Читать книгу Leben ohne Ende - Nino Rauch - Страница 12
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ОглавлениеAm nächsten Tag muss ich zu einer Magnetresonanz-Untersuchung in die Landeshauptstadt St. Pölten. Wie genau meine Mutter es geschafft hat, so schnell den nächsten Untersuchungstermin zu bekommen, ist mir schleierhaft. In jedem Fall ist sie dafür den ganzen Abend am Telefon gehangen. Ich überstehe die Prozedur mit meiner schon im Goldenen Kreuz erprobten Methode des passiven Widerstandes. Meine Mutter scheint das nicht zu stören, solange ich alles mit mir machen lasse, was sie und die Ärzte von mir verlangen.
Danach ist erst einmal Ruhe. Das Nikolaus-Fest steht vor der Tür. Traditionell feiern wir es bei meinen Großeltern, und diese Feier scheint mir der ideale Ort zu sein, um in die Normalität zurückzukehren und den Spitals-Albtraum hinter mir zu lassen.
Es ist früher Nachmittag und noch hell draußen. Als wir Kinder jünger waren, hat sich mein Stiefvater an diesem Tag manches Mal als Nikolaus verkleidet und uns die Jutesäckchen, die mit Mandarinen, Äpfeln, Nüssen, Schokoladekrampussen und Vanillekeksen von Oma gefüllt waren, gegen Vortrag eines kurzen Gedichts überreicht. Schon als ich vier Jahre alt war, habe ich ihn beim Betreten des Hauses an seinen Schuhen erkannt.
Wir sitzen um den großen Esstisch, meine Brüder reden und lachen. Mein Opa spricht über die Fußballsaison, über die Leistungen seiner Lieblingsmannschaft Rapid, beklagt Spritpreise, das immer teurer werdende Service seines Autos und amüsiert sich über meine Geschichten aus dem Internat. Über meine Gesundheit spricht hier niemand, und darüber bin ich heilfroh.
Da mein Opa mich oft zur Schule fährt und ebenso oft zu den Matches begleitet, kennt er die meisten meiner Klassenkollegen und fragt mich gerne über ihre neuesten Streiche und Späße aus. Wenn ich ihm davon erzähle, verändert sich sein Gesichtsausdruck. Er wird weicher und milder und sein spitzbübisches Lachen erinnert mich dann an das eines kleinen Jungen. Die Großmutter will wissen, ob es schon einen Termin für die Weihnachtsfeier im Fußballverein gibt, fragt, ab wann ich und meine Brüder trainingsfrei haben, was die Schule macht und ob im Heim ordentlich gekocht wird. Ich sage, dass das Essen in unserer Kantine nicht annähernd so gut schmeckt wie das ihre, und sie lächelt zufrieden. Mein Stiefvater setzt sich neben meinen Opa, spricht mit ihm über den österreichischen Fußball. Sie diskutieren, ob Rapid es schaffen wird, dieses Jahr den Meistertitel zu holen, sind sich einig, dass das Nationalteam nicht mehr so gut ist und seine Spieler nicht mehr so ehrgeizig sind wie früher.
»Die Burschen sind alle zu verwöhnt. Es spielt ja keiner mehr in seiner Freizeit im Park«, sagt mein Opa und schüttelt den Kopf. Mein Stiefvater nickt und holt Naschereien aus der Küche. Wie immer hat meine Mutter sie schon zwei Wochen zuvor für uns besorgt. Aber sie ist diesmal nicht wie sonst bei unserer Feier dabei. Sie trifft sich in Wien mit einem gewissen Professor Helmut Gadner. Natürlich weiß ich, dass es dabei um mich geht.
In den vergangenen zwei Tagen hat meine Mutter ihre manische Telefonaktivität noch gesteigert. Sie hat pausenlos mit Medizinern telefoniert, Meinungen eingeholt und das weitere Vorgehen geplant. Ich selbst war damit beschäftigt, die Erinnerungen an die Operation und die Untersuchungen im Krankenhaus zu verdrängen. Ich habe mich entschieden, über die möglichen Konsequenzen einfach nicht nachzudenken. Ich möchte Profisportler sein, und Profisportler sind nicht ernstlich krank.
Meine Brüder streiten gerade darüber, ob Ronaldo oder Figo der bessere Fußballer ist, als meine Mutter auf einmal im Zimmer steht. Niemand von uns hat sie das Haus betreten gehört, keiner damit gerechnet, dass sie so schnell wieder aus Wien zurück sein würde.
Sie sieht mich an. Ihr Blick ist so konzentriert, dass ich das Gefühl bekomme, es seien nur wir beide im Raum.
»Pack deine Tasche, Nino!«, sagt sie, »wir müssen ins Spital.«
Ihre Stimme klingt einen Halbton tiefer als gewöhnlich.
»Jetzt!? Sofort!?«, stottere ich. Ich kann nicht glauben, dass sie mich aus der gemütlichen Atmosphäre reißen will. Sie nickt, und ihr Gesicht hat die Farbe von kalkigem Stein.
Ich achte nicht darauf, wie meine Großeltern, meine Brüder und mein Stiefvater reagieren. Ich spüre bloß, wie ein Wall der Abwehr in mir wächst. Ich steige bloß wegen der Blässe meiner Mutter in den Wagen, wegen ihrer versteinerten Körperhaltung und ihrer veränderten Stimmlage. All das gibt mir ein Gefühl, als hätten mich zwei schrankbreite Türsteher untergehakt, um mich wer weiß wohin zu befördern. Widerstand zwecklos.
Die gesamte Fahrt über sprechen wir kein Wort miteinander. Es ist diese Ruhe vor dem Sturm, die mir mehr Angst macht als alles andere. Denn während der Autofahrten der vergangenen Tage habe zwar ich meine Mutter angeschwiegen, um meinen Widerwillen zum Ausdruck zu bringen. Aber sie hat sich, wie sie es immer tut, trotzdem bemüht, wenigstens ein bisschen Konversation zu betreiben, auch wenn sie dabei in mir ein denkbar ungeeignetes Gegenüber hatte.
Diesmal geht das Schweigen von ihr aus, und es ist so drückend, dass ich es nicht wage, es zu brechen. Dabei ist mir die Stille plötzlich so unangenehm, dass ich meiner Mutter dankbar wäre, wenn wir irgendein belangloses Gespräch führen würden. Aber es geht nicht, und das macht mir den Ernst der Lage auf die schrecklichste Weise bewusst.
Das St. Anna Kinderspital liegt ganz in der Nähe vom Goldenen Kreuz, wo vor drei Tagen der Eingriff vorgenommen wurde. Als ich aus dem Wagen steige, will ich deshalb in die andere Richtung gehen. Meine Mutter hält mich zurück. Sie deutet stumm auf den richtigen Eingang. Ich lese den Namen des Spitals dreimal. Werbebilder von Spendenkampangen poppen in meinem Kopf auf. Ich sehe Kinder mit durchscheinender Haut. Bläulich schimmernde Adergeflechte. Die Kinder haben keine Haare. Nicht einmal einen Flaum, weder Brauen noch Wimpern. Durch die fehlende Begrenzung wirken ihre Augen riesig. Mein Magen dreht sich um, sodass ich fast die paar Weihnachtskekse wieder loswerde, die ich bei meinen Großeltern essen konnte, bevor meine Mutter mich gekidnappt hat.
»Was machen wir hier?«, schreie ich. Meine Mutter greift nach meiner Hand, hält sie fest, als wollte sie einen möglichen Fluchtversuch unterbinden.
»Du musst ein paar Tage mit Cortison behandelt werden. Währenddessen werden weitere Untersuchungen durchgeführt, damit sie mit Sicherheit sagen können, woran du leidest.«
»… leidest.« Ich will das Wort nicht hören. Seine Buchstaben hämmern in meinen Kopf.
Wir treten durch ein Glastor. Unsere Schritte hallen. Meine Mutter scheint mit jedem Meter zu schrumpfen. Mir fällt ein, dass sie schon einmal hier war. Es liegt Jahre zurück, aber sie hat mir einmal davon erzählt, als wir beide noch nicht ahnen konnten, dass wir dieses Gebäude jemals gemeinsam betreten würden.
Die Cousine meiner Mutter ist in diesem Haus gegen Leukämie behandelt worden. Mit sechzehn Jahren ist sie in einem der Zimmer an der Krankheit gestorben. Als mir das einfällt, und ich zu wissen glaube, dass auch meine Mutter daran denkt, explodiert Hitze in mir wie eine Bombe. Ich habe das Gefühl niederzubrechen, aber meine Beine machen einfach weiter, als würden sie nicht zu mir gehören. Meine Mutter hält meine Hand, als würde sie sie nie mehr loslassen wollen.
Ich erinnere mich, wie meine Mutter mir von dem viel zu kleinen Gesicht ihrer Cousine erzählt hat, das mit dem Fortschreiten der Krankheit immer weiter zu schrumpfen schien, von ihren Oberschenkeln, die so dünn wie die Oberarme gesunder Kinder waren. Damals musste man das St. Anna Kinderspital durch eine Schleuse betreten. Darin wurde man von Kopf bis Fuß mit Desinfektionsmittel besprüht und musste danach Schutzkleidung überziehen, um keine Keime in das Innere des Krankenhauses zu tragen.
Zwar gibt es die Schleuse nicht mehr, aber der Weg durch das Glastor und die Eingangshalle kommt mir trotzdem vor wie ein Gang zum Schafott, und ich weiß, dass es meiner Mutter genauso gehen muss.
Wir stehen in der Eingangshalle. Ich blicke mich um, sehe kleine bunte Sessel. Gelb und rot. An den Wänden hängen Kinderzeichnungen. Es riecht nach Desinfektionsmittel und seltsam bitter. Ich betrachte meine Umgebung, als sähe ich sie durch eine Trennscheibe. Hinter den vordergründig fröhlichen Farben und den lustigen Bildern spüre ich entsetzliche Dunkelheit. Ich frage mich, wie viele Kinder in diesem Haus schon gestorben sind. Meine eigene Welt schrumpft auf dieses Krankenhaus zusammen.
»Muss ich jetzt sterben?«
Der Satz bricht aus mir heraus. In diesem Moment bin ich kein selbstbewusster Jugendlicher mehr, und schon gar kein Profisportler. Sondern ein kleiner Bub. Ein Kind, das Schutz bei seiner Mutter sucht, von der es weiß, dass sie doch immer alles heilen kann. Doch meine Mutter schweigt. Ich sehe, dass sie versucht, ihre Tränen zurückzuhalten. Es gelingt ihr nicht. Wir weinen beide. Weinen hemmungslos in der Eingangshalle stehend, bis eine Schwester kommt und uns zur Seite nimmt.