Читать книгу Chicago Affair - Niko Arendt - Страница 8

Kapitel 5

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„Zu spät, Mr. Grandy!“

„Es tut mir leid, ich-“

„Das interessiert mich nicht.“

„Ich hab‘ auch nichts anderes erwartet“, gab Sean leise zu. Er war völlig außer Atem. Seine Lungen brannten und schmerzhafte Stiche malträtierten seinen Bauch. Mit den Händen stützte er sich auf seinen Knien ab und versuchte ruhig zu atmen.

„Hol das Auto“, befahl Bourdain ihm.

„Scheiße, kannst du mir nicht mal sagen, was hier los ist?“, fragte Sean verzweifelt. Er merkte nicht einmal, dass er in die kumpelhafte Anrede gewechselt hatte und seinen Chef duzte.

Sofort“, ignorierte Bourdain ihn und warf ihm die Schlüssel entgegen, die Sean rechtzeitig auffing, bevor das Metall seine Stirn traf. „Ich hab was Besseres zu tun, als Ihnen beim Atmen zuzusehen.“

Was dem wohl wieder für eine Laus über die Leber gelaufen ist?

Kommentarlos spurtete Sean zu dessen Parkplatz. In der Zeit hätte sein Boss ruhig schon das Auto bereitstellen können, wenn er es so eilig hatte. Es waren nur ein paar Minuten, höchstens eine halbe Stunde, die er zu spät war.

Sobald Sean aber das Prachtstück von Auto erblickte, vergaß er sein beschissenes Leben, seinen Chef und die Arbeit und erfreute sich stattdessen lieber an dem Anblick, der sich ihm bot.

Vor ihm stand ein sturmgrauer Audi R8 V10 Spyder. In der nachmittägigen Sonne reflektierte der Lack Seans Abbild, als wäre es ein Spiegel. Das Licht und Schattenspiel erweckte den Eindruck von dynamischer Bewegung, obwohl das Fahrzeug still stand. Die Felgen und die ledernen Seitenteile der Sitze waren blutrot und untermalten die finstere Aura des metallenen Monsters vor ihm.

Sean musste schwer schlucken. Speichel hatte sich in seinem Mund sinnflutartig zusammengestaut. Nicht selten hatte er Bourdains Auto aus der Entfernung bewundert, sich selbst darin vorgestellt, wie er mit der Hand über das in Leder eingefasste Lenkrad strich und seine Faust um den Schaltknüppel gelegt hätte. Er hatte sich das Gefühl vorgestellt, wenn er auf das Gaspedal trat, der Motor laut aufbegehrte und er das Untier zum Leben erweckte.

Er wurde nicht enttäuscht. Die Realität war sogar um einiges besser, als seine Fantasien. Mit dunklem Grollen erwachte der Motor. Unmerklich schwoll Seans Brust an. Er kam sich nicht mehr ganz so bedeutungslos vor.

Selbst die kurze Strecke, die er vom Parkplatz zu Bourdain zurücklegte, reichte bereits aus, damit er sich beflügelt fühlte. Er wurde eins mit dem Auto. In diesen wenigen Sekunden gab es Bourdain nicht. Keine Amanda. Keine Geldsorgen. Und vor allem keine Verpflichtungen mehr.

Doch das Glück währte nicht lange. Sobald er das ungeduldige, genervte Gesicht seines Chefs erblickte, spielte Sean mit dem Gedanken diesen einfach zu überfahren und davonzubrausen. Nur er allein und der röhrende Motor. Allerdings verwarf er diese Idee schnell wieder. Fortuna wäre ihm nicht hold. Binnen weniger Minuten wären die Bullen da, er würde ins Gefängnis kommen. Bitter überrollte ihn die knallharte Realität. Er war nicht zum Vergnügen hier.

,Sklaventreiber‘, dachte er, als er vor Bourdain zum Stehen kam. Kein Stück Spaß war ihm vergönnt.

Behutsam strich Sean über das perfekt geformte, rot-schwarze Lenkrad. Er seufzte schwer und wollte gerade aussteigen, bemerkte jedoch, dass sein Chef an der Beifahrerseite eingestiegen war. Verwundert runzelte er die Stirn.

„Wenn Sie mit der Speichelsammlung fertig sind, könnten wir dann losfahren?“, fragte Bourdain sarkastisch. Seine Stimme hatte den größten Teil seiner Schärfe eingebüßt. Er wirkte jetzt einfach nur angespannt. „Wenn Sie mir auch nur einen Kratzer reinmachen, bezahlen Sie dafür für den Rest Ihres Lebens in Naturalien.“

„Verstanden, El Capitaine“, Sean hatte ihm nicht wirklich zugehört, ansonsten würde er nicht mehr so gelassen dasitzen. Dafür war er einfach zu glücklich dieses Baby fahren zu dürfen.

„Lassen Sie den Unsinn.“

„Wer hat Ihnen denn heute in den Kaffee gepinkelt?“, fragte Sean heiter, sobald das Auto losfuhr. Wie durch Butter glitten Sie auf die Hauptstraße hinaus und brausten Richtung Innenstadt.

Bourdain zog es vor ihn zu ignorieren und ihre Unterhaltung auf die knappen Anweisungen zu ihrem Zielort, der Shoppingmall, zu beschränken. Irgendwie wirkte er in sich gekehrt, nachdenklich. Sean war sich nicht sicher, ob er überhaupt wissen wollte, was diesen quälte.

Zu Seans Bedauern blieben die 525 PS des Audis ungenutzt. Die Fahrt dauerte keine halbe Stunde und das auch nur, weil sie die meiste Zeit an roten Ampeln standen.

Elegant lenkte Sean das Fahrzeug auf einen für gewisse Kunden ausgelobten Parkplatz und kam in einer Lücke zum stehen.Trotz der etwas langen Türen des Audis und den großen Autos, die an den Seiten wie Säulen emporragten, konnten sie mühelos aussteigen. Für Reiche machte man eben größere Parkplätze.

Der überdimensionale Escalade zur Rechten und der Dodge Pickup zur Linken ließen den Audi wie ein Spielzeugauto wirken. Es war unverkennbar, welche Leute hier einkauften. Super reich, superarrogant, mit null Sinn für die arme Umwelt, die unter dem CO2-Ausstoß dieser Riesen erstickte. Menschen, die mit ihrem Geld einfach alles kaufen konnten, das ihrem aufgeblasenem Ego schmeichelte und ihre ansonsten knittrige Persönlichkeit aufbügelte. Aber die schwarzen Flecken auf ihrer Seele würden sie mit keinem Auto, keiner teuren Guccitasche und keinem Pradaschuh verbergen können.

Auf ihrem Weg durch die Straßen hob nicht selten irgendjemand zur Begrüßung die Hand, denen Holden seinerseits ein Nicken oder charmantes Lächeln zuwarf, ansonsten jedoch schwieg.

Alle waren fein rausgeputzt, Schmuck glänzte an ihren Fingern, ihre Haare waren perfekt frisiert. Sean hatte das mulmige Gefühl, man hätte ein schmutziges Schwein zu einem Juwelier geschickt. Und er war das Schwein. Jeglicher Versuch seinen ruinierten Anzug zu richten, scheiterte kläglich. Einem dressierten Hündchen gleich folgte er Bourdain dicht auf den Fersen, wirkte aber keinesfalls so, als ob er zu ihm gehören würde.

Erstaunlich wie viele Menschen nichts Besseres zu tun hatten, außer Geld auszugeben. Bei so gutem Wetter quollen die Cafés und Restaurants über. Heiteres Geplapper beherrschte die Passage.

In Gedanken versunken, bemerkte Sean nicht, dass Bourdain stehen geblieben war und rannte ungebremst in dessen Rücken.

„Machen Sie die Augen auf, Mr. Grandy. Sie sind hier nicht beim Weihnachtsbummel mit Ihrer Frau, sondern noch immer auf der Arbeit.“

„Wir sind da“, sagte jener überflüssiger Weise und ermahnte Sean mit einem einzigen bissigen Blick zur Ordnung.

Tss. Der hatte ja keine Ahnung. Mit Amanda shoppen zu gehen, war die Vorstufe zur Hölle, dagegen war das ein Sonntagsspaziergang, obwohl sein Chef ihrer Laune momentan richtig Konkurrenz machte. Was war so falsch daran, sich gelassen zu geben?

„Sie sind heute so zickig. Hoffentlich ist das nicht ansteckend“, brummte Sean in sich hinein.

„Tun Sie bitte, was ich sage!“, knurrte Bourdain ihm zu, bevor er mit einer komplett ausgewechselten Miene eine kleine Boutique an der Straßenecke betrat. Durch seinen Eintritt schien der Laden überhaupt erst zum Leben zu erwachen.

Eine junge Frau mit hübschen Korkenzieherlocken kam leichtfüßig angeschwirrt und grüßte Bourdain mit Küsschen rechts, Küsschen links. Herzlich grüßte er sie zurück und setzte sein charmantestes Lächeln auf. Doch Sean konnte die verspannte Muskulatur an seinem Hals und Kiefer erkennen, ebenso wie die zusammengebissenen Zähne. Sein Auftreten war nur Show.

Holden, schön dich zu sehen. Wie kann ich dir helfen, mein Lieber?“, sagte die Dame mit verführerischer, samtiger Stimme, als ob sie Werbung für edle Pralinen machen würde.

„Ich brauche einen neuen Anzug. Für meinen Freund hier, Rosaline.“

Bourdain trat einen Schritt zur Seite und stellte ihr Sean vor. Ihr Lächeln begann bei seinem Anblick leicht zu bröckeln. Sean nahm es ihr nicht übel. Er hätte an ihrer Stelle bestimmt genauso reagiert.

„Nun ja, er wurde von einer fürchterlich, aggressiven Bulldogge attackiert. Kein Scherz. Ich kann mich so nicht mit ihm blicken lassen.“ Bourdain klopfte ihm scherzhaft auf die Brust, während Rosaline ein gespielt schockiertes Gesicht aufsetzte. Die Ausführung war mehr als dürftig. Die Erklärung er habe im Auto geschlafen, sich in einer Pfütze ertränkt und gegen Holdens Sekretärin gekämpft, anschließend seinen Chef angefallen und Kaffee über den kläglichen Rest seiner Kleidung verschüttet, würde wohl einfach den Rahmen sprengen.

„Außerdem braucht er eine neue Robe für heute Abend. Er ist so schrecklich bescheiden und würde es niemals zugeben, aber mit seinem alten Fetzen kann er nur noch Kinder an Halloween erschrecken.“

Beide lachten, wodurch Sean sich erst recht fehl am Platz fühlte. Unwohl trat er von einem Fuß auf den anderen. Bourdains Anspannung schien auf ihn übergesprungen zu sein. Es hatte einen Grund, weswegen seine Laune im Keller war und Sean war sich nicht mehr so sicher, ob er diesen überhaupt noch erfahren wollte.

Rosalines Lippen kräuselten sich, als sie ihn amüsiert betrachtete, dann warf sie einen Blick in Holdens Richtung.

„Keine Sorge wir machen aus Aschenputtel schon eine glaubwürdige Prinzessin.“ Sie grinste. „Er wird heute Abend umwerfend aussehen, dafür werde ich sorgen.“

Mit diesen Worten hackte sie sich bei Sean unter und zog ihn fort. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie sogar mehr wusste als er. Was war denn nur an diesem Abend? Verwirrt blickte er über die Schulter zu Bourdain.

„Was ist denn heute Abend?“

Er bekam keine Antwort.

Mit einer Kraft, die er der zierlichen Frau nicht zugetraut hätte, bugsierte sie ihn in die Umkleideräume, die von außen schmaler wirkten, als sie tatsächlich waren. Dort hätte mühelos eine sechsköpfige Familie Platz, ohne sich dabei auf die Füße zu treten. Die Ausstattung war edel, nicht überladen und eher einfach gehalten, mit einer Sitzbank, einem riesigen Spiegel, der vom Boden bis zur Decke reichte und einem Garderobenständer. Unter der Sitzbank standen eine Reihe säuberlich polierter Schuhe, die relativ universell gehalten waren und somit praktisch zu jedem Anzug passen würden.

Irritiert ließ Sean sich von Rosaline das Jackett von den Schultern streifen, welches sie sogleich an die Garderobe hängte. Dann schwirrte sie leichtfüßig davon, kam aber bereits nach wenigen Minuten, mit einem sandfarbenen, zweiteiligen Anzug, einem hellen Hemd in Creme und einer nachtblauen Krawatte, wieder zurück.

„Die Größe müsste stimmen. Ich finde, helle Farben passen zu Ihrem fröhlichen Gemüt. Während Sie anprobieren, stelle ich Ihre Abendrobe zusammen,“ sie lächelte. Fragend blickte Sean sie an. Woher wusste sie denn etwas über sein Gemüt?

„Ich weiß schon, was er an Ihnen findet.“ Ihr verschmitztes Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Und sie klopfte Bourdain, der aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien auf die Brust. Dann verschwand sie eben so schnell, wie sie gekommen war und Sean sah sich seinem Chef alleine gegenüber. Dieser schloss die Tür hinter sich, als er in die Umkleide eintrat.

„Ausziehen!“, befahl er.

„Wie bitte?“

„Du hast mich schon verstanden.“

Wow. Er hatte damit gerechnet, aber so schnell? Wirklich? Irgendwie kam das jetzt total unerwartet und - scheiße, er war überhaupt nicht vorbereitet.

„Hör auf nachzudenken. Ich will dich nicht vernaschen.“ Zum ersten Mal an diesem Tag schlich sich ein sanftes Lächeln auf Bourdains ernste Züge. „Noch nicht.“

„Dann jag mir doch nicht so einen verdammten Schrecken ein.“

„Mach dir nicht gleich in den Schlüpfer.“

Bourdain machte zwei große Schritte, dann stand er Sean von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Sean schluckte. Sie waren beide in etwa gleich groß, obwohl Sean wesentlich mehr Körpermasse aufwies. Mit seriöser Professionalität machte Bourdain sich an Seans hässlicher Krawatte zu schaffen, dabei zog er die Augenbraue hoch und seine Oberlippe kräuselte sich unmerklich in Abscheu. Sean reichte das aus, um seine Gedanken erahnen zu können.

„Die hat Amanda mir geschenkt. Ich hätte sie ja längst verbrannt, aber dann würde ich bald selbst auf dem Scheiterhaufen landen“, rechtfertigte er sich.

„Die Krawatte oder Amanda?“

„Du hast ja keine Ahnung,“ witzelte der Blonde, womit er auch seine aufkeimende Nervosität zu ersticken versuchte. Holden war ihm so nah. Er konnte seinen Atem auf seinem Hals spüren, die Finger an seinem Schlüsselbein, die damit begonnen hatten das Hemd aufzuknöpfen. Das herbe Aftershave, welches sein Chef benutzte, war unangenehm und berauschend zugleich.

„Du riechst gut“, kam es Sean unbewusst über die Lippen. Sobald die Worte raus waren, wünschte er sich der Boden unter ihm würde sich auftun und ihn verschlingen.

Shit.

Hatte er jetzt seine verdammten Gedanken etwa laut ausgesprochen? Es war nur eine Feststellung. Nur eine Feststellung. Eine Welle der Unruhe durchbrach ihn. Glücklicherweise amüsierte Bourdain die Situation, sodass selbst sein Missmut und die Anspannung abflauten.

„Immer langsam, Tiger.“

„Das ist peinlich.“ Resigniert schlug Sean die Augenlider nieder.

„Absolut.“

„Nimm es als Kompliment.“

Bourdain schmunzelte, sagte aber nichts mehr dazu. Stattdessen widmete er seine ganze Aufmerksamkeit Seans Hemd. Er ließ sich Zeit, während Sean unter seinen Berührungen immer hibbeliger wurde.

„Jetzt halt doch endlich still“, rügte Bourdain ihn.

Sean wurde rot. „Ich kann das auch selbst machen. Ich bin kein Kleinkind mehr.“

„Mir macht es aber Spaß.“

„Warum habe ich was anderes erwartet?“

„Hast du nicht.“

„Nein, habe ich nicht.“

„Umdrehen“, befahl Bourdain wieder.

Sobald er das gesagt hatte, drehte er ihn mit unerwarteter Kraft herum und streifte ihm das Hemd von den Schultern. Dann drehte er ihn wieder zu sich. Sean reagierte blitzschnell, als Bourdain seine Hand nach ihm ausstreckte.

„Den Rest schaffe ich schon“, beteuerte der Blonde.

„Dann runter mit den Hosen.“

„Mich kribbelt‘s, wenn du so herrisch bist“, gestand Sean und grinste belustigt.

„Das hat ein Vorspiel so an sich.“

„Ich wusste nicht, dass wir schon beim Vorspiel sind.“

Es half Sean ungemein, das Ganze mit Witz zu überspielen. Besser, als sich den Kopf zu zerbrechen, was das alles bedeutete.

„Ich spiele immer mit meinem Essen“, sagte Bourdain mit diabolischem Lächeln. „Du brauchst dich nicht zu genieren. Es gibt nichts, was ich nicht gesehen hätte.“

Immerhin hatte er unterwegs wohl seine Laune aufgeklaubt, aber vielleicht hatte er sich auch Valium eingeworfen. Dafür, dass Bourdain so kratzbürstig und kurz angebunden war, flirtete er jetzt hemmungslos mit ihm. Wohin sollte das nur alles führen? Sean wollte sich darüber lieber noch keine detaillierten Gedanken machen.

Widerwillig schälte er sich aus seinen Schuhen und der Hose, solange Bourdain mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand lehnte und ihn intensiv beobachtete. Sean spürte seinen Blick auf seiner Brust, seinem Bauch und seinen Beinen brennen. Er musterte ihn eingehend, dieser Bastard.

„Willst du mich die ganze Zeit begaffen?“

„Warum nicht? Ist ja nicht verboten.“

„Laut Gesetz schon.“

„Darüber haben wir doch schon gesprochen, Sean.“

Bourdain trat an ihn heran. Sean überließ es ihm, die Knöpfe seines neuen Hemdes zu schließen. Zum ersten Mal hatte er ihn mit seinem Vornamen angesprochen. Die ganze Situation war so familiär, als wären sie alte Bekannte.

„Du hättest keine Chance“, erinnerte Bourdain ihn.

Argwöhnisch musterte Sean sein Gesicht, das keinen seiner Gedanken nach außen preisgab. Kein Zucken oder Zögern. Allerdings vermied Holden es ihm dabei in die Augen zu sehen.

„Warum ich?“, fragte er ins Blaue und griff nach Holdens Hand, sodass dieser innehielt.

Mit kalkulierter Präzession lehnte Bourdain sich in Seans Oberkörper, da half es auch nicht, dass dieser sich zurücklehnte, als ob er den Kontakt scheute. Was er auch tat. Abwehrend legte er beiden Hände auf Holdens Brust, stieß ihn aber nicht weg. Er war zu feige, um ihn aufzuhalten, wollte aber den nächsten Schritt nicht tun. Wenn die Zeit nur stehen bleiben könnte. Das tat sie nicht. Nicht für ihn.

Zunächst begnügte Bourdain sich damit ihre Lippen aufeinander zu pressen, obwohl Sean auch das schnell zu viel wurde. Dann spürte er dessen Zunge an seiner Unterlippe.

Scheiße. Ihm entfuhr ein überraschter Seufzer, bei dem er den Mund öffnete. Schamlos nutzte Bourdain seine Schwäche aus. Er wurde fordernder, ließ seine Zunge kühn in Seans Mundhöhle gleiten. Blut rauschte heiß in Seans Ohren und sein Kopf wurde schwerelos, wie ein Heliumballon. Die Luft wurde ihm zu knapp und er machte leise Geräusche, während Bourdain ihn mit sinnlicher Beharrlichkeit bis zur Besinnungslosigkeit geküsst hätte, würde er sie nicht abrupt voneinander trennen.

„Macht das einen Unterschied?“, fragte Bourdain ernst.

Was war die Frage? Sean konnte sich nicht mehr erinnern, worüber sie geredet hatten, bevor Bourdain sich an ihn gepresst hatte. Scharf sog er die Luft ein. Sie blieb ihm im Hals stecken und ließ ihn röcheln, sodass er sich peinlich berührt räusperte.

„War das Antwort genug?“, fragte Bourdain erneut.

Nein. Nicht wirklich. Er war keine Unze schlauer, als vorher. Wenn nicht sogar verwirrter. Bourdain bückte sich und zog ein dunkelbraunes Paar eleganter Herrenschuhe unter der Bank hervor, die er direkt zu Seans Füßen stellte.

„Anziehen.“

Mechanisch tat dieser, wie ihm gesagt wurde, dabei hielt er sich an Bourdains Schultern fest, der niederkniete. Er kam sich schrecklich albern vor. Schlimmer, als ein Kind. Die waren wenigstens tapsig und unbeholfen. Er war ein erwachsener Mann, dem nach einem Kuss fast die Beine versagten. Echt erbärmlich. Und jetzt ließ er sich auch noch von seinem Chef die Schuhe anziehen. Tiefer konnte er einfach nicht mehr sinken.

„Ich hätte nicht gedacht, dass du sobald vor mir kriechen würdest“, sagte Sean heiter, um das mulmige Gefühl in seinem Magen abzutöten. Humor hatte ihm schon immer das Leben erleichtert.

„Gewöhn dich nicht daran. Es zeigt nur, dass ich dir nicht einmal das Schuhebinden zutraue.“ Bourdain erwiderte seine Heiterkeit nicht. Er schien in Gedanken versunken zu sein. Ein wenig abwesend. Plötzlich öffnete sich die Tür. Keiner der beiden hatte bemerkt, dass es bereits zum dritten Mal geklopft hatte.

„Lasst Euch nicht stören“, flötete Rosaline fröhlich und hängte die Anzüge, die sie mitgebracht hatte an die Garderobe.

„Er hat mir nur-“, versuchte Sean ihr zu erklären, warum Bourdain vor ihm auf den Knien herumrutschte und sich dessen Kopf in gefährlichen Regionen bewegte. Eigentlich hatte dieser aufstehen wollen. Allerdings hatte Sean vor Schreck, als sich die Tür geöffnet hatte, nach dessen Haarschopf gegriffen. Und nun sah ihre Position selbst für den Dümmsten nach dem Offensichtlichsten aus.

„Sean, du reißt mir noch die Haare aus“, zischte Bourdain mit schmerzverzogenem, ärgerlichem Gesicht.

„Bitte seid bloß nicht allzu laut. Es sind noch andere Kunden im Geschäft“, sagte Rosaline noch, dann ging sie zu Seans großer Erleichterung wieder.

„Warum hast du nichts gesagt?“

„Warum sollte ich?“, fragte Bourdain trocken.

„Du hast wohl kein Problem damit, dass sie denkt, du gibst mir einen verdammten Blowjob in der Kabine?“

„Stell dich nicht an. Das machen doch alle“, sagte Holden mit einer wegwerfenden Geste, was Sean ziemlich aufgesetzt vorkam.

„Das ist widerlich.“

Bourdain zuckte mit den Achseln.

„Ich wäre ja aufgestanden, hättest du mich nicht wie ein Gör an den Haaren gepackt.“ Er versuchte sich die ruinierte Frisur zu richten.

„Was ist mit Rosaline?“, fragte Sean. „Macht dir das etwa nichts aus?“

„Ich kenne sie schon ewig.“

„Dann ist sie das schon von dir gewöhnt?“

Resigniert blickte Sean in den Spiegel. Seine Lippen waren gerötet, das Haar am Hinterkopf verwurstelt. Um sich zu beschäftigen, zog er das Jackett über und wollte sich gerade die Krawatte binden, als er das kleine Preisschild bemerkte.

„Oh, mein Gott, Jesus, Josef und Maria“, rief Sean aus.

„Was ist denn jetzt schon wieder?“

Sean drückte Bourdain die Krawatte in die Hand. „Hast du gesehen, wie teuer dieses Ding ist?“ Er begann sich aus dem Jackett zu pellen. „Das ist viel zu teuer.“

„Beruhig dich. Ich zahle.“ Holden massierte sich die Schläfen.

Sean blickte ihn an, als wäre dieser völlig übergeschnappt. Und dann durfte er das stündlich abarbeiten. Das war es ihm nicht wert. Er hätte sich beim Eintreten in das Etablissement denken können, dass er sich nicht einmal die Schnürsenkel dort hätte leisten können.

„Ich will dir nichts schuldig sein.“

„Das bist du schon“, antwortete Bourdain mit einer Schärfe, die Sean nicht erwartet hatte.

„Ich habe heute eine Verabredung im Montreal Casino. Ich möchte nicht, dass du dort als Straßenfeger auftauchst.“

„Warum nimmst du mich überhaupt mit?“

„Ich brauche eine präsentable Begleitung. Und du bist verzweifelt und frisst mir aus der Hand, reicht das?“

„Aber - Im ernst? Du hast kein Privatleben und ich soll mit dir Theater spielen?“

„Das habe ich nicht gesagt. Es ist besser für dich, wenn du nicht alles im Voraus erfährst.“

„Das klingt ziemlich verdächtig.“

Sean runzelte die Stirn. Er konnte sich denken, was für eine Art Verabredung das werden würde, aber er traute Bourdain eine solche Abgebrühtheit einfach nicht zu. Andererseits hatte er auch nicht erwartet, dass dieser ihn zu seinem Leibeigenen machte, was er gerade tat. Wie eine Puppe wurde er ausstaffiert, um dann den Schweinen zum Fraß vorgeworfen zu werden.

Wenn Holden ihn weiter demütigte, musste er kündigen. Vielleicht musste er sich auch vor anderen Männern entkleiden und das hier war nur eine Übung. Dann würde er aber wirklich kündigen. Eher nicht. Verdammt. Er hatte keine Erfahrung im Strippen.

„Willst du ihn gleich hier entsorgen lassen?“

Unvermittelt riss Bourdain Sean aus seinen katastrophalen Gedanken. Der Brünette stand neben dessen zerknitterten, alten Anzug und begutachtete sich das Material.

„Nein. Es war ein Geschenk.“ Jegliche Heiterkeit, mit der Sean sich verzweifelt hatte bei Laune halten können, war nun vollständig aus dem Raum gewichen.

„Doch nicht von Amanda?“

„Nein.“

Sean räusperte sich. Eine unangenehme Stille beherrschte sie. Keiner sagte etwas. Bourdain schien sich fehl am Platz zu fühlen. „Dann lasse ich ihn in die Reinigung bringen“, sagte er leise und warf sich die Kleidungsstücke über den Arm. Er wirkte zerrissen, während Sean seine Trauer zu verbergen versuchte. Immerhin war es schon lange her.

Nach einer scheinbaren Ewigkeit setzte Bourdain sich in Bewegung und reichte ihm die Krawatte, die er noch immer in den Händen hielt.

Überrascht zog Sean die Augenbrauen hoch, als er sich erneut zu ihm beugte. Ihr zweiter Kuss war kurz, aber nicht weniger intensiv. Die Luft schien plötzlich um einige Grad kälter.

„Ich bin sicher, die anderen Anzüge werden auch passen“, kommentierte Holden Rosalines Auswahl.

„Enttäusch mich bitte nicht, Grandy. Bewahre Haltung und mach, was ich dir sage.“

Die unsichtbare Wand, die Bourdain von einer Sekunde auf die nächste vor sich aufbauen konnte, war ernüchternd.

„Jedes Zuspätkommen werde ich dir vom Gehalt abziehen. Meine Empfehlung ist heute Abend pünktlich zu erscheinen.“

War das derselbe Mann? Sowie er jetzt mit ihm redete, ging es einfach nur ums Geschäft.

Sean wurde bleich und erneut versagten ihm die Beine. Ein beklemmendes Gefühl erfasste ihn. Es wurde immer stärker, je leiser Bourdains Schritte in seinen Ohren hallten.

Chicago Affair

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