnell die Zeit vergeht. Ach du Scheiße, dann hab ich ja heute Geburtstag.

Da es jetzt gänzlich mit der Nachtruhe vorbei war, stand Jana auf, schnappte sich ihre Schlittschuhe und machte sich auf den Weg in die Eishalle. Hier konnte sie zumindest ein bisschen abschalten, bevor der Alltag sie wieder einholte. Später im Unterricht schaffte sie es ohne Izzy einfach nicht, sich zu konzentrieren, sie blickte nur geistesabwesend aus dem Fenster. Trotz alledem verging der Tag recht schnell, und ehe man sich versah, war es Abendbrotzeit und alle tummelten sich im Speisesaal. Noch nie zuvor war Jana dieser furchtbare Lärm aufgefallen, der sich während des Essens durch die Reihen zog. Schon bald war ihr alles zu viel, ihr fehlte die Luft zum atmen und sie ging auf den kleinen Balkon, der sich am anderen Ende des Raumes befand.

Die Nacht war recht kühl, oben am Himmel strahlte der Vollmond durch eine kleine Wolkenlücke hindurch. Von drinnen drangen nur noch gedämpfte Geräusche zu ihr. Sie legte ihre Arme auf die kalte Brüstung und bettete ihren Kopf darauf. Schon recht bald kullerten die ersten Tränen. So verstrichen die Minuten, ohne dass sie es merkte. Im Speisesaal wurde es immer ruhiger, bis auch der letzte Schüler gegangen war und das Licht gelöscht wurde.

»Hallo? Ist hier noch jemand?« Jemand war auf den Balkon getreten. »Jana? Was machst du denn hier? Ist alles in Ordnung?« Die Stimme klang besorgt, es war die Stimme von Ralf Maier.

Erschrocken wandte sich das Mädchen um und blickte geradewegs in die blauen Augen ihres Mathelehrers, der besorgt mit ansah, wie sie sich ein paar Tränen aus den Augen wischte.

»Hey, hey, was hast du denn?«

»Gar nichts. Mir geht’s gut«, murmelte sie.

»Lügnerin. Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock aus fünfzig Metern Entfernung, dass dich etwas bedrückt. Es ist wegen deiner Eltern, hab ich recht?«

Sie schloss die Augen, öffnete sie wenig später wieder, blickte traurig zu den Sternen und sagte: »Ich habe mir die ganze Zeit nur etwas vorgemacht. Ich dachte, dass ich über ihren Tod hinweg sei, doch das stimmt nicht. Ich vermisse sie. Ich vermisse meine Eltern so sehr.« Sie ließ sich zu Boden sinken, stützte sich auf den Händen ab und weinte bitterlich.

»Nicht doch, nicht doch. Hör auf zu weinen!«, versuchte ihr Lehrer sie zu trösten, kniete sich neben sie und nahm sie, ohne zu zögern oder darüber nachzudenken, in seine Arme. »Oh Gott, du bist ja eiskalt.« Er zog sie fester an sich, schlang seine starken Arme um ihren zarten Körper. Sie wusste gar nicht, wie ihr geschah. Ihm so nah zu sein, war unbeschreiblich, die Welt schien plötzlich still zu stehen. Dafür schlug ihr Herz nun so heftig, dass es fast weh tat, doch konnte sie einfach nicht aufhören zu weinen.

Die Minuten vergingen, und je länger die beiden so dasaßen, desto ruhiger wurde sie, bis ihr Schluchzen endlich versiegte und sie sich aus seiner Umarmung lösen konnte.

»Besser?«, fragte er vorsichtig.

Peinlich berührt nickte sie bloß und wischte sich die letzten Tränen aus den Augen.

»Wir sollten besser reingehen, es ist ziemlich kalt hier draußen. Nicht, dass wir uns noch erkälten.« Er war bereits aufgesprungen und hielt ihr schon die Tür auf, als sie noch einmal gen Himmel blickte und murmelte: »Danke.«

Ralf sah verdutzt zu ihr, verstand aber sogleich.

»Nicht dafür, nicht dafür. Wenn du mal jemanden zum Reden brauchst, kannst du jederzeit zu mir kommen, ja?«

Ein schüchternes Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab und sie huschte schnell unter seinem Arm, mit dem er noch immer die Tür aufhielt, hindurch in den Raum.

»Jana?«

»Ja?«, fragte das Mädchen und drehte sich noch einmal zu ihm um. Er blickte von seiner Armbanduhr direkt in ihre Augen. »Es ist noch nicht zu spät. Alles Gute noch zum Geburtstag.«


Liebe ist Schicksal

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