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Kapitel 3

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Zerknittert, mit stechenden Rückenschmerzen und steifem Nacken erwachte Sean mit den ersten Sonnenstrahlen. Die Autotür öffnete er unter erheblichen Anstrengungen, hievte den linken Fuß heraus und ließ den Rest von sich herausfallen wie überreifes Obst. Zu mehr war er nicht in der Lage.

Der Asphalt war kalt und binnen weniger Sekunden spürte Sean Nässe durch sein Jackett und seine Hose dringen. Es musste nachts geregnet haben. Er konnte sein Glück kaum fassen. Wenn er schon mal hier unten war, sollte er sich vielleicht gleich auch das Gesicht in der Pfütze waschen.

Stöhnend richtete er sich auf und versuchte den groben Schmutz mit den Händen abzuklopfen, was die feuchten Flecken aber nicht schöner machte. Sein Haar stand wild von seinem Kopf ab, während tiefe Augenringe seine Verwandtschaft zu den Pandabären vermuten ließ. Rote und weiße Striemen zeichneten sich auf seiner Wange ab, da er die ganze Nacht auf irgendwas gelegen hatte, das einen deutlichen Abdruck auf seinem Gesicht hinterlassen hatte.

Sean streckte den Rücken durch, spürte die Wirbel einrasten, dann zog er einmal kräftig an seinem Jackett und machte sich selbstbewusst Richtung Eingangstür. Dort stellte er fest, dass sein Code bereits gesperrt worden war. Niedergeschlagen ließ er den Kopf hängen. Er hatte vor allen anderen ins Büro gehen wollen, damit keiner seinen erbärmlichen Zustand bemerkte. Bourdain war sicherlich schon dort.

Unsicher blickte er durch die Scheibe in die Eingangshalle. Bis auf ein paar Wachmänner, war es noch ausgestorben. Vergeblich versuchte er ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und ihnen pantomimisch zu zeigen, dass er seine Karte vergessen hatte. Sie bemerkten ihn nicht.

Eine unerwartete Berührung an seiner Schulter ließ ihn hochschrecken.

„Was machen Sie hier?“, fragte eine zaghafte Frauenstimme leise.

Sean wirbelte herum. Vor ihm stand eine schlanke junge Brünette in einem grauen Kostüm. Sie saß drei Blöcke von ihm entfernt. Ihr Name war…

„Nancy?“, fragte er unsicher.

„Ja. Sie kennen mich?“

„Ich bin’s. Sean Grandy.“ Sean strich sich durchs Haar und hoffte, dass sie ihn wiedererkennen würde. Einige verhängnisvolle Sekunden verstrichen, in denen sie ihn interessiert musterte.

„Wurden Sie überfallen?“

Sean wollte gerade abwinken, als er sich eines Besseren besann. „Ja. Und die Schweine haben mir auch meine Schlüsselkarte geklaut. Ich muss in mein Büro, um den Zweitschlüssel fürs Auto zu holen. Nachdem sie erkannt haben, was das für eine Rostlaube ist, hatten sie keine Motivation mehr es zu klauen. Die Schlüssel wiedergegeben haben sie mir aber nicht.“

„Oh mein Gott, Sie Ärmster. Wie lange stehen Sie denn schon hier? Haben Sie die Polizei informiert?“

„Das werde ich. Ganz sicher. Aber ich würde doch gerne nach Hause fahren und mich ein wenig frisch machen.“

„Das kann ich verstehen.“ Ihr skeptischer Blick durchbohrte ihn. Er hoffte, dass ihre Gutmütigkeit ausreichen würde, um seiner lahmen Lüge Glauben zu schenken. Das tat sie.

Bevor die Sicherheitsleute ihn bemerken konnten, schlüpfte Sean unauffällig durch die Tür zum Treppenhaus.

Im zweiten Stock verließ Sean das Treppenhaus und nahm den Lift nach oben in die Chefetage. Mit Erschrecken stellte er das Ausmaß seiner nächtlichen Schlafaktion im Auto fest. Aus der verspiegelten Innenverkleidung des Lifts blickte ihm ein Mann entgegen, den er selbst kaum wiedererkannte. Vergeblich versuchte er seine Haare mit etwas Spucke platt an seinen Kopf zu drücken, aber die widerspenstigen Strähnen weigerten sich ihm zu gehorchen.

Das unheilvolle Zing! des Fahrstuhls signalisierte, dass er angekommen war. In der Hölle. Sean atmete zwei Mal tief ein und aus, dann betrat er den Flur.

Augenblicklich flog der Kopf der Sekretärin im Vorzimmer hoch. Noch war praktisch niemand im Gebäude und schon gar nicht unterwegs zum Chef, um ihn gleich morgens zu stören. Bei seinem Anblick rutschte ihr die Brille von der Nase. Sie wirkte wie ein Geier, der gerade ein Stück Aas erblickt hatte. Sean schaffte es ganze drei Meter weit zu kommen, als sie hinter ihrem Schreibtisch hervorsprang und ihm den Weg versperrte.

„Wo wollen Sie denn hin, Mr. Grandy? Sie haben nach Ihrer Kündigung keinerlei Befugnis sich in diesem Gebäude aufzuhalten.“

Sie wusste davon. Selbstverständlich. Schließlich war sie Bourdains persönliche Sekretärin. Aber sie würde kein Hindernis darstellen, dachte er zumindest. Leider irrte er auch diesmal.

Erfolgreich hielt sie ihn mit vollem Körpereinsatz davon ab, sich zur Tür des Büros vorzuarbeiten. Ihre Rechte umschlang seinen Oberarm, während sie übers Headset den Sicherheitsdienst verständigte. Er hatte nur noch wenige Minuten, bevor er sich mit schmerzenden Gliedern auf der Straße wiederfinden würde.

Grob stieß er ihr seinen Ellenbogen in die Brust, was nicht besonders gentlemanlike war, aber ihm gingen die Optionen aus. Schnell riss er die Bürotür auf und wollte gerade im Raum dahinter verschwinden, als die Tür zurückfederte und krachend ins Schloss fiel. Sean spürte den Schlag der Vollholztür an der Wange. Zu seinem Pech hatte er sich gerade nach der Sekretärin umgesehen. Benommen taumelte er zurück.

Im Hintergrund hörte er die schweren Schritte des Sicherheitsdienstes im Flur widerhallen. Nur noch wenige Sekunden.

Unkoordiniert stolperte Sean mit der Sekretärin im Schlepptau durch die Tür. Sie hatte sich in seinem Jackett festgekrallt und ihre Stilettos in den weichen Teppichboden gerammt. Sean spürte, wie der Stoff unter ihren Nägeln nachgab. Schlimmer konnte es wirklich nicht mehr kommen.

Dann erblickte er Bourdain. Missfallend sah er die beiden Störenfriede an, als wären sie Außerirdische von einem anderen Planeten. Seine himmelblauen Augen lagen hauptsächlich auf Sean.

„Ich muss mit Ihnen sprechen, Mr. Bourdain. Diese Angelegenheit duldet keinen Aufschub“, sagte er mit unerwartet sicherer Stimme.

Sein Chef musste nur die Hand heben und das kreischende Teufelsweib verschwand, wie durch Zauberhand zusammen mit dem Sicherheitsdienst, der polternd eingetroffen war.

So macht er das also. Einfach schnippen und jeder tat, was er wollte. Nicht mit mir.

Sobald sie alleine waren, musterte Bourdain Sean mit regem Interesse. Der Blonde glaubte, dass er sowohl Häme, als auch Sehnsucht in seinen Augen erkannte. Was absolut widersprüchlich war. Unerwartet begann er seinen Chef anzuschreien.

„Das ist-,“ Sean unterbrach sich selbst, um peinlich berührt die Tür zu schließen, bevor er fortfuhr. Dieses Mal etwas leiser.

„Das ist sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Ich könnte Sie anzeigen.“

Ein süffisantes Lächeln umspielte Bourdains Lippen, während er die Arbeit, mit der er vor der unbedeutenden Unterbrechung beschäftigt war, fortsetzte. Er ignorierte Sean, so als ob er ein Lüftchen wäre, das aus den geöffneten Fenstern herein wehte.

Drohend kam Sean näher. Zumindest hoffte er, bedrohlich zu wirken. Trotzig reckte er das Kinn in die Höhe und ließ seine Brust anschwellen, wobei er sich wie ein Gockel vorkam, der eine Henne umwarb.

„Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?“, fragte Sean mit tiefer drohender Stimme.

„Witzig, dass Sie die ganze Nacht gebraucht haben, um das auszubaldowern.“

„Sie gehen ins Gefängnis.“

Bourdain lächelte erneut, bevor er amüsiert sein Gegenüber betrachtete.

„Nein, das tue ich nicht“, antwortete er mit gelassener Arroganz.

„Tatsächlich?“

Sean kam sich erschreckend erbärmlich vor. Sein Zorn war wie weggeblasen. Seine Naivität pinkelte ihm wie üblich dreckig lachend ans Bein. Er war nicht Furcht einflößend genug. Jedes anständige Menschenwesen hätte diesem verabscheuungswürdigen Ekelpaket mit einem Tritt die Kronjuwelen zerschmettert oder wenigstens eine deftige Ohrfeige versetzt. Er dagegen wollte nur noch die Flucht ergreifen.

„In weniger als zehn Sekunden hätten meine Anwälte Sie fertiggemacht. Dann würden Sie wegen Verleumdung einsitzen. Sie hätten weder Geld, noch Würde und binnen weniger Tage, sicherlich auch keine Unschuld mehr.“ Bourdain zog die Augenbrauen hoch, als ob ihm der letzte Punkt seiner Ansprache besonderes Vergnügen bereiten würde.

„Sobald Sie wieder draußen sind, werden Sie keinen besseren Job, als den eines Putzmanns bekommen, das ist Ihnen doch klar.“

Sean schwieg, sichtlich überrumpelt von der traurigen Wahrheit. Verschwörerisch laut tickten die Sekundenzeiger der großen, goldenen Uhr hinter ihm, wie ein unheilvolles Ungeheuer, während seine nicht gerade rosige Zukunftsversion, vor seinem geistigen Auge ablief.

„Sie wissen schon, was Sie da verlangen.“

„Nein, was verlange ich denn?“, fragte Bourdain mit Unschuldsmine.

„Ich soll mich für Sie prostituieren“, flüsterte Sean heiser. „Ich bin vielleicht verzweifelt, aber nicht total bescheuert.“

„Und was wollen Sie dann hier?“

„Das ist unmoralisch.“

„Was interessiert mich das? Sie haben immer noch die Wahl. Und können einfach verschwinden. Wenn Sie sonst nichts mehr zu sagen haben, dann entschuldigen Sie mich bitte, Mr. Grandy. Ich habe zu arbeiten.“

Indem Bourdain sich seiner Arbeit widmete, signalisierte er Sean, dass für ihn das Thema erledigt war. Sean ließ die Schultern hängen. Und ging.

Niedergeschlagen fiel sein Blick auf die Sekretärin, die ihn missgelaunt beäugte und die Hand bereits nach ihrem Telefon ausstreckte, als er auf dem Absatz kehrt machte und erneut in Bourdains Büro zurückstampfte.

Das war unmoralisch, aber ohne den Job war er schlimmer dran und vielleicht würde Bourdain sich ja noch besinnen. Er konnte ihn immer noch von seinen Fähigkeiten als wertvoller Mitarbeiter überzeugen. Seine Chancen standen besser, wenn er blieb. Nüchtern musste er die Wahrheit akzeptieren, dass er sich nicht in der Lage befand, dieses Angebot, egal wie vermessen es war, abzulehnen.

Die Rollläden vor der Glasfront waren noch immer zugezogen. Allerdings waren sie repariert worden. Sean versuchte seinen Verstand aus der Situation rauszuhalten. So schlimm würde es schon nicht werden.

Oder?

Holden Bordain stand am Fenster seines Büros, während er über die Stadt hinweg blickte. Ihm entfuhr ein überraschter Seufzer, als Sean ihn herumdrehte und ihre Lippen hart aufeinander legte. Überrumpelt stolperte er zurück. Seine Oberschenkel stießen gegen seinen Schreibtisch und Sean schaffte es sogar ihn so ungestüm zu schubsen, dass Holden den Bildschirm seines PCs umwarf.

Er durfte einfach nicht darüber nachdenken.

Weniger denken.

Das funktioniert nicht!

Sean spürte die Panik in seinem Inneren aufkeimen. Da half es auch nicht an quietschende, kleine Hundewelpen oder Blumengestecke zu denken. Es änderte nichts daran, dass die Lippen unter den seinen fest waren, der Dreitagesbart seines Chefs seine Wange aufscheuerte und der bittere Geschmack, von dessen morgendlichem Kaffee seine Zunge belegte.

Es war Holden, der den Kuss abrupt beendete, indem er ihn grob zurückstieß. Sein Atem ging schwer, als er sich mit der Handfläche über den Mund wischte.

„Sind Sie denn komplett von Sinnen?“

Chicago Affair

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