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Ich kenne es nicht, mich krank zu fühlen. Vielleicht auch, weil mein Umfeld von mir immer erwartet hat, gesund zu sein. Ich bin Leistungssportler. Mit sechs Jahren meldet mich mein Stiefvater bei der Juniorfußballmannschaft meines Heimatorts Stockerau an. Er selbst wie auch sein Schwiegervater, mein Großvater, haben ihr Leben lang in ihrer Freizeit auf dem grünen Rasen gespielt. Um mir die Anerkennung der beiden zu verdienen, trainiere ich so viel und hart ich kann. Bald wird klar, dass ich Talent habe. Die Trainer sehen, wie geschickt ich den Ball berühre, wie ich seine Flugbahn erahne, was für einen Riesenspaß mir das Spiel macht. Für das Training verzichte ich gerne auf meine liebste Fernsehsendung, auf einen Nachmittag im Freibad oder einen Kinobesuch mit meinen Eltern. In das Stammbuch meines besten Freundes schreibe ich unter die Frage nach meinem schönsten Tag, Pizza zum Mittagessen und Fußballtraining am Nachmittag.

Von jetzt an fahre ich in allen Schulferien ins Trainingslager, wo ich von österreichischen Fußballgrößen wie Didi Constantini und Hermann Stessl trainiert werde. Meine Eltern fördern mich gerne und sind daher bereit, die nicht gerade billigen Camp-Aufenthalte zu bezahlen.

Mit dreizehn Jahren wechsle ich von der Stockerauer Fußballmannschaft in die von Spillern, eine höhere Liga. Dort werde ich rasch zum wichtigsten Stürmer, schieße die meisten Tore der Saison und verhelfe der Mannschaft zum Sieg in der Meisterschaft. Im Ort bin ich ein kleiner Star. Die hübschesten Mädchen des Dorfs versäumen keines meiner Spiele, winken mir von der Tribüne aus zu, springen bei jedem Tor auf und rufen meinen Namen. Wenn ich sie nach dem Match anspreche, laden sie mich zu Grillfesten und Poolpartys in die Häuser ihrer Eltern ein. Die Burschen nicken anerkennend, klopfen mir auf die Schulter, wollen bei mir einschlagen. Im Ort gibt es keinen Gleichaltrigen, der mich nicht grüßt, wenn er mir auf der Straße begegnet. Alle wollen zu unserer Fußballclique gehören.

Als ich, von meinen Fans und der Familie umjubelt, den Meisterschaftspokal in Händen halte, bin ich der glücklichste Junge der Welt. Ich spüre sein Gewicht in meinen Händen, sehe den Sonnenglanz des Metalls und fühle mich durch ihn erhoben. Mein Trainer dreht den Lautstärkeregler der Musikanlage bis zum Anschlag.

»We are the Champions« dröhnt über den Platz. Ich höre die Rufe nicht mehr, kein Klatschen und keine Gratulationen, sehe nur noch mein Lebensziel. Ich will Fußballprofi werden.

Mein Traum scheint in Erfüllung zu gehen, denn schon kurz darauf werden meine Eltern von den verschiedensten Leistungssportzentren Österreichs angerufen. Meine Mutter spricht mit den sportlichen Leitern und erkundigt sich nach den Kosten, ob ich weiterhin zu Hause wohnen kann oder welchen Abschluss mir die Schule ermöglicht. Sie versprechen mir, mich zu einem Star zu machen, malen mir eine glänzende Karriere aus, reden von einer Einberufung in das Nationalteam und von einer Menge Geld, die es zu verdienen gäbe. Als ich meinen beiden kleinen Brüdern davon erzähle, sind sie natürlich neidisch, zugleich aber wirken sie auch stolz, einen so erfolgreichen großen Bruder zu haben.

Es schmeichelt mir, so umworben zu werden, etwas Besonderes zu sein. Rasch entscheiden meine Eltern und ich, dass ich mit dem kommenden Schuljahr in das Sportgymnasium St. Pölten wechseln werde. Unter der Woche werde ich im zugehörigen Internat wohnen. Meine Eltern haben sich vor allem für diese Schule ausgesprochen, weil sie mit Matura abschließt. Noch sehen sie nicht den Fußballstar in mir, sondern ihren vierzehnjährigen Sohn Nino, der eine gute Ausbildung bekommen soll.

Voller Vorfreude zähle ich die letzten Ferientage. Ich kann es nicht erwarten, meinem Ziel die nächsten Schritte entgegenzugehen und bereite mich auf den Eintritt in die neue Schule vor. Jeden Tag laufe ich zwei Stunden, mache fünfzig Liegestütz und Sit-ups. Das Freibad, in dem ich im Vorjahr Stammgast gewesen bin, besuche ich kaum noch, weil ich lieber trainiere. Ich verzichte auf das Eis, das sich meine Freunde nach der Schule gönnen, weil ich gelesen habe, dass Zucker schlecht für die Gesundheit ist. Fette und vitaminarme Lebensmittel versuche ich ebenfalls zu meiden, ich esse keine Pommes frites mehr und nur noch selten einen Hamburger.

Ich freue mich darauf, von zu Hause wegzugehen, selbstständiger zu werden, neue Menschen kennenzulernen und bin nicht traurig, meine alte Schulklasse zu verlassen, weil dort der Zusammenhalt unter den Schülern nicht besonders stark war.

Ich träume von meiner Karriere, halte dabei glänzende Pokale in Händen und trage Medaillen um meinen Hals. Mit an die Brust gedrückter Hand singe ich die Nationalhymne. Ich sehe mich mein verschwitztes Trikot mit Spielerlegenden tauschen. Nicht nur die Bewohner eines kleinen niederösterreichischen Ortes jubeln mir zu, wenn ich ein Tor erziele. Es sind begeisterte Fans aus dem ganzen Land, vielleicht sogar aus ganz Europa, der Welt, die sich von ihren Stühlen erheben und die Arme der Reihe nach in die Höhe reißen, um gemeinsam die Welle für mich zu formen.

Endlich ist der Sommer zu Ende, und ich darf mein neues Leben beginnen. Als ich an einem Wochenende zwei Monate nach Schulbeginn nach Stockerau heimkomme, mustert mich meine Mutter besorgt. Sie hat mich in den vergangenen Wochen selten gesehen, da an Samstagen und Sonntagen die österreichweiten Meisterschaftsspiele ausgetragen werden und ich kaum noch zu Hause bin. Sie betrachtet mich mit gerunzelter Stirn und will wissen, ob alles in Ordnung ist. Ich wehre mich gegen ihre mütterliche Fürsorge, indem ich erkläre, kein Kind mehr zu sein.

Aber meine Mutter, von der ich immer mit Strenge erzogen worden bin, duldet meine Widerrede nicht. Sie tritt näher an mich heran, legt ihre Hand an meinen Hals und möchte wissen, warum meine Stimme so nasal klingt. Erst jetzt begreife ich, worauf sie hinaus will. Ich löse mich aus ihrer Berührung, habe das Gefühl, dass sie mich noch immer unter Kontrolle halten will, möchte selbstständig sein wie im Internat. Nur zögernd erzähle ich ihr von dem nun schon länger anhaltenden Schnupfen und dem belegten Ohr, spiele die Beschwerden herunter, weil ich weder vor ihr noch vor mir selbst verweichlicht erscheinen will.

Aufmerksam lauscht meine Mutter meinen Beschreibungen der Symptome, verschränkt die Arme vor ihrer Brust, wiegt ihren Kopf. Als ich fertig bin, entscheidet sie, dass ich am Montag zu Hause bleiben werde und wir einen Hals-Nasen-Ohrenarzt im Ort aufsuchen werden. Sie besteht darauf, obwohl ich beharrlich versuche, ihr diesen Plan auszureden.

Am darauffolgenden Tag fahren wir gemeinsam zum Arzt. Drei ältere Frauen sitzen im Wartezimmer, als wir es betreten. Nur eine von ihnen grüßt uns, die anderen scheinen mit ihren Leiden beschäftigt. Sie stöhnen, jede Bewegung scheint sie zu schmerzen. Ich habe das Gefühl, nicht hierherzugehören. Ich kenne keine Orte, an denen es nach Krankheit riecht. Ich bin immer gesund und fit gewesen.

Nach einer halben Stunde bittet uns die Ordinationsassistentin in den Behandlungsraum. Als wir ihn betreten, wächst das ungute Gefühl in meinem Magen. Der Arzt untersucht mich. Er fragt nach dem Beginn meiner Beschwerden, will wissen, ob ich auch Fieber gemessen habe. Ich verneine. Er fordert mich auf, meinen Oberkörper frei zu machen und greift nach dem Stethoskop. Als die runde, kalte Metallscheibe meine Haut berührt, richten sich die Härchen in meinem Nacken auf.

Ich atme kräftig, schlinge die Luft tief in meine Lunge. Auf keinen Fall soll der Doktor an ihrer Kapazität zweifeln. Er leuchtet in meine Ohren, drückt meine Zunge mit einem flachen Holzstäbchen hinunter, um meinen Rachen zu begutachten. Schließlich nickt er, bewegt seinen Drehstuhl in Richtung meiner Mutter und erklärt ihr, dass es sich bei meiner Erkrankung um eine gewöhnliche Verkühlung handle und man einfach abwarten müsse.

Das Gesicht meiner Mutter hat einen skeptischen Ausdruck und ich fürchte, dass sie ihm gleich widersprechen wird. Sie schweigt. Als ich mich schon erleichtert zum Gehen wende, fragt sie doch noch nach, ob ich nicht wenigstens Antibiotika einnehmen sollte. Aber der Arzt winkt ab und erklärt, dass Antibiotika bei einer Viruserkrankung nichts ausrichten können. Ich bin froh darüber. Ohne verordnetes Medikament habe ich die offizielle Erlaubnis, weiterhin am Fußballtraining teilzunehmen.

Die Ordinationsassistentin reicht uns eine Untersuchungsbestätigung und fragt, ob wir einen Kontrolltermin vereinbaren wollen. Meine Mutter zögert. Schließlich nickt sie, und die Assistentin notiert das Datum in ihrem Kalender, sowie auf einem Erinnerungskärtchen, das sie meiner Mutter reicht. Sie lächelt uns zu, als wir die Ordination verlassen. An der Art, wie meine Mutter ihre Lippen aufeinanderpresst, erkenne ich, dass sie nicht zufrieden ist und der Diagnose des Arztes nicht traut. Ich vermute, dass sie nicht wirklich vorhat, wiederzukommen.

Zurück im Internat versuche ich, mich wieder voll auf mein Ziel zu konzentrieren. Aber nach einer weiteren Woche haben sich meine Symptome immer noch nicht verbessert. Meine Stimme klingt nasaler denn je, der Druck in meinem Ohr scheint dauernd zu wachsen, und das Atmen fällt mir schwer. Ich kämpfe mit Sport dagegen an, versuche, beim Laufen und Krafttraining die ungewohnte Beeinträchtigung zu vergessen. Es gelingt mir ganz gut, nicht aber meiner Mutter.

Wieder nimmt sie mich nach dem Wochenende aus der Schule und fährt mit mir zum praktischen Arzt, der uns nach einer kurzen Untersuchung eine Überweisung für ein Stirnhöhlenröntgen schreibt. Ich habe Angst vor dem Termin. Ich habe gehört, dass man bei einer Stirnhöhlenentzündung drei Tage lang nicht trainieren darf, aber meine Mutter beruhigt mich und rät, zuerst die Ergebnisse abzuwarten, bevor ich mir solche Gedanken mache.

Das Röntgeninstitut liegt in Stockerau. Seine Einrichtung sieht unmodern und schon mindestens fünfzig Jahre alt aus. Wieder sitzen im Wartebereich nur alte Menschen. Ich habe keine Lust, mich hier untersuchen zu lassen, verliere langsam die Geduld. Ich will wieder ungestört trainieren können, statt von einem Arzttermin zum nächsten gefahren zu werden. Ich muss doch regelmäßig laufen, meine Gewichte stemmen, den Ball spielen und kämpfen, um in Form zu bleiben. Wie soll ich mit meinen Konkurrenten mithalten können, meine Gegner besiegen, meinem Ziel entgegenarbeiten, wenn ich hier zwischen kranken Omis und Opis herumsitze? Meine Mutter bittet mich, noch ein bisschen durchzuhalten. Es klingt, als ginge es um ihre eigene Gesundheit und obwohl ich weiß, dass sie mein Bestes will, fühle ich mich von ihrer Fürsorge genervt.

Während der Untersuchung spreche ich so wenig wie möglich, antworte den Fragen der Assistentinnen und des Arztes knapp und lasse meine vor der Brust verschränkten Arme nur sinken, wenn es unbedingt nötig ist. Gott sei Dank geht der Termin schnell vorüber. Mit dem Röntgenbefund fahren wir zum praktischen Arzt. Der betrachtet das Bild, schüttelt den Kopf und sagt, dass die Stirnhöhlen frei seien. Er verschreibt mir Nasentropfen und rät uns, wie schon zuvor sein Kollege, abzuwarten. Wieder bin ich erleichtert, meine Mutter hingegen wirkt nach wie vor angespannt. Ich kehre zurück ins Internat und bin ein weiteres Mal überzeugt, meine Beschwerden bald der Vergangenheit zuordnen zu können.

Erst als ich am nächsten Wochenende daheim in einer Blutlache erwache und meinen roten Urin in der Kloschüssel sehe, weiß auch ich, dass mit meinem Körper etwas ernsthaft nicht stimmt.

Leben ohne Ende

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