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ÜBER DEN DÄCHERN VON … (1987)

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Ich quäle mich regelrecht durch die Gymnasialzeit. Meine schulischen Interessen liegen weder bei den Naturwissenschaften oder der Politik noch bei Latein und Altgriechisch. Es sind moderne Fremdsprachen und fremde Länder, die mich neben der Reiterei begeistern.

Jahr um Jahr besuche ich in den Schulferien meine Brieffreundinnen in Deutschland. Eine davon ist Anne. Sie wohnt in Flensburg. Von da aus machen wir einen Abstecher über die Grenze nach Dänemark. Wieder habe ich, wenn auch nur kurz, ein neues Land besucht.

Nach dem Abitur mache ich mich selbstständig auf in die Welt. Ich lebe sechs Wochen in Paris, arbeite in einem Selbstbedienungsrestaurant, verdiene Geld und erlerne schnell, weil ich mich täglich irgendwie verständigen muss, auch ohne Sprachkurs die französische Sprache.

Nach meinem Aufenthalt in Paris und einem anschließenden Abstecher nach Italien muss ich an meine berufliche Zukunft denken: Ich ziehe von Frankfurt in die Landeshauptstadt Wiesbaden und absolviere in zwei Jahren und viereinhalb Monaten eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Mit meiner Freundin Beate lebe ich in einer Wohngemeinschaft in der Wartestraße. Wir kennen uns aus den Sprachferien in Hastings, England.

Es könnte alles so schön sein, aber die Ausbildung macht es mir nicht leicht. Vom ersten Tag an sind Sandra und ich, die beiden Auszubildenden, die Dummen. Unsere Chefin, gleichzeitig die Geschäftsführerin, ist Ende fünfzig. Sie ist, wie sich sehr bald herausstellt, eine Cholerikerin, und unsere drei jungen Kolleginnen machen uns das Leben auch nicht gerade leicht: Regelmäßig sagen sie uns ins Gesicht, wie blöd wir doch sind und dass wir eigentlich nur zum Toilettenputzen taugen. Natürlich machen wir Fehler, aber nur aus Fehlern kann man etwas lernen, doch davon haben sie noch nie etwas gehört. Die ständige verbale Prügel erinnert mich an den Geschmack von Lebertran: ein unangenehmer Geschmack, den man sein ganzes Leben lang nicht loswird.

Aber immerhin halten Sandra und ich zusammen und versuchen, uns gegenseitig zu unterstützen.

Absurde Dinge ereignen sich während unserer Ausbildung: Die Chefin lässt uns samstags zur Arbeit antreten, als »Strafe« dafür, dass wir ihren Privatkühlschrank, der in unserem Büro thront, nicht rechtzeitig abgetaut haben. Samstagsarbeit für Azubis ist gesetzlich verboten. Aber was sollen wir machen? Einen anderen Ausbildungsplatz suchen? Sogar die IHK rät uns davon ab.

Ich bekomme keine Chance, mich in Gegenwart der Chefin und der Kolleginnen wohlzufühlen, Gutes oder gar Sinnvolles für die Gegenwart und meine berufliche Zukunft zu lernen. Ich lerne nur, Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann, und Halt und Ansprache nicht dort zu suchen, wo man sie nie bekommen wird. Im Büro werde ich zu einer leblosen Maschine gemacht, bin kein Wesen mehr aus Fleisch und Blut, sondern eins ohne Herz und Seele.

Morgens werde ich immer zu verschiedenen Banken geschickt. Die Angestellten dort sind so freundlich. Es ist eine wahre Wohltat, ihnen zu begegnen. Ich mache gern »Außendienst«, egal, ob bei Sonnenschein, Wind oder Regen, denn dann muss ich nicht im Büro sein.

Ich lasse mich nicht unterkriegen. Ich will etwas lernen, aber im Büro habe ich nichts mehr zu erwarten. Daher nutze ich meine freie Zeit bewusst und intensiv. Ich stille meinen Wissensdurst in Volkshochschulkursen. Abends besuche ich von Montag bis Donnerstag verschiedene Sprachkurse. Ich verbessere mein Französisch, studiere Spanisch und Italienisch. Erlerne ein Jahr lang Neugriechisch und schnuppere für ein halbes Jahr in Arabisch- und Portugiesischkurse rein.

Davon ahnen Chefin und Kolleginnen nichts. Ich bin froh, diesen Ausgleich zu haben, denn die Arbeit im Büro erfordert so gut wie keine Konzentration: Ablage machen, Schecks tippen, Überweisungen ausfüllen, Telexe schreiben, zur Bank gehen und für die Chefin und Kolleginnen Lebensmittel einkaufen.

Zu allem Überfluss droht mir nach anderthalb Jahren die Obdachlosigkeit: Beate drängt mich massiv aus der Wohnung. Sie macht mir klar, wie unerwünscht ich bin. Sie will allein mit ihrem Freund in der Wohnung leben, die ihrem Vater gehört. Ich habe nichts zu melden, trotz Vertrag und Kündigungsfrist. Bei ihr fühle ich mich – wie im Büro – höchst überflüssig.

Ich erzähle allen Freunden und Bekannten, dass ich bis zum Ende der Ausbildung eine Bleibe suche. Durch meine »Mundpropaganda« wird mir schnell geholfen und ich finde bald eine eigene kleine Wohnung, in der ich mich wohlfühle. Bei meiner ehemaligen Freundin Beate melde ich mich nie wieder. Fünfeinhalb Jahre einer tollen Freundschaft mit vielen Höhen und Tiefen, besonders gegen Ende, sind nun Vergangenheit. Ein trauriger Schlusspunkt.

Aber auf meine Mutter kann ich mich, wie immer, hundertprozentig verlassen. Sie bezahlt die Miete. Sie und Oma stecken mir außerdem regelmäßig ein paar Scheinchen zu. So komme ich über die Runden, doch mit dem kargen Ausbildungsgehalt von 350 Mark im Monat und 170 Mark Unterhalt von meinem Vater kann ich mir keine großen Sprünge und vor allem keine weiten Reisen leisten. Es geht nur so weit weg, wie meine knappe Reisekasse es erlaubt. Ich will dem Ausbildungsmuff bei jeder Gelegenheit entfliehen und kratze jede Mark mühselig zusammen. Immerhin reicht es für Kurztrips, Tagestouren, Besuche bei Freunden und auch für einen vierwöchigen Sprachkurs in Spanien. Ich bleibe in Europa.

Die Anzahl der bereisten Länder kann ich locker an den zehn Fingern abzählen. Von der Welt weiß ich nicht viel, aber ich weiß, dass ich mich freier fühle, wenn ich unterwegs bin. Vorerst kreisen meine Gedanken nur um die näher rückende Abschlussprüfung am 24. November 1987. In Buchhaltung und Mathe habe ich Schwierigkeiten, deswegen besuche ich nach den Sommerferien Kurse dazu in der VHS – und verstehe endlich alles, was ich vorher nicht kapiert hatte.

In den Herbstferien möchte ich dem Prüfungsstress entfliehen, den ich viel zu ernst nehme, weil ich mir einbilde, meine Zukunft hänge von zwei guten Noten im Schriftlichen und Mündlichen ab. Ich habe Angst; Prüfungsangst kenne ich nur zu gut. Selten behalte ich da einen klaren Kopf. Meist ist alles Wissen wie auf Kommando aus dem Gedächtnis radiert, als wäre an der Stelle ein schwarzes Loch. Ich will mich nicht verrückt machen!

Zum ersten Mal haue ich ganz gezielt ab in ein anderes Land. Doch es ist keine Flucht. Ich möchte vielmehr ganz bewusst auf andere Gedanken kommen. Und natürlich etwas erleben, Land und Leute kennenlernen …

Mit meiner langjährigen Brieffreundin Anne aus Flensburg fahre ich nach Südfrankreich.

Sie kommt am Abend vor unserer Abreise in ihrem blauen Ford Fiesta Diesel bei mir im Kohlheck an. Bevor es losgeht, muss ich noch eine große Hürde überwinden und in der Berufsschule am letzten Schultag eine Mathearbeit schreiben. Endlich, um dreizehn Uhr, werden wir in die Herbstferien entlassen. Wir starten in unser Reiseabenteuer; viele hat es bis jetzt noch nicht gegeben. Frankreich, wir kommen!

Wir sind zehn Minuten gefahren und fast auf der Autobahn, als Anne mir erschrocken sagt: »Ich habe meine Tasche bei dir vergessen.«

Ich glaube erst an einen schlechten Scherz und antworte dämlich grinsend: »Du machst wohl Witze!« Sie schaut mich ernst an, kann sich dann aber ein Lachen kaum verkneifen und kehrt um. Wir fahren zurück. Ihre schwarze Tasche liegt unschuldig im Flur.

Unsere erste Etappe ist Lausanne am Lac Léman in der Schweiz. Ich kenne die Stadt von Wochenendtrips bei Schweizer Freunden und wir können bei Claude, den ich wiederum über die Freunde kennengelernt habe, übernachten. Aber erst einmal stecken wir fest! Vor Bruchsal geraten wir in einen Stau und fahren lieber ein Stück auf der Landstraße weiter. Ich studiere intensiv die Karte und dirigiere Anne nach Lausanne. Sechs Stunden dauert es, bis wir endlich ankommen.

Gott sei Dank finde ich Claudes Adresse auch ohne die Hilfe eines Stadtplans. Es ist längst dunkel. Wir zwei Blondinen, groß und klein, klingeln hoffnungsfroh an der Haustür … Keiner da? Erst jetzt entdecken wir einen Zettel am Briefkasten, auf dem kaum lesbar gekritzelt steht: »Ich komme später. Die Schlüssel liegen hier drin.«

Verwundert sage ich zu Anne: »Und woher nehmen wir den Briefkastenschlüssel?« Sie weiß es auch nicht. Der Briefkasten sieht verschlossen aus. Trotzdem rütteln wir am Türchen. Und siehe da! Sesam öffne dich! Da sind die Schlüssel!

Erfreut schließen wir die Haustür auf. Wir gehen zu Claudes Wohnung und kommen nicht weiter, denn wir bekommen die Wohnungstür nicht auf. Der richtige Schlüssel steckt zwar im Schloss, aber nach links oder rechts drehen lässt er sich nicht. Wir versuchen beide unser Glück, wollen es aber nicht überstrapazieren, denn wir haben Angst, den Schlüssel abzubrechen. Ein Nachbar schleicht im Treppenhaus an uns vorbei. Er zuckt zusammen, als ich ihn anspreche. Ich bitte ihn, die fremde Tür für uns zu öffnen. Erst schaut er entsetzt, versucht dann aber, uns zu helfen, und gibt so schnell auf wie wir.

Wir sind kaputt von der Fahrt und haben genug von der Tür, die sich uns beharrlich verweigert.

Ich schlage Anne vor: »Lass uns in die Kneipe an der Ecke gehen.« Sie nickt. Auf den Zettel am Briefkasten kritzele ich, dass wir mitsamt dem Schlüssel in der Kneipe zu finden sind. Wir trinken Cola und warten …

Nach einer halben Stunde kommt Claudes Schwester Marie vorbei. Ihr Bruder hat sie beauftragt, nach uns zu sehen. Endlich gelangen wir mit demselben Schlüssel in die Wohnung. Sie dreht den Schlüssel kräftig mit beiden Händen im Schloss herum. Wir sind viel zu sanft mit ihm umgegangen. Sie lässt uns gleich wieder allein und wir legen uns schlafen. Nach Mitternacht klingelt es an der Tür. Abrupt werden wir aus unseren Träumen gerissen. Es ist Claude. Er hatte seinen einzigen Türschlüssel uns überlassen. Wir reden nicht lange und schlafen wieder ein.

Am nächsten Morgen brechen wir ohne Frühstück auf. Claude ist sichtlich froh, dass wir so schnell wieder abhauen. Wir machen uns auf den Weg an die Côte d’Azur und ahnen nicht, wie lang der sein wird …

Anne sitzt am Steuer und ohne Pause fahren wir hinter Genf über die Grenze, an Annecy und Grenoble vorbei auf der Route Napoléon. Die Landkarte zeigt uns eine schnurgerade Landstraße. Einen Reiseführer haben wir nicht. Wir sind uns einig, dass wir uns die exorbitante Autobahn-Maut sparen wollen. Optimistisch rechnen wir uns aus, gegen Nachmittag die Küste zu erreichen. Von wegen. Naiv fahren wir im blauen Auto dem blauen Meer entgegen und bleiben fast auf der Strecke: Berge, Täler, Kurven ohne Ende und kein Schimmer vom Mittelmeer! Auf der einen Seite überholen uns Autos im halsbrecherischen Tempo, auf der anderen lassen in schwindelerregenden Höhen die Abgründe tief blicken. Wir wissen nicht, wo wir sind, aber immerhin ahnen wir, dass die Richtung stimmt. Wir fahren durch winzige Dörfer, die auf der Landkarte nicht eingezeichnet sind. Wir haben keinen Schimmer, dass der berühmte Grand Canyon du Verdon, von dem wir noch nie gehört haben, uns noch bevorsteht. Die atemberaubende Landschaft des Canyons fasziniert uns, aber wir müssen uns auf die Straße konzentrieren und können den Anblick der gewaltigen, bizarren Natur nicht wirklich genießen. Die Fahrt scheint endlos – kein Meer in Sicht.

Anne ist erschöpft und lässt mich ans Steuer. Ich gerate nach wenigen Kilometern, bei einem Ausweichmanöver vor einem entgegenkommenden Auto, am Randstein dicht an den Abgrund. Wir schreien vor Angst. Ich fahre wesentlich vorsichtiger weiter.

Anne übernimmt wieder das Steuer und übersieht gleich zweimal eine rote Ampel. Mein lautes »STOPP« lässt sie erschrocken bremsen. Bei der zweiten Ampel fährt uns fast ein Mercedes auf. Doch noch haben wir mehr Glück als Verstand …

Erst gegen neunzehn Uhr kommen wir in Cagnes-sur-Mer an. Das heiß ersehnte Meer sehen wir nicht, denn inzwischen ist es stockdunkel. Zehn Stunden sind wir jetzt schon auf Achse! Wir übernachten im Hotel Derby, das uns zufällig im Weg steht. Das Zimmer kostet 75 Francs mit Frühstück, umgerechnet 22 Mark pro Person. Es ist das billigste Zimmer, das wir bekommen können. Das »Türproblem« verfolgt uns: Hier kriegen wir die Tür nicht zu, denn sie lässt sich nicht von außen abschließen, nur von innen verriegeln. Wir beschließen, unsere Sachen vorerst im Auto zu lassen, und gehen Pizza essen. Danach fallen wir in unsere Betten und schlummern tief. Nach einem typisch französischen Frühstück mit Baguette, Butter, Marmelade und Kaffee fahren wir weiter. Unser Ziel ist die Jugendherberge in Menton, in den Alpes-Maritimes, die wir nach einer Stunde erreichen. Und wieder rütteln wir an einer verschlossenen Tür: Die Jugendherberge ist tagsüber geschlossen und öffnet erst um achtzehn Uhr ihre Pforten.

Wir fahren hinüber nach Monaco, ein ganz neues Land für mich. Zufällig saust Prinz Albert in einem schicken roten Flitzer vor dem Grimaldi-Palast an uns vorbei. Wir schlendern durch die Altstadt, die imposant auf einem Hügel liegt, verdrücken mittags wieder eine Pizza, sind immer noch schlank und gehen zur Spielbank in Monte Carlo. Wir kommen nicht hinein, denn Anne kann ihren Personalausweis nicht vorweisen.

»Ich glaube, er liegt im Auto«, sagt sie und wühlt beim Rausgehen hektisch in ihrer Handtasche. Wir gehen schon in Richtung Auto, als sie plötzlich ruft: »Ich hab ihn!«

Nur ein Teil des berühmtesten Kasinos der Welt ist tagsüber geöffnet. Die hohe Eingangshalle, gelb und mit viel Stuck, beeindruckt mich nicht besonders, viel interessanter finde ich die Menschen im Spielsaal. Mit leerem Blick suchen sie ihr Glück am einarmigen Banditen. Sie scheinen ihm willenlos ausgeliefert zu sein. Ein Bandit winkt mir mit seinem einen Arm zu. Einsam steht er am Rand, niemand sieht ihn. Ich kann ihm nicht widerstehen und stelle mich direkt vor ihn hin. Er oder ich! Ich betrachte ihn neugierig und werfe einen Franc ein. Die Münze verschluckt er gierig. Damit lässt er sich schon abspeisen. Wie billig! Ich höre rumpelnde »Verdauungsgeräusche«. Scheppernd spuckt er unten sogar mehr aus, als ich ihm zu futtern gegeben habe. Faszinierend. Wir verlassen das Kasino. Ich habe 25 Francs Gewinn gemacht, Anne noch mehr. Das Geld wird in die nächste Pizza investiert.

Am Abend haben wir Probleme, in der Jugendherberge einen Schlafplatz zu bekommen. Uns fehlt ein Jugendherbergsausweis, den wir nur in Deutschland hätten kaufen können. Jammern hilft. Wir dürfen für eine Nacht bleiben. Das Zimmer teilen wir mit zwei jungen Frauen, die während einer Zugfahrt durch Frankreich mit Schlafmitteln betäubt und ausgeraubt wurden. Das bringt uns auf die Idee, zu behaupten, man hätte uns die Ausweise geklaut.

Am nächsten Tag regnet es in Strömen. Wir wollen weiter nach Nizza. Die Jugendherberge liegt über den Dächern der Stadt: in einem Waldstück, auf einem Berg mit einem wunderschönen Blick auf die Stadt und das Meer. Auch diese Herberge hat tagsüber die Schotten dicht und einen großen Nachteil: Hier sollen Wertsachen sogar aus verschließbaren Schränken verschwinden. Wir bummeln den halben Tag in einem Einkaufszentrum, besichtigen kurz die verwinkelte Altstadt und schreiben in einer Bar viele Postkarten, bis wir zurück zur Jugendherberge fahren. Wir erzählen die Geschichte vom entwendeten Jugendherbergsausweis und dürfen herein. Abends sitzen wir mit einer Argentinierin, einem Mexikaner, einer Australierin und zwei Mädchen aus Südafrika zusammen. Ich freue mich, meine Sprachkenntnisse endlich praktisch anwenden zu können. Weit nach Mitternacht gehen wir ins Bett.

Als es hell wird, werde ich wach. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich die Stadt im morgendlichen Dunst. Es regnet nicht mehr, dafür schwebt ein Regenbogen über Nizza. Welch schönes Geschenk des Himmels!

Anne ist nicht in ihrem Bett. Ich suche sie. Sie kommt mir auf der Treppe mit bleichem Gesicht entgegen.

»Was ist denn passiert?«, frage ich sie erschrocken.

»Das Auto ist in der Nacht aufgebrochen worden. Alles ist weg!« Sie ist völlig durcheinander, den Tränen nahe.

»Alles? Hast du nichts mit aufs Zimmer genommen?« Ich bin entsetzt.

»Ja, alles ist weg!«, schnieft sie, »wegen der Diebstähle hier habe ich die Sachen im Auto gelassen: Geld, Fotoapparat, Handtasche und den Koffer.«

Oje, denke ich, reiche ihr ein Taschentuch und versuche, sie zu beruhigen. Sie tut mir leid. Es ist ihr Auto und es sind ihre Sachen. Ich überlege: Meine billigen Klamotten sind in der Tasche neben dem Bett und eben war alles noch da. Das Reisegeld trage ich bei mir. Nur das Portemonnaie habe ich ausnahmsweise im Auto gelassen.

»Komm, wir schauen uns das mal an.«

Wir gehen zum Wagen, der direkt vor dem Haus parkt. Zuerst fällt mir die Fensterscheibe ins Auge. Sie lehnt, komplett und unversehrt, am Vorderrad der Beifahrerseite. Die Diebe haben sie säuberlich aus der Fassung genommen. Wir schauen ins Auto. Auf den ersten Blick scheint alles verloren. Der Koffer ist weg, der gute Fotoapparat, die teure Lederjacke und die Handtasche. Und das Geld?

Plötzlich vernehme ich Annes erleichterte Stimme.

Sie kramt in der Fahrertür: »Mein Geld ist noch da!« Mehrere Hundert Mark stecken zwischen Landkarten und Papierkram, die die Langfinger bei ihrem Blitzdiebstahl nicht gefunden haben.

Hallelujah!, denke ich und entgegne: »Meine Geldbörse ist leider weg, aber da waren nur fünfzig Francs drin. Wie gut, dass ich mir das französische Sprachbuch gestern doch gekauft habe.«

Erst jetzt bemerken wir, dass wir nicht die Einzigen sind, die es getroffen hat: Ein weiteres Auto ist in der Nacht aufgeknackt worden. Wahrscheinlich passiert das hier ständig. Ausgerechnet vor der Jugendherberge! Blauäugig, wie wir sind, hätten wir das in Frankreich, an der reichen, azurblauen Küste, nicht erwartet, aber immerhin kommen wir mit einem blauen Auge davon. Inzwischen sucht ein Mitarbeiter der Jugendherberge den Wald ab und entdeckt Annes Koffer auf dem feuchten Boden. Wir eilen schnell herbei. Alle Kleidungsstücke sind noch da. Drei Meter weiter liegt die Handtasche. Und daneben, ich staune, mein Portemonnaie. Ich hebe es auf. Es scheint leer. Hoppla, was kommt denn da? Eine Ameise krabbelt mir entgegen. Lächelnd entlasse ich sie in die Freiheit des dampfenden Waldbodens. Wir suchen weiter. Während Anne sich über den Verlust der Lederjacke und des Fotoapparats zu Recht ärgert, belächle ich die fünfzig Francs. Wie gewonnen, so zerronnen.

Die Autowerkstatt liegt am unteren Ende der Straße. Die Scheibe wird schnell und günstig in ihre Fassung gebracht – und auch wir finden allmählich unsere verlorene Fassung wieder.

Es wäre für mich der absolute Albtraum gewesen, die Reise abbrechen und umgehend die Heimfahrt antreten zu müssen. Nun kann es weitergehen. Aber erst einmal geht es zur Polizei, zum Kommissariat im Stadtzentrum. Kaum haben wir es gefunden, werden wir wieder weggeschickt. Die Herren haben Mittagspause! Vive la France et la police! Wir sollen später wiederkommen. Wir bummeln über den bunten Blumenmarkt, setzen uns in ein Café und essen – ausnahmsweise mal keine Pizza.

Zurück auf der Polizeiwache muss Anne als Autobesitzerin die üblichen Formulare ausfüllen. Alles reine Formsache für die Versicherung und scheinbar Routine für die gelangweilten französischen Polizisten. Die sehen nach der Mittagspause aus, als könnten sie noch ein Mittagsschläfchen gebrauchen.

Trotz allem bleiben wir eine weitere Nacht in der Jugendherberge über den Dächern von Nizza.

Die Ereignisse der zehntägigen Tour de France lenken mich total von meinem frustrierenden Ausbildungsalltag ab. Ich bin unterwegs im Hier und Jetzt, vergesse die Sorgen daheim. Meine Seele baumelt glücklich …

Zurück in Wiesbaden gibt mir die Erinnerung an die Reise die nötige Energie, in den folgenden Wochen Freude beim Lernen für die schriftliche Abschlussprüfung zu empfinden.

Im Büro fühle ich mich bis zum Ende der Ausbildungszeit so einsam wie später niemals auf Reisen. Die Zeit, die ich mit der Chefin und den Kolleginnen verbringe, empfinde ich nach wie vor als vergeudete Zeit, aber sie ebnen mir auf ihre Art den Weg, gern der Heimat den Rücken zu kehren, weil sie mir mein Leben unnötig schwer machen.

Anfang Januar bekomme ich das Gesamtergebnis der schriftlichen Abschlussprüfung zur Bürokauffrau. Erst jetzt weiß ich, dass es richtig war, mich vor der Prüfung mit der kurzen Reise nach Frankreich zu belohnen. Den Beweis, ein simples Blatt Papier, halte ich in den zitternden Händen: eine Zwei.

Sonderinfo für Wiesbaden:

Ein herrlicher Spaß für die ganze Familie findet sich nur sonntags von Anfang April bis Ende August im Harlekinäum und Klooseum in Wiesbaden-Erbenheim. Im Harlekinäum kann man in acht Sälen über jede Menge humoristischer Ideen lachen, das Klooseum widmet sich auf höchst vergnügliche Weise dem stillen Örtchen.

Die Ländersammlerin

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