Читать книгу Leben ohne Ende - Nino Rauch - Страница 5
1
ОглавлениеIch schrecke aus dem Schlaf auf. Mein Unterarm fühlt sich feucht an. Es ist dunkel. Ich drücke mich aus meiner Bauchlage hoch. Weit genug, um das Leintuch abtasten zu können. Unter meinen Fingern ist es nass, warm und klebrig.
Vor Schreck ziehe ich meine Hand mit einem Ruck zurück. Ich beuge mich aus dem Bett und drücke den Lichtschalter. Ein, zwei Sekunden brauchen meine Augen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen, dann sehe ich es ganz klar: Mein Leintuch, meine Decke und mein Kissen sind knallrot.
In Panik springe ich auf und betrachte die Lache, die sich langsam ausbreitet, sich in den Stoff frisst und in die Matratze sickert. Der Fleck hat einen Durchmesser von der Größe eines Fußballtrikots. Das Blut tropft von der Bettkante. Dünne Rinnsale. Der Boden rund um die Lache ist rot gesprenkelt, und die Flecken auf dem Teppich laufen schon ineinander. Ich widerstehe dem Impuls, laut zu schreien, weil ich meine Eltern nicht wecken will. Zum Glück teile ich mir mein Zimmer nicht mit meinen beiden kleineren Brüdern Rico und Raffael. So bekommt vorerst niemand mit, was hier geschehen ist.
Entsetzt schaue ich an mir herunter. An meinen Armen klebt Blut, an meinen Fingern, am Körper. Ich begreife nicht, was passiert ist. Ich sehe keine Wunde, fühle keinen Schmerz. »Scheiße, was ist nur los?«, denke ich.
Ich befühle hektisch meinen Bauch, die Arme, den Hals, um doch etwas zu finden, spüre aber keine Verletzung. Zitternd berühre ich meine Nase, und obwohl sie mir nicht weh tut, bin ich sicher, dass das Blut nur von dort stammen kann. Da ich schon seit Wochen unter einem chronisch verstopften Nasenloch und anderen Beschwerden leide, ist das der einzig logische Schluss. Ich atme tief durch und fühle, wie mein Puls wieder sinkt, als mir die Erzählung eines Schulkollegen einfällt, der unter häufigem Nasenbluten leidet und nachts schon öfter in solchen Schlachtfeldern aufgewacht ist. Zumindest hat er das behauptet. »Jetzt hab ich auch was zu erzählen«, denke ich.
Da ich pinkeln muss, gehe ich aufs Klo, und bin froh, dass ich einen Grund habe, das Zimmer zu verlassen, das aussieht, als wäre darin ein brutaler Mord verübt worden. Während ich mich erleichtere, amüsiere ich mich sogar einen Moment lang über die absurde Vorstellung, jemand könnte mein Zimmer so vorfinden und glauben, ich sei erstochen worden. Da bemerke ich, dass mein Urinstrahl nicht gelb, sondern blutrot ist.
Mir wird schwindlig. Ein heftiges Druckgefühl baut sich in meinem Ohr auf und breitet sich im Kopf aus. Als ich noch einmal in die blutige Kloschüssel schaue, kriege ich kaum Luft. Die Bedenken, meine Eltern zu wecken, sind plötzlich weg. Ich laufe in ihr Schlafzimmer und rüttle meine Mutter unsanft wach. Sie schreckt auf, will wissen, was los ist. Ich schalte die Lampe auf ihrem Nachttisch ein und halte ihr meine blutigen Hände entgegen. Erst jetzt sehe ich im Spiegel neben ihrem Bett, dass auch mein ganzes Gesicht wie mit roter Farbe bemalt aussieht.
Meine Mutter starrt mich an wie ein Gespenst. »Was hast du da gemacht!«, fährt sie mich an. Ich stammle herum, als müsste ich etwas verbergen und fühle mich dabei wie ein kleiner, hilfloser Junge. In meinen Augen spüre ich Tränen, die hinauswollen. Da sie jetzt schon so entsetzt ist, traue ich mich nicht, meiner Mutter auch noch von dem blutigen Urinstrahl zu erzählen, obwohl ich sie doch deshalb geweckt habe. Stattdessen entschuldige ich mich sinnlos und murmle etwas von Nasenbluten. Kaum habe ich das Wort ausgesprochen, scheint meine Mutter sich ein bisschen zu entspannen. Das macht auch mich wieder ruhiger.
Sie atmet tief durch, schaut hinüber zu meinem Stiefvater, der immer noch schläft, dann wieder zu mir. »Morgen«, sagt sie, »fahren wir ins Spital«. Sie sagt es in einem Ton, der mir signalisieren soll, dass Widerspruch zwecklos ist.