Читать книгу Die Ländersammlerin - Nina Sedano - Страница 11
DIE EIGENE SICHERHEIT UND EINE GEFÄHRLICHE SITUATION (2000)
ОглавлениеIm heimischen Reisebüro, bei mir ein paar Ecken weiter im Oederweg, bin ich eine gern gesehene Kundin und bekannt für nicht alltägliche Flugwünsche, komplizierte Gabelflüge und außergewöhnliche Reiseziele. Der Aufenthalt in meinem Lieblingsreisebüro gleicht einer imaginären Reise. Ich trete ein, schließe die Tür und schon befinde ich mich in einer anderen Welt. Meine Träume von fremden Ländern und Kulturen fliegen mir zu und werden wahr. Hier entrinne ich dem Alltag und fühle mich pudelwohl. Auch völlig ohne Schokolade steigen meine Glückshormone. Jedes Mal vollzieht sich in mir eine Wandlung im Wunderland des Reisebüros, mit dessen sympathischen Angestellten ich längst per Du bin. Eine vom Alltag etwas gelangweilte Frau mit quälendem Fernweh geht hinein, heraus kommt eine zukünftige Abenteurerin, die es nicht mehr erwarten kann, bis am heiß ersehnten Tag der Abreise die Sonne aufgeht, auch wenn diese sich hinter dicken Regenwolken verbirgt. Wenn ich das Reisebüro verlasse, umspielt stets ein seliges Lächeln meine Lippen. Sofort bemerkt man meine leuchtenden Augen, die geröteten Wangen und den beschwingten Gang. Es scheint, als hätte man mir, zusammen mit der Reservierung des Flugtickets, auch ein paar Glückspillen verabreicht.
Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, besagt ein Sprichwort. »Hurra! Ich lebe noch«, sage ich und versuche, gefährliche Situationen zu meiden. Das gelingt nicht immer. Woher weiß ich, wann ich in Gefahr bin? Manchmal bemerkt man sie gar nicht. Man ist in Gedanken oder auf andere Dinge konzentriert, ohne die unmittelbare Umgebung wahrzunehmen. Wie komme ich aus einer bedrohlichen Lage wieder heraus? Ich weiß es nicht. Es ist immer situationsbedingt. Auf jeden Fall ist es besser, das gesamte Reisegeld zu verlieren oder nach Hause zurückzumüssen, anstatt sein Leben an Ort und Stelle zu lassen. Meine Reisekasse befindet sich in meinem Gürtel, Schmuck trage ich in armen Ländern schon lange nicht mehr. Der Fotoapparat liegt in einem billigen Rucksack.
Ich bedaure es sehr, wenn ich in vielen Ländern nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße gehen kann, weil es für eine weiße Frau allein zu gefährlich ist. Oder wenn ich aus Sicherheitsgründen auf Ausflüge in die Natur verzichten muss, weil es ein Risiko darstellt, ohne einheimische Begleitung herumzulaufen. Die Lust, mich absichtlich in Gefahr zu begeben, spüre ich nie. Sicherheit und Gesundheit sind mir wichtiger. Sie haben oberste Priorität.
Es ist meine erste Reise durch Zentralamerika: Ich bin in Guatemala und reite gemeinsam mit Juan, einem Einheimischen, entlang des Atitlán-Sees. Er ist eingebettet in eine märchenhafte Vulkanlandschaft und ein optischer Leckerbissen. Nach dem Ritt möchte ich zu Fuß die knapp zwanzig Kilometer auf der kaum befahrenen Landstraße in den nächsten Ort wandern. Ich will dieses einmalige Wunder der Natur noch länger genießen. Meine Augen leuchten und ich erzähle Juan von meiner Idee. Er sieht mich besorgt an und rät mir sofort davon ab, allein weiterzugehen, denn es kommt auf der einsamen Strecke immer wieder zu Überfällen auf Touristen. Ich bin dankbar für den gut gemeinten Hinweis. Solche Warnungen nehme ich grundsätzlich ernst. Einsam und allein mitten in der Botanik bin ich natürlich sehr angreifbar – und ganz besonders in einem armen Land. So schaue ich mir nur noch das Dorf San Pedro La Laguna an, das im hellen Licht besonders strahlt, da die örtlichen Straßen aus weißem Kopfsteinpflaster sind, und fahre mit der Fähre zurück zu meinem Ausgangspunkt nach Panajachel.
Auf meiner ersten Reise durch Mittelamerika habe ich Pech und kann einige Länder wegen starker Überschwemmungen nicht für mich entdecken. Aber ich komme zwei Jahre später, im Jahr 2000, für zwei Wochen zurück. Die wenigen Urlaubstage werden, wie üblich, mit Besichtigungen und Erkundungen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang vollgestopft. Das artet nie in Hektik aus. Meist reichen mir diese ersten Eindrücke, denn ich kann ja wiederkommen.
Ich fliege mit Continental Airlines von Frankfurt über Newark, USA, erst nach Panama und wenige Tage später weiter nach San Salvador. Ich bin die Letzte in der Schlange, die mehr oder weniger geduldig auf die Genehmigung zur Einreise wartet. Endlich bin ich dran!
Die junge Grenzbeamtin mustert mich und fragt unsicher in holprigem Englisch: »Wie lange werden Sie bleiben? Was haben Sie hier vor?«
Ich zeige ihr unaufgefordert mein Weiterflugticket. In vielen Ländern muss man das oder ein Rückflugticket vorweisen, sonst kommt man unter Umständen nicht ins Land. Ich antworte ihr in fließendem Spanisch: »Ich bin Deutsche und möchte so viel wie möglich von El Salvador sehen und dann geht’s weiter nach Nicaragua.«
Sie ist erleichtert, mit mir unkompliziert in ihrer Muttersprache reden zu können, und fragt erstaunt: »Ganz allein?«
Ich nicke und sage: »Si!«
Darauf entgegnet sie: »Das würde ich mich nie trauen. Allein hätte ich Angst.«
Ich erkläre ihr lächelnd: »Sie müssen keine Angst haben. Die Menschen in Ihren Nachbarstaaten sind so freundlich und hilfsbereit. Zu mir sind alle nett gewesen.«
Sie freut sich über meine Antwort, strahlt übers ganze Gesicht, stempelt den Pass und wünscht mir einen schönen Aufenthalt.
Gerade bin ich in Nicaragua angekommen, schon wird mir ein unerwünschter Nervenkitzel beschert. Mein bewährter Reiseführer führt mich am frühen Morgen zu der preisgünstigen Unterkunft »Gambrinma«. Die Inhaber empfangen mich mit großer Herzlichkeit. Das Zimmer muss noch aufgeräumt werden. Ich lasse das Gepäck da und mache mich gleich auf den Weg. Mit dem Bus fahre ich anderthalb Stunden ins siebzig Kilometer entfernte Leon, eine der ältesten Städte und ehemalige Hauptstadt des Landes.
Erst am Nachmittag bin ich zurück und erkunde die heutige Hauptstadt Managua. Diese Stadt schockiert mich wie keine andere vor ihr. Ich bin bis ins Mark getroffen. Zahlreiche, vom Erdbeben im Jahre 1972 zerstörte Gebäude sind nie abgerissen worden. Sie stehen gespenstisch als leere Ruinen mitten im Zentrum einer Stadt von achthunderttausend Einwohnern. Es ist ein sonnig warmer Tag, an dem jedoch kaum Leute zu Fuß unterwegs sind. An jeder Ecke steht ein Mann in Militäruniform, mit einem Gewehr im Anschlag. Die breiten Straßenzüge um die alte Kathedrale, eine imposante Ruine, wirken wie ausgestorben. Bevor ich fotografiere, blicke ich mich vorsichtig um und erkunde, wer sich in meiner Nähe befindet. Wo bin ich hier? In einer verkappten Geisterstadt? Ich fühle mich seltsam. Trotzdem gehe ich auf der Avenida Bolivar vorbei am modernen Theater zum Managua-See. Hier muss es doch von Menschen wimmeln! Von wegen: Nur wenige Familien stehen an den Buden, in denen es Kleinigkeiten für Kinder und Süßigkeiten zu kaufen gibt. Zu gern wäre ich am See entlangspaziert. Vor Einsamkeit in der Natur fürchte ich mich nicht, aber hier erschauere ich, trotz dreißig Grad Wohlfühltemperatur. Mein Körper warnt mich, und zwar deutlich! Lass das sein! Mein persönliches Alarmsystem funktioniert, allerdings habe ich keine Ahnung, was diesen Impuls auslöst. Ich kann um mich herum nichts Gefährliches entdecken, aber es liegt etwas in der Luft, die Atmosphäre ist merkwürdig und ich werde ein bedrückendes Gefühl nicht los. Ich ziehe es vor, dem 58 Kilometer langen und 25 Kilometer breiten Managua-See den Rücken zu kehren – und gehe in die Richtung, aus der ich soeben gekommen bin. Auf dem Weg betrachte ich das Reiterstandbild des Simón Bolívar. Ich hadere mit mir: Soll ich meine tolle, neue Spiegelreflexkamera herausholen und die Statue fotografieren? Unsicher schaue ich mich schon wieder um. Ich ärgere mich regelrecht darüber. Wozu habe ich den Apparat vor sechs Monaten gekauft, wenn ich mich jetzt nicht traue, ein simples Foto zu schießen? Also los! Alles geht ganz schnell. Ich hole den Apparat heraus, mache ein Foto, verstecke ihn sofort wieder im Tagesrucksack und gehe weiter. Wie lange sie mich wohl schon beobachten? Ich weiß es nicht und werde es nie erfahren. Noch sind sie für mich unsichtbar.
Die späte Nachmittagssonne taucht den blauen Himmel in ein warmes, goldgelbes Licht. Sie wird in weniger als einer Stunde untergehen. Als ich in Richtung des Horizonts schaue, entdecke ich einen einsamen Obelisken. Er steht in gut hundert Metern Entfernung auf einem leeren Platz. Langsam schlendere ich auf ihn zu. Magisch zieht er mich an. Der weiße, phallusartige Obelisk gibt bestimmt ein interessantes Fotomotiv ab. Im Gegenlicht sticht er vor dem leuchtenden Hintergrund schwarz in den goldenen Himmel. Er erinnert mich an die fantastisch-abstrusen Bilder von Salvador Dalí. Die Anziehungskraft des Obelisken endet jäh. Ich komme zu mir, halte erschrocken inne und denke nach: Das kannst du nicht machen! Es ist viel zu einsam. Pass bloß auf! Ich weiche zurück, werfe einen letzten Blick auf die imposante, spitze Säule und gehe schnellen Schrittes zurück zur Avenida Bolivar.
Er ist wie aus dem Nichts gekommen. Plötzlich ist er da. Er läuft langsam vor mir her, in höchstens zehn Metern Entfernung. Ein junger Mann, braun gebrannt mit schwarzen Haaren. So groß wie ich, sportlich und vermutlich gerade mal volljährig. Nervös sieht er immer wieder hinter sich. Aus seinem Mund ertönen eigenartige Pfiffe. Ich blicke für den Bruchteil einer Sekunde in seine Augen. Der gehetzte Blick ist nicht auf mich gerichtet, sondern auf jemanden hinter mir. Sein Gesichtsausdruck zeigt kein neugieriges, freundliches Interesse, wie ich es sonst kenne. Er hat etwas Ausgehungertes an sich, ist wie ein Panther auf Beutezug. Seine Jagd hat gerade begonnen. Und ich bin die Beute. Ich erschauere. Ich renne nicht, sondern schlendere langsam weiter. Mir sträuben sich sämtliche Haare. Mein Bewusstsein registriert meine deutliche Körpersprache, mein glasklarer Verstand flüstert mir zu: »Es ist so weit. Sieh zu, dass du sofort hier wegkommst!«
Ich mime die ahnungslose Touristin. Tue so, als sei ich abgelenkt, schaue nach oben in den Himmel, nach hinten zum See und zum Theater. Natürlich will ich wissen, wer hinter mir geht, wem diese Pfiffe und Blicke gelten. Ein weiterer Jugendlicher bewegt sich in gleichem Abstand hinter mir. Ihn schaue ich mir nicht genauer an. Mir reicht, dass ich weiß: Er ist da! Ich laufe probehalber ein paar Meter vor, dann wieder zurück. Und zwar so, dass ich beide immer noch aus den Augenwinkeln beobachten kann. Die Typen machen es mir nach. Sie gehen ebenfalls vor und zurück. Gleichzeitig checke ich meine unmittelbare Umgebung. Kein Militärmann mit Gewehr in Sicht, der mir hätte helfen können. Vor dem Theatergebäude entdecke ich einen Mann. Er telefoniert und beobachtet uns. Ich bin also nicht ganz allein mit den jungen Burschen. Die Lage ist eindeutig, sie lässt keinen Zweifel mehr zu. Ich soll ihr nächstes Opfer werden, aber den Gefallen will ich ihnen nicht tun. Als hätte ich sie nicht bemerkt, gehe ich auf den telefonierenden Mann zu. Er ist meine einzige Rettung. Ich begrüße ihn schon von Weitem laut und unüberhörbar für meine Verfolger: »Guten Abend, ich habe eine Frage.« Ich drehe mich erst um, als ich neben ihm stehe. Sie sind weg und ich bin in Sicherheit. Ich hole tief Luft. Der Mann im schwarzen Anzug, um die fünfzig, erzählt mir, dass er alles beobachtet hat. Wütend zische ich ihm zu: »Warum haben Sie mir nicht geholfen und nur zugeschaut? Sie hätten mir doch etwas zurufen können! Sie haben gesehen, dass die mich überfallen wollten! Ich habe es zum Glück selbst bemerkt.« Er nickt, peinlich berührt, ignoriert meine Frage und deutet auf eine junge Frau, die in sicherer Entfernung hinter mir steht. Sie winkt mich zu sich. Ich habe sie in der Aufregung gar nicht bemerkt. Ich bedanke mich trotz allem bei dem Mann, der mir allein durch seine Anwesenheit geholfen hat. Was hätte ich ohne ihn getan? Ich wäre wohl laut um Hilfe schreiend weggerannt und hätte versucht, so auf mich aufmerksam zu machen.
Die junge Frau ist total aufgelöst und bittet mich, mit ihr ins Taxi zu steigen. Ich zögere nicht und folge ihr, obwohl ich trotz allem lieber zum Hotel zurückgegangen wäre, statt zu fahren.
Ich bin verwirrt und frage sie: »Warum sind Sie denn so aufgeregt? Die wollten doch mich überfallen.«
Sie antwortet mir, noch immer ganz durcheinander: »Sie überfallen nicht nur Ausländer. Sie überfallen uns alle. Mir ist das auch schon öfter passiert.«
Ich bin fassungslos, wie schlimm es in der Hauptstadt zugeht. Hier trägt niemand seinen Rucksack auf dem Rücken, jeder schnallt ihn sich vor die Brust. Das ist mir woanders noch nie so deutlich aufgefallen wie hier. Meine »Helferin« steigt unterwegs aus. Ich fahre weiter zum Hotel und bin früher als geplant zurück. Aber der Tag ist noch lange nicht zu Ende.
Ich entdecke den »Shannon Pub«. Er liegt gegenüber von meiner Unterkunft. Ein Irish Pub in Managua! Wie schräg! Den muss ich mir unbedingt ansehen. Ich liebe Irland! Am frühen Abend gehe ich hinüber. Den Hotelinhabern, denen ich von meinem heutigen Abenteuer berichtet habe, versichere ich leichtfertig: »Ich will nur mal im Pub reinschauen. Ich bleibe nicht lange.«
Aus dem Einen-Blick-Reinwerfen werden mehrere Stunden und ein herrlich lustiger Abend mit Amerikanern und Kanadiern. Als ich endlich in mein Bett möchte, ist der Hoteleingang mit einer Eisengittertür verschlossen. Ich habe nur meinen Zimmerschlüssel. Ich veranstalte kurz vor Mitternacht einen ohrenbetäubenden Lärm, damit ich hineingelassen werde. Das Inhaber-Pärchen hat schon geschlafen und ist erschrocken, mich krakeelend auf der Straße zu sehen. Sie wähnten mich längst schlafend im Zimmer. Ich beruhige sie und entschuldige mich für den Krach. Es tut mir wirklich leid. Schließlich hätte ich selbst nicht gedacht, dass sich der Abend noch so ausdehnen würde. Was für ein Tag! Erschöpft falle ich ins Bett und schlafe sofort ein.
Ich wundere mich heute noch, wie ich so kontrolliert, ohne jegliche Panik, auf meine potenziellen Angreifer reagiert habe, obwohl ich mir der Gefahr voll bewusst war. Vielleicht liegt es ja an meinem jahrelangen Umgang mit Pferden, bei denen ich, wenn sie mit mir wegrennen wollen, immer ruhig bleiben muss, um sie nicht noch nervöser zu machen. In Panik vor Menschen davonzulaufen ist nur eine Lösung, wenn es keine andere Möglichkeit gibt …
Tun und lassen in Nicaragua:
Unbedingt tun: den aktiven Vulkan Masaya besteigen und den Kraterrand begehen. Hier nisten grüne Papageien in den schwefelhaltigen Kraterwänden.
Unbedingt lassen: Schmuck tragen oder wertvolle Gegenstände im Tagesrucksack transportieren.