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ALLEIN AUF DIE INSEL (1979)
ОглавлениеSeit dem Skiurlaub setze ich meine ungestümen Kinderfüße nur in Begleitung meiner Mutter auf fremden Boden. Wir machen Tagestouren in die Nachbarländer Schweiz, Luxemburg und Frankreich.
Ich bin ein zurückhaltendes Mädchen. Besonders in der Schule. Stehe nicht gern im Mittelpunkt. Ich bin bescheiden und muss nicht alles haben. Am liebsten bin ich bei den Pferden im Reitstall in Hofheim. Bei ihnen fühle ich mich wohl. Ihre Kraft gibt mir Energie, ihre Geduld beschert mir Zuversicht. Die großen Tiere lassen mich alle Sorgen des Schulalltags vergessen.
Seit der fünften Klasse habe ich Latein. Die Sprache der alten Römer müssen wir im Unterricht nur übersetzen. Englisch lerne ich erst seit einem Jahr. Das macht viel mehr Spaß, weil ich mich da unterhalten und mit anderen Menschen austauschen kann. Ich bekomme die Gelegenheit, die neue Lieblingssprache bei einem Aufenthalt als Gastschülerin in einer englischen Familie zu verbessern. Auf nach England! Es ist Sommer. Die Sonne scheint. Ein herrlicher Morgen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof. Der Zug steht auf dem Gleis bereit. Er ist so lang. Ich sehe das Ende nicht. Gehe unter in einem Gewimmel hektischer Menschen. Alle sind total aufgeregt, vor allem die Eltern. Viele lassen ihre Kinder zum ersten Mal los und allein in die noch fremde Welt ziehen. Ich gehöre zu den Jüngsten der Gruppe, bin erst dreizehn, unheimlich gespannt und freue mich riesig auf das fremde Land, über das ich in der Schule schon einiges erfahren habe, auf die Leute – und vor allem auf die Pferde.
Für die jeweiligen Zielorte sind wir in Gruppen eingeteilt. Ich gehöre zur »Reiter-Gruppe«! Bei uns sind, typisch!, dreiundzwanzig Mädchen und nur vier Jungen. Ich lerne alle schnell kennen. Der bärtige Wolfgang begleitet uns auf dem Weg an die englische Südküste. Er ist unser deutscher Betreuer und Englischlehrer.
Der Zug fährt ab – und nimmt uns mit in ein unvergessliches Abenteuer! Wir drängeln uns an den Fenstern, hängen wie die Kletten alle auf einer Seite der Waggons. Kriegt er gleich Schlagseite und kippt um? Er fährt unbeirrt weiter. Keiner fällt raus. Ich winke meiner Mutter, bis ich sie nicht mehr sehe. Auf dem Bahnsteig werden die Menschen zu einer einzigen bunten Masse und entschwinden. Wir sitzen im Abteil, quatschen und machen Quatsch. Flott werden wir durch die grüne Landschaft gefahren. Endstation Ostende, kurz vor dem Ärmelkanal.
Mittags sind wir auf der Fähre. Es herrscht moderater Seegang. Mit gequälten, blassen Gesichtern hängen einige über der Reling. Sie tun mir leid. Ich habe Mutter schon so erlebt. Seekrank. Ganz übel. Diese Neigung hat sie mir nicht in die Wiege gelegt – ein Glück! Ich schaue mich auf dem Schiff um.
Am Nachmittag erreichen wir Dover. Endlich gehen wir in England an Land! Die Küste ist felsig, weiße Klippen strahlen uns entgegen. Weiter geht es im Bus, der schon auf uns wartet. Und mit ihm warten eine ganze Menge weiterer Busse auf ihre Passagiere. Wir müssen nur den richtigen finden! Kein Problem, der bärtige Wolfgang lotst uns sicher durch das Busgetümmel.
Wir fahren umständlich über London und nicht an der Küste entlang. Auf die Fahrt am Meer hatte ich mich gefreut, aber das macht nichts. Ich fühle mich wohl und bin in guter Gesellschaft. Wir alle wollen nur ankommen. Irgendwann. Und abends sind wir endlich am Ziel: in Bournemouth in der Grafschaft Dorset. Es war ein langer Tag, aber bin ich müde? Kein bisschen! Ich bin froh und aufgekratzt.
Die Gastfamilien warten schon auf uns. Sie stehen auf dem Schulhof. Wir werden aufgerufen und zugeteilt. Ich komme zu Familie Miller, bei der ich ab jetzt drei Wochen bleiben werde. Sie wohnt im Roosevelt Crescent, nur wenige Minuten zu Fuß von der Schule. Die Straße beschreibt einen Halbmond. Alle Häuser sind aus braunem Backstein und sehen sich zum Verwechseln ähnlich.
In Familie Millers Haus liegt überall flauschiger Teppichboden. In den Zimmern, auf der Treppe, im Bad … Huch! Sogar auf dem Toilettendeckel. Nur die Küche ist flauschteppichfrei. Mein Zimmer befindet sich im ersten Stock. Drei Betten und ein Schrank stehen darin. Das Fenster gibt den Blick frei auf die ruhige Straße. Ich teile das Zimmer mit den Schwestern Sandra und Simone, elf und sechzehn Jahre alt. Die Große muss auf die Kleine aufpassen. Sie streiten ständig. Leider nicht auf Englisch. Dann hätte ich wenigstens was gelernt: All die schönen Schimpfwörter, die wir nicht wissen sollen und in der Schule nicht beigebracht bekommen. Mit den freundlichen Gasteltern und den lustigen Nachbarskindern auf der Straße lache ich viel und spreche nur englisch. Ich bin überrascht, dass ich mich so gut mit ihnen verständigen kann. Sie helfen mir weiter, wenn ich ein Wort nicht weiß.
Morgens geben uns Wolfgang und der Engländer John Unterricht. Nachmittags dürfen wir reiten. Jeder Wochentag verläuft so – oder umgekehrt. Im Reitstall tut mir ein angeketteter Schäferhund-Mischlingsrüde leid. Er schaut mich immer traurig an. Ich schiebe ihm heimlich mein Mittagessen zu. Das lässt kulinarisch zu wünschen übrig. Labbrige, fade Sandwiches. Toastbrot, allerdings nicht getoastet, mit trockenem Thunfisch oder geschmackloser Wurst, Gurken und Tomaten belegt. Das Gemüse esse ich, der Rest schmeckt mir nicht. Aber dafür dem mageren Hund umso mehr.
Auf dem Reiterhof gibt es auch einen Esel. Jeden, der es wagt, sich auf ihn zu setzen, wirft er sofort wieder ab. Im hohen Bogen. Ob es ihm Spaß macht, mutige Kandidaten durch die Luft zu katapultieren? Jedenfalls wird er nicht müde, »englisches Rodeo« aufzuführen. Alles halb so wild: Niemand tut sich ernsthaft weh oder verletzt sich. Noch nicht …
Am Samstag fahre ich zu einem Reitturnier nach Brockenhurst. Eine halbe Stunde allein mit dem Linienbus. Plötzlich, kurz vor dem Ziel, bleibt der Bus stehen. Fährt rückwärts, biegt ab in eine Seitenstraße und fährt eine andere Strecke. Ich schaue aus dem Fenster und staune. So etwas habe ich noch nie gesehen: Im Ort stehen und liegen Ponys friedlich mitten auf der Straße. Sie werden nicht geritten, dösen in der Sonne, sind wild und frei, können machen, was sie wollen. Wir befinden uns am Rande des New Forest, dem größten freien Waldgebiet Südenglands mit Wanderwegen durch die unzerstörte Natur und vor allem mit wild lebenden Ponys. England, du gefällst mir. Daumen hoch. Ganz hoch.
Noch mehr beeindruckt mich das Reitturnier, eine typisch englische Horse Show. Pferde, so viele wie Steine an der englischen Küste. Vom Miniatur-Pony bis zum Riesenross. Die Vierbeiner sind herausgeputzt und aufgemotzt. Weiches Leder und sanft gestriegeltes Fell glänzen um die Wette. Ich liebe diesen Geruch. Strahlende Kinder, kaum den Windeln entwachsen, sitzen im schicken Reitoutfit kerzengerade wie Prinzessinnen auf ihren Ponys. Es gibt unzählige Verkaufsstände rund ums Pferd. Alles, was das Teenieherz begehrt. Die quirlige Jahrmarktatmosphäre fasziniert mich. Wohin soll ich nur zuerst gehen? Für einen Pferdefan wie mich ist es das Schlaraffenland. Ich wühle mich durch die Stände und kaufe Schlüsselanhänger mit Pferdemotiven. Die gebe ich nie mehr her! Dieser Tag – unvergesslich.
So auch der letzte Abend. In einer Sporthalle ist ein Fußballturnier gegen Sprachschüler aus Frankreich angesetzt. Ein rasantes Spiel. Ich schaue nicht zu, ich bin dabei und will kicken! Ich will angreifen, ihnen zeigen, was ich draufhabe. Im Sturm den Ball erobern und ins Tor schießen. Aber … Ich stehe unbeachtet in der Abwehr. Wie öde. Ich gähne laut. Bekomme einfach keinen Ball vor die Füße. Dann eben nicht! Ich drehe zu Tode gelangweilt Däumchen und bin demonstrativ frustriert. Ich konzentriere mich nur noch auf meine Finger, passe nicht auf, sehe ihn nicht … Er ist schnell, rasend schnell! Er reißt mich aus meiner Däumchendreh-Trance. Auch ohne Valium reagiere ich in Zeitlupe. Zu spät. Selbst schuld. Es knackst. Ganz leise. Nur ich höre es. Ein Volltreffer, nicht ins Tor. Der Ball prallt von meinem rechten Daumen ab. Ein blitzartiger Schmerz durchfährt mich, Tränen schießen mir in die Augen. Niemand merkt etwas. Außer mir. Ich beiße die Zähne zusammen und tue so, als sei nichts passiert. Ich spiele bis zum bitteren Ende weiter, ohne Däumchen zu drehen, denn das geht nicht mehr. Und überhaupt: Von einem »Däumchen« kann keine Rede mehr sein, es ist jetzt ein dicker Daumen, doppelt so groß wie vorher, Farbe Grünblau. Ich halte das Ungetüm hoch, damit das Blut abfließen kann. Es pocht. Die Haut spannt. Der Daumen tut verdammt weh. Ich zeige ihn der Gastmutter. Sie fährt sofort ins Krankenhaus mit mir. I’m not amused. Not at all, denke ich. Ist das peinlich. Ich will doch keine Umstände machen und entschuldige mich. Die Gastmutter tut mir leid – mehr als ich mir selbst. Kurz vor der Abreise muss sie noch so ein Schlamassel mitmachen.
Der erste Alleingang ins Ausland endet in einem englischen Krankenhaus. Wir warten an der Rezeption. Nach einer Weile kommt der Arzt. Er will wissen, was passiert ist. Ich erkläre es ihm demonstrativ, ohne rot zu werden. Er schmunzelt und nimmt mich mit. Ich gehorche brav. Der Megadaumen wird geröntgt. Seine Diagnose »It is a little bit broken« verstehe ich auf Anhieb. Der Daumen ist angebrochen. Der Arzt schmiert kühlende Salbe auf das farbenfrohe Prachtstück und verbindet es. Alles kostenlos. Ich bezahle kein Pfund, nur der blaugrüne Daumen ist pfundig.
Der Daumenanbruch tut meiner Liebe zu England und einer reisefreudigen Zukunft keinen Abbruch. Ich komme wieder. Im Alter von fünfzehn und achtzehn verbringe ich drei Wochen der Sommerferien in Hastings. Der englische Humor färbt auf mich ab. Ihn nehme ich gern mit in die Heimat und er begleitet mich auch sonst überallhin. Ich bin sicher, dass mein Weg, der mich durch die ganze Welt führt, bereits in Englands Süden geebnet wurde. Hier liegt der Ursprung meiner Reiselust.
Ein Muss fürs Vereinigte Königreich:
Im Norden des Vereinten Königreichs, das ebenfalls zu meinen Top 5 der europäischen Länder zählt, liegen hinter den Mooren und Bergen, nicht weit vom schottischen Festland entfernt, gut mit der Fähre zu erreichen, die Orkney-Inseln. Auf Mainland, der größten Insel des Archipels, sind faszinierende mystische Monumente aus der Jungsteinzeit ein sehenswertes Muss.