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HÜHNCHEN ODER RIND? (1996)
ОглавлениеIch bestehe die mündliche Abschlussprüfung zur Bürokauffrau im Januar und nur einen Monat später beginne ich ein neues Leben in einer internationalen Reklamationsabteilung in Frankfurt. Weg aus Wiesbaden, zurück in die Heimatstadt! Mehrere Monate wohne ich wieder bei meiner Mutter, bis wir eine Eigentumswohnung für mich finden. Meine Mutter und Oma unterstützen mich. Ich sitze trotzdem auf einem haushohen Kredit für meine neue Zweizimmerwohnung im Mittelweg und lebe weiterhin bescheiden. Auf ein Auto und Zigaretten verzichte ich gern. Das Fahrrad ist mein Transportmittel in der Mainmetropole und deren Umgebung. Ich bin diszipliniert, trinke nur Wasser, Tee und Apfelwein, esse ungezügelt Schokolade, kaufe mir weder teure Fummel noch luxuriöse Gegenstände. Reisen kostet mich nicht die Welt. Dafür lege ich immer Geld beiseite. Das muss sein, komme was wolle …
Inzwischen arbeite ich seit fast neun Jahren in der Reklamationsabteilung. Ich bin dreißig, Gruppenleiterin und habe bislang fünfundvierzig Länder bereist. Ich wäre selbst nie auf die Idee gekommen, sie zu zählen, aber ich werde gelegentlich von Männern danach gefragt und kann jetzt, ohne lange nachzudenken, eine Antwort geben.
Ausnahmsweise bekomme ich von meinem Chef, der besonderes Verständnis für meine Reiselust aufbringt, ganze sieben Wochen am Stück Urlaub: von Ende November bis Anfang Januar. Normaler Urlaubsanspruch, Resturlaub und »Urlaubsvorschuss« auf das nächste Jahr!
Allein mache ich mich auf den Weg nach Australien und Neuseeland. Ich habe mir eine Reiseroute ausgedacht, aber außer den Flügen nichts gebucht. Apropos Flug: Ein langer, langer Flug steht mir bevor. Die Air New Zealand trägt mich so weit weg wie noch nie – von Frankfurt nach Sydney. Ich freue mich auf Australien; dort ist jetzt Frühling und ich hoffe auf sonniges, warmes Wetter. Ich will drei Wochen dort bleiben und dann von Brisbane nach Christchurch, Neuseeland fliegen. Ich habe leider nicht alle Zeit der Welt zur freien Verfügung. Ob ich alle Sehenswürdigkeiten erreichen werde, wie ich es mir wünsche, wird sich zeigen.
Mir graust vor dem Langstreckenflug in zwei Etappen: Erst elf Stunden von Frankfurt nach Los Angeles und, nach wenigen Stunden Aufenthalt, warten weitere vierzehn Stunden Flug nach Sydney auf mich. Ich wäre gern schon dort. Fliegen ist nicht mein Hobby, aber es muss sein, um ans begehrte, ferne Reiseziel zu gelangen, ohne ein halbes Jahr unterwegs zu sein. Ein komfortableres First- oder Businessclass-Ticket kann ich mir nicht leisten, nur »beamen« wäre schöner … Stattdessen sitze ich wie immer in der engen Economyclass, der Klasse für Genügsame, weil ich es vorziehe, öfter im Jahr zu verreisen, statt mir auch nur ein einziges Mal den Luxus eines bequemen Flugs zu gönnen.
Reisen ist für mich genauso schön wie anstrengend, denn ich möchte in der irgendwie immer zu knappen Zeit so viel wie möglich von jedem Land sehen und mich von seinen Schönheiten und Eigenarten beeindrucken lassen. Kaum habe ich ein Reiseziel erreicht, kommt schon die nächste Etappe, dann eine weitere und noch eine … Es hört erst auf, wenn ich wieder zu Hause bin und beginnt beim nächsten Urlaub von vorne … Jede Reise, egal in welches Land, ist ein einmaliges Erlebnis, das Spuren in mir hinterlässt, jede Reise wird zum Wegbereiter für eine der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens.
Mit einem Seufzer plumpse ich wie ein nasser Sack in den Flugzeugsitz. Nacken und Schultern schmerzen vom Schleppen des Gepäcks. Den lila Tagesrucksack mit meinem Fotoapparat schiebe ich unter den Sitz des Vordermannes, meine langen Gräten strecke ich auf dem Gang aus. Ich will die Flugbegleiter zu sportlichen Höchstleistungen antreiben, Slalom und Hindernislauf sehen. Eine Wonne, aus halb geöffneten Augen das Gehopse zu beobachten. Das ist spitze! Unmöglich! So etwas würde ich nie tun. Unangenehm auffallen ist mir peinlich. Auf blaugrüne Schienbeine und platt getretene Füße verzichte ich gern.
Ich habe Glück: Rechts neben mir sitzt ein Mädchen, seine Zehen berühren kaum den Boden. Genügend Platz für meine Beine! Ich rutsche zwischen den Armlehnen im Sitz hin und her. Obwohl ich schlank bin, habe ich kaum Platz. Es ist so unbequem. Wir sind noch nicht einmal losgeflogen … Wie soll ich das überleben? Ich versuche es mit Bewegungslosigkeit, als säße ich nackt auf einem Nagelbrett, und spüre plötzlich einen kalten Gegenstand unter dem Gesäß. Ich sitze auf Gurt und Schnalle. Die lege ich wohl besser an. Jetzt probiere ich die nächste halbwegs bequeme Position zum Start aus. Ich räkele mich, will gerade in einer Art Starre verharren, als plötzlich der Sitz des Vordermannes zurückschnellt und fast gegen meine Knie donnert. Er schießt sofort wieder in die Senkrechte. Es ist höchste Zeit, wir starten. Wolkenformationen ziehen vorüber. Der Wunsch ist groß, sich in die flauschigen, kuschelig weich aussehenden Gebilde fallen zu lassen und wohligwarm darin aufgefangen zu werden. Seufz! Träum weiter bei deinem Gangplatz!, denke ich mit geschlossenen Augen. Das will ich tun, nicke ein, bis ich höre …
»Beef or chicken? Hühnchen oder Rind?« Ich entscheide mich für »Hühnchen, bitte!« Der kleinen Sitznachbarin und ihrer Mutter wünsche ich »Guten Appetit!«.
»Danke, gleichfalls!«, kommt es freundlich zurück.
Ich habe einen Bärenhunger. Auf dem Tablett versteckt sich die Hauptspeise in einem Plastiksarg mit heißem Aluminiumdeckel, den ich vorsichtig abziehe. Das nackte Ex-Federvieh bewegt sich nicht. Es liegt eingebettet in matschbrauner Soße, geschmückt mit grünen Erbsen und sonnengelben Kartoffeln. Verzweifelt versuche ich, mit dem stumpfen Messer den regungslosen Broiler zu zerteilen. Endlich landet ein Geflügelbröckchen souverän in meinem halb geöffneten Mund, nur um sofort wieder an die frische Kabinenluft und dann in den Plastiksarg katapultiert zu werden. Meine Zunge brennt wie Feuer. Zum Kühlen schütte ich mir schnell kaltes Wasser aus dem Plastikbecher nach. Das kleine Mädchen sieht mich erschrocken an. Lächelnd nicke ich in ihre Richtung: »Zu heiß!«
Die bunte Masse wartet auf den nächsten Angriff. Mittagessen, die Zweite. Ich versuche es erneut. Plötzlich schlenkert das Flugzeug. Der Happen platscht in meinen Schoß und hinterlässt einen Flecken auf der frisch gewaschenen Hose. Neben mir kichert es leise. Mir reicht es! Ich nehme das widerspenstige Geflügelstückchen in die Hand und stopfe es mir in den Mund. Die Kleine blickt erst mich, dann die von ihrer Mutter mundgerecht geschnittenen Häppchen an, überlegt und macht es mir nach. Jetzt ist das Gemüse dran. Ich schaufele mir drei Erbsen auf die Gabel und sie purzeln nacheinander herunter. Natürlich direkt auf die Jeans. Noch mehr braune Fleckchen auf der Hose.
Sie erinnern mich an ein Erlebnis vor zweieinhalb Jahren in Island, über das ich heute noch schmunzle: An der Hand meines Ehemanns wandere ich durch die saftiggrüne Landschaft Islands. Ich kann fast das Gras wachsen hören. Es hat in den letzten Tagen viel geregnet. Die Sonnenstrahlen brechen endlich durch die tief hängenden grauen Wolken. Das Naturschauspiel gleicht einem Gemälde von Caspar David Friedrich.
Wir gelangen auf einem steinigen Weg an eine riesige, umzäunte Weide, die über einen Hügel hinausreicht. Islandponys malmen Gras. Wenn sie in ein anderes Land verkauft werden, dürfen sie nicht mehr in ihre Heimat zurück. Das dient zur Erhaltung dieser besonderen Pferderasse. Allein der Gedanke, nicht mehr in meine Heimat zurückzudürfen, ist für mich unvorstellbar, obwohl ich gern weit weg bin. Wir schlendern auf das geschlossene Gatter zu. Ich wünsche mir, dass ein Pony zu mir kommt, damit ich es streicheln kann. Der Wunsch geht in Erfüllung: Laut wiehernd und im vollen Galopp prescht ein Pony mit gespitzten Ohren und wehender Mähne heran. Ich denke überrascht: Wir kennen uns doch gar nicht! Solch stürmische Begeisterung bin ich nicht gewohnt, nicht einmal bei Pferden.
Mein Gatte entfernt sich vorsichtshalber vom Gatter. Das Tier schlittert und bleibt schnaufend kurz vor meiner Nase auf dem matschigen Boden auf der anderen Seite stehen. Ich halte ihm erst meine leere, flache Hand entgegen und kraule dann seinen Hals. Plötzlich prustet es mit weit aufgeblähten Nüstern und hustet mit geöffnetem Maul. Natürlich mit absoluter Treffsicherheit in meine Richtung. Ich trage einen helllila Mantel. Der wird zuerst vollgerotzt und dann mit Grasklümpchen aus dem Maul besprenkelt. Wer hat schon Pferde kotzen sehen? Ich gucke total dumm aus der Wäsche und noch dämlicher auf den Mantel, dann lache ich laut los. Die Grasklümpchen haben dekorative grüne Pünktchen auf meinem Mantel hinterlassen. Ich streichle das Islandpony und wuschle durch seine dicke Mähne.
Zusammen mit meinem Mann lerne ich auf der Islandreise den Australier Sam in einem verschlafenen Nest namens Stykkisholmur kennen. Wir übernachten in der Jugendherberge, die wir praktisch für uns haben, weil sonst keiner da ist. Bis tief in die Nacht unterhalten wir uns. Sam ist ein halbes Jahr gezielt in nordischen Ländern wie Skandinavien, Alaska, Kanada und Island unterwegs. Er wird in Sydney meine erste Anlaufstelle sein. Ich freue mich, ihn wiederzusehen. Bei ihm werde ich ein paar Tage bleiben, bevor ich allein weiterziehe.
Jahrelang bin ich mit meinem Mann, meinem Reisebegleiter, gemeinsam durch die Welt getingelt. Es macht mich traurig, dass die schönen Zeiten mit ihm vorbei sind, aber die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen und das Geschehene kann man nicht ändern. Seit der Trennung vor einem Jahr fliege ich zum ersten Mal allein auf einen anderen Kontinent. Es wird eine ganz andere Erfahrung sein, in einem fremden Land als Frau auf mich allein gestellt zu sein, statt mich ständig auf einen männlichen Begleiter berufen zu können.
Ich habe die Wahl: daheimbleiben oder allein reisen … Ich reise.
Der Umwelt zuliebe:
Leider werden auch hoch über den Wolken jede Menge Einweggeschirr aus Plastik benutzt und Unmengen an Müll für die Erde produziert. Ich habe im Tagesrucksack immer einen Mehrwegbecher für Getränke dabei und spare so der Umwelt zuliebe auf jedem Langstreckenflug in der Touristenklasse ein paar Wegwerfplastikbecher.