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SPRUNG, GELENKE, SPRUNGGELENKE, GELENKTE SPRÜNGE (1996)

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Unser Flug hat »Verfrühung«. Auch so etwas gibt es! Fast eine Stunde vor der planmäßigen Ankunft landet die Air New Zealand am frühen Morgen in Sydney. Ob Sam schon da ist? Wie er wohl aussieht? In Island hatte er lange Haare und einen Bart. Ich entdecke ihn in der Menge der Wartenden – auch ohne Bart. Das Haar ist inzwischen kurz geschoren. Ich freue mich, dass er mich abholt. Er fährt zur Wohnung, zeigt mir mein Zimmer, gibt mir die Schlüssel und muss anschließend arbeiten. Ich gehe sofort in die Stadt, ohne mich auszuruhen. Dafür schlafe ich die Nacht völlig übermüdet durch. Die Zeitverschiebung lässt mich unbeeindruckt. Jetlag habe ich diesmal nicht.

Drei Nächte bleibe ich bei Sam. Am vierten Tag fahren wir in seinem Auto nach Canberra. Er zeigt mir die Hauptstadt, die er sehr gut kennt, denn er hat hier schon gewohnt und gearbeitet. Wir machen sogar eine Führung durch das Parlament. Am Abend fährt er zurück nach Sydney und ich setze meine Reise allein mit dem Nachtbus nach Melbourne fort.

In den Unterkünften, den Hostels für Backpacker, teile ich mir das Zimmer mit gleich gesinnten Globetrottern, mit denen ich mich unterhalte. Wir haben eins gemeinsam: Spaß am Reisen und den Wunsch, möglichst viel erleben zu wollen.

Nach dreiwöchiger Tour durch Australien verlasse ich das Land glücklich mit dem, was ich gesehen und erlebt habe. Von Brisbane fliege ich direkt nach Christchurch auf der Südinsel Neuseelands. Auf eigene Faust geht es weiter: Nach Zwischenstopps in Dunedin und Te Anau erreiche ich Queenstown. Der Ort am Lake Wakatipu ist seit 1988 ein Mekka für adrenalinfördernde Aktivitäten und steht für die irdische Art, abgehobene Lebenserfahrungen – im wahrsten Sinne des Wortes – zu machen. Täglich pilgern Jung und Alt dorthin. Sie stürzen sich von schwindelerregend hohen Brücken in rauschende Ströme auf der Suche nach dem Ich.

Auch wenn ich Angst habe, probiere ich gern Dinge aus, die ich noch nie gemacht habe. Angst aus eigenem Antrieb zu überwinden, verleiht ungeahnte Kräfte. Ich lerne mich so besser kennen, nehme mein Dasein und die Welt anders wahr. Lange habe ich mir geschworen, eines Tages einen Bungee-Sprung zu wagen. Er steht oben auf meiner 101-Dinge-zu-tun-Liste.

Die Geschichte des Bungee-Sprungs ist faszinierend. Die Legende besagt, dass auf der Insel Pentecost, die zum Inselstaat Vanuatu im Pazifik gehört, eine Frau sich ihres querulierenden Mannes entledigen wollte. Sie schlug ihm vor, gemeinsam von einem hohen Baum zu springen. Wenn sie beide überleben sollten, würden sie für immer zusammenbleiben. Die schlaue Frau schlang eine Liane um ihre Beine und überlebte. Der leichtgläubige Mann stürzte sich in den Tod. Dieser Sprung wird zur Tradition und zu einem alljährlichen Männerritual. Die Inselbewohner errichteten einen 27 Meter hohen Turm, genannt Naghol, von dem sie sich als Opfergabe stürzen, um eine gute Ernte zu sichern.

Die Legende beeindruckt mich und verfolgt mich bis in den Schlaf. Ich habe einen angenehmen, beruhigenden Traum: Die untergehende Sonne taucht den Himmel in ein goldrotes Licht. Ich stehe auf einem hohen Felsen. Gelassen blicke ich in die Tiefe, in das Nichts. Meine Arme sind weit ausgebreitet, als wollte ich den Rest der Welt umarmen, und ich lasse mich – allerdings ohne Bungee – in die Ungewissheit fallen. Es ist totenstill. Kein Lüftchen weht. Ich sause nicht in die Tiefe, stattdessen schwebe ich und werde von behaglicher Wärme umhüllt. Ich komme nirgendwo an. Das Nichts ist unendlich. Mit einem wohligen Gefühl wache ich morgens auf. Was hat der Traum zu bedeuten? Dass ich zur Bungee-Springerin geboren bin? War das ein Zeichen, es zu versuchen? So sehe ich es und ich will es wagen!

Wenn schon, dann richtig, denke ich voller Wagemut und suche mir als neugierige Bungee-Anfängerin natürlich die Brücke aus, die über die tiefste Schlucht führt. Diese Brücke wird Pipeline genannt und garantiert mir mit 102 Metern den höchsten Brückensprung der Welt, der für Geld zu haben ist! Ich versuche, mir die Höhe vorzustellen. Mir wird mulmig. Das Gefühl verlässt mich bis zum nächsten Tag nicht mehr.

Gemeinsam mit abenteuerlustigen Menschen aus aller Welt werde ich von Queenstown mit dem Helikopter zur Brücke geflogen. Bungee-Sprung, Flug, Jet Boat und Wildwasser Rafting kann man als Kombipaket in einer der vielen Agenturen in Queenstown zu einem Pauschalpreis buchen – ein Schnäppchen. Einzeln gebucht wäre alles viel teurer. An nur einem Tag vier Aktivitäten, die garantiert einen Mega-Adrenalinstoß auslösen werden!

Aus dem Helikopter blicken wir auf die atemberaubende Landschaft. Ein Fluss bahnt sich zielstrebig seinen Weg durch eine tiefe Schlucht. Von hier oben gleicht er einem Rinnsal. Darüber hängt die Pipeline. Die schmale Brücke scheint zwischen den Felsen zu schweben.

Sicher landet der Helikopter am Wallfahrtsort der Bungee-Fans. Unsere Gruppe gleicht einem Haufen Lemminge, die sich gleich vom Gipfel stürzen werden. Ich erwarte hektische Betriebsamkeit und spüre, dass Angst, Spannung, Unsicherheit und Unentschlossenheit in der klaren Luft liegen. Ich werde von dieser Atmosphäre angesteckt. Mir wird flau im Magen. Meine Beine stehen wackelig auf dem felsigen Untergrund. Ich bekomme trotz der Wärme kalte Füße. Es geht sehr professionell zu: Jeder wird gewogen und bekommt sein Gewicht auf den Handrücken geschrieben. Gleich geht es los! Natürlich kann ich mich weigern zu springen … Aber keiner wagt es, ich auch nicht. Ich habe es mir so fest vorgenommen und will unbedingt meinen inneren Schweinehund überwinden. Dieser innere Druck ist größer als die Befürchtung, vor den Zuschauern als Angsthase dazustehen. Ich weiß, eine einzigartige Erfahrung erwartet mich. Diese Gelegenheit kann ich mir nicht entgehen lassen! Aber es soll jetzt schnell gehen! Vergeblich bitte ich darum, als Erste springen zu dürfen. Ich will sofort zur Tat und zum Sprung schreiten, aber mein Gewicht erlaubt es nicht. Die leichten Japanerinnen sind zuerst an der Reihe und die Gewichtigsten kommen zum Schluss. Ich muss geduldig warten. Geduld? Jetzt? Hier? In dieser Situation? Ganz schlecht … Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Ich bekomme Gänsehaut. Die Spannung kriecht durch meinen ganzen Körper – von den Zehen bis in die Haarspitzen.

Eine Japanerin zögert. Sie trippelt mit klitzekleinen Schritten vor. Sieht in die Tiefe. Geht zwei Schrittchen zurück und wieder vor. Das geht ewig so hin und her. Wie bei einem Tanz auf heißen Kohlen. Auf denen sitze ich schon lange und jede Sekunde glühen sie stärker. Es kribbelt mir in den Fingern. Ich hätte die Asiatin zu gern geschubst. Das ist natürlich verboten! Bei niemandem wird aktiv nachgeholfen. Jeder muss es freiwillig tun. Nach schier endlosen Minuten stürzt sich die junge Frau endlich mit einem Schrei der Erlösung von der Holzbrücke.

Plötzlich bin ich dran. Jetzt geht es mir zwar nicht an den Kragen, aber an die wackeligen Beine. Die sind inzwischen wie Pudding. Wie in Zeitlupe bewege ich mich auf der Pipeline zur Mitte. Von stolz zur Tat schreiten kann keine Rede sein. Auf der Sprungplattform angelangt, darf ich mich auf einen ausrangierten Zahnarztstuhl legen. Ich gerate in Schräglage und schaue mich um. Der gähnende Abgrund zieht meinen Blick magisch an. Der blaue Fluss liegt weit unten. Gleich werde ich bei ihm sein. Ich bin zu keinen klaren Gedanken mehr fähig. Mein Herz hüpft so wild, als wolle es schon vor mir los. Alle Finger, die ich habe, krallen sich in die Armlehnen des Zahnarztstuhls, den sie am liebsten nie mehr loslassen wollen. Ich entwickle ein grenzenloses Urvertrauen zu dem unbekannten Mann mit der schwarzen Sonnenbrille. Er hantiert gelassen an mir herum. Meine Sprunggelenke liegen dicht nebeneinander. Er breitet ein Handtuch über meine Waden und die Gelenke, die er mit dem lebensnotwendigen Knäuel dehnbarer Gummiseile fesselt. Mein sonnenbebrillter Fels-in-der-Brandung lauscht meinem Gerede und antwortet gut gelaunt. Wenigstens er weiß genau, was er tut. Das beruhigt mich, aber nur kurz. Es ist so weit. Schon fertig? Mein Stündlein hat geschlagen. Ich darf vorsichtig aufstehen. Weglaufen kann ich jetzt nicht mehr. Unmöglich mit zusammengebundenen Beinen. Jetzt nur nicht umkippen! Ich schlurfe, gestützt von meinem »Fesselungskünstler«, zum Sprungbrett. Er schießt hier oben ein letztes Foto von uns beiden. Mit geschlossenen Augen strecke ich frech die Zunge raus! Ich stehe am Rande des Abgrunds. Beobachtet von denen, die nach mir an der Reihe sind, und von sensationslustigen Zuschauern, die sich das wahrscheinlich nie trauen würden. Mir schießt durch den Kopf: Du springst sofort. Tue es dir nicht an, noch länger hier oben zu stehen. Lass andere nicht warten. Vergiss nicht, spring weit weg von Brett und Brücke nach vorne! Das ist wichtig.

Die Spannung ist vorbei. Endlich erlöse ich mich selbst von meiner Angst – und spriiiiiiiiiiiiiinge! Es lebe die Erdanziehungskraft und die Macht der Gummiseile! Mein Traum wird wahr! Im freien Fall sause ich nach unten. Ich schreie nicht. Atme auch nicht. Das vergesse ich. Mein Herz fällt nicht in den geöffneten Mund, es rutscht mit den Eingeweiden in unvorstellbarer Geschwindigkeit nach oben zu meinen Füßen. Es tut nicht weh, jedenfalls merke ich nichts. In meinen Ohren rauscht der kühle Wind wie ein Orkan. Mein T-Shirt rutscht leicht nach unten zum kühlen Kopf, aber immerhin bleibt der BH da, wo er hingehört. Mit weit geöffneten Augen sehe ich, wie die Welt sich dreht. Der Fluss rast auf mich zu. Alles ist Chaos. Und plötzlich ist der freie Fall vorbei. Bevor ich eintauche – aus der schwindelerregenden Höhe wäre die kleinste Berührung der Wasseroberfläche lebensbedrohlich – fühle ich einen sanften Druck an meinen Beinen. Ein Glücksgefühl durchströmt mich. Die dehnbaren Gummistricke kontrahieren und katapultieren mich zwei Drittel zurück nach oben. Dann falle ich wieder nach unten. Schwinge auf und ab. Ich erwarte einen schmerzhaften Ruck im Rücken und spüre nichts. Die Gummiseile halten alles aus. Am liebsten würde ich jetzt laut jubeln, aber das könnte als Schmerzensschrei gedeutet werden. Ich bleibe lieber ruhig und kann sogar schon wieder halbwegs klar denken. Ich bin im Glücksrausch.

Vorsichtig werde ich nach unten gelassen. In einem Schlauchboot wartet ein freundlicher Mann auf mich. Er reicht mir eine Stange zum Festhalten, sodass ich mit dem Kopf nach unten in das schwankende Boot gelange. Ich blicke ihn aus vergrößerten Pupillen an und lächle selig. Er befreit mich von den Fesseln. Die Seile werden wieder auf die Brücke gezogen. Das Glücksgefühl, den Sprung in die Ungewissheit gewagt zu haben, wird übermächtig. Ich könnte die ganze Menschheit, aber besonders diesen Mann als ihren Stellvertreter umarmen. Ich beherrsche mich, schiebe die flatternden Hände in die Hosentaschen und setze mich hin.

Ich möchte es augenblicklich wieder tun! Wie ein kleines Kind, das Angst vor einer großen, langen Rutsche hat, seine Furcht überwindet und Spaß daran findet, wäre ich am liebsten sofort zurück zur Brücke gehastet und noch mal gesprungen, aber dazu hätte ich die steilen Felswände nach oben klettern müssen … Also bleibe ich unten! Jetzt werden wir zum Jet Boat gebracht und nachmittags sind wir bei einer Wildwasserfahrt.

Am nächsten Tag, ich habe noch nicht genug von der »Action«, sitze ich in einem einmotorigen Flugzeug hinter dem Vizeweltmeister im Schaufliegen. Am Morgen des Heiligabends stürze ich mich bei einem Tandem-Fallschirmsprung aus einem Flugzeug. Dieser actiongeladene Urlaub bleibt einmalig. Nichts davon, weder Bungee-Sprung noch Tandem-Fallschirmsprung, habe ich je wieder gemacht.

Die beste Gelegenheit dazu hatte ich in Neuseeland, einem Land, dessen wunderschöne Natur und herzliche, gastfreundliche Menschen immer einen Platz in meinem Herzen behalten werden …

Höhepunkte für Australien und Neuseeland:

Ein Highlight für Australien ist bestimmt eine Ballonfahrt bei lauem Lüftchen über die Stille des schier endlosen Outback mit anschließender Sekttaufe.

Wer vom Nervenkitzel in Neuseeland nicht genug kriegen kann: Man setze sich bei sommerlichen Temperaturen in einen Helikopter und lasse sich am Mount Cook, dem höchsten Berg Neuseelands, vorbei an den Anfang des Fox-Gletschers fliegen. Hat man seine Schneeschuhe zu Hause gelassen und möchte vermeiden, dass die Sommerschuhe im Schnee aufweichen, steige man nur kurz barfuß aus. Eiskalt!

Die Ländersammlerin

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