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Grundrisse der Individualisierungsdebatte
ОглавлениеIndividualisierung – das ist nach Beck ein Prozeß der Herauslösung und der Freisetzung der Menschen aus historisch vorgegebenen Sozialbindungen und Kontrollzusammenhängen, das ist ein Prozeß radikaler Enttraditionalisierung, der die Subjekte aus selbstverständlich gegebenen sozialen Lebenszusammenhängen und Sicherheiten »freisetzt«. Das Individuum der Gegenwart – befreit von den Kontroll- und Sicherheitskorsetts traditionaler Bindungen an Familie, Milieu, Glaubenssystemen und verpflichtender gemeinschaftlicher Moral – wird zunehmend und notwendigerweise zum aktiven Gestaltungs- und Organisationszentrum seiner sozialen Verkehrsformen und Lebenspläne. In der Literatur werden drei analytische Dimensionen von Individualisierung unterschieden:
1. die Auflösung tradierter Sozial- und Kontrollbindungen: die Herauslösung und Freisetzung des Individuums aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge von Familie, sozialem Milieu und Klassenkultur (»Freisetzungsdimension«);
2. die Erosion normativer Sinnhorizonte: der Verlust von traditionalen Sicherheiten und festen Wertbindungen im Hinblick auf Handlungswissen, Glaubenssysteme und verpflichtende Normen einer subjektiven Alltagsethik (»Entzauberungsdimension«);
3. die Entstrukturierung der subjektiven Lebensläufe: die Auflösung festgefügter und sozial normierter Lebensweg-Programme, die Vervielfältigung der prinzipiell wahloffenen biographischen Optionen und die Suche nach neuen, sicherheitsspendenden Formen sozialer Einbindung (»Reintegrationsdimension«; vgl. Beck 1986, S. 206; zusammenfassend Junge 2002).
Individualisierung wird von Beck (1986) gedeutet als ein Prozeß der Herauslösung der Menschen sowohl aus traditionalen Mustern der Abhängigkeit und der Hörigkeit wie auch aus den Sicherheiten verläßlicher Sinnprovinzen von Glauben, Werten, gemeinschaftlichen Lebensorientierungen. In immer schnellerem Tempo – so die Gegenwartsdiagnose von Beck – vollzieht sich eine Freisetzung der Menschen aus traditionsbestimmten Lebensformen und Milieubindungen. Die Webmuster sozialer Verkehrsformen verändern sich. Vor dem Hintergrund einer durchgreifenden Modernisierung aller Lebensbereiche (Dynamisierung der Arbeitsmarktbewegung; Umgestaltung der Machtkonstellationen in den Geschlechterbeziehungen; Vervielfältigung der Formen des Zusammenlebens wie auch der Konstruktionen eigenwilliger Lebensstile) zerfällt die Bindungskraft sozialkulturell überlieferter Modelle »normaler« Lebensführung. Die Lebensgestaltung wird offen, die Subjekte werden zu Regisseuren der eigenen biographischen Geschichte.
»Individualisierung bedeutet in diesem Sinne, daß die Biographie der Menschen aus vorgegebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt wird. Die Anteile der prinzipiellen entscheidungsverschlossenen Lebensmöglichkeiten nehmen ab, und die Anteile der entscheidungsoffenen, selbst herzustellenden Biographie nehmen zu. Individualisierung von Lebenslagen und -verläufen heißt also: Biographien werden ›selbstreflexiv‹; sozial vorgegebene wird in selbst hergestellte und herzustellende Biographie transformiert« (Beck 1986, S. 216).
Und Keupp (1987) formuliert dazu in gleicher Weise:
»Die Folgen dieses Freisetzungsprozesses gehen für die Subjekte weit über die Veränderung äußerer Lebenskonturen hinaus. Sie fordern eine veränderte innere Ausstattung, um durch eine sich partikularisierende Welt und die ständig geforderten situativen Umstellungen ohne Zerfall der Person durchzukommen. Stabile Handlungsorientierungen, Koordinaten, die für ein Leben lang sichere Bezugspunkte liefern könnten oder das Anknüpfen an Modellen aus der eigenen Elterngeneration sind kaum mehr möglich. Die Subjekte werden zum ›Dreh- und Angelpunkt der eigenen Lebensführung‹, der Einzelne muß lernen, ›sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen‹ (Beck 1983). Die Biographien lösen sich immer stärker aus vorgegebenen Rollenmustern und Schablonen… Der Individualisierungsprozeß, der im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft von Anbeginn angelegt war, hat in seiner Dynamik mittlerweile unsere Gesellschaft ganz durchdrungen und alle gesellschaftlichen Schichten erfaßt« (Keupp 1987, S. 37).
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer beschleunigten Individualisierung: Individualisierung ist keine Erfindung der Gegenwart. Die Spuren reichen zurück in die ersten Aufbrüche der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Keupp (1994) faßt diese ersten Erschütterungen der Individualisierung wie folgt zusammen:
»Vormoderne Gesellschaften mit ihren statisch-hierarchisch geordneten Sozialstrukturen, die zugleich die religiöse ›Weihe‹ von Gott gewollter und gestifteter Ordnungen für sich in Anspruch nehmen konnten, hatten keinen Spielraum für selbstbestimmte Lebensentscheidungen der Subjekte. Die Ordnung der Dinge bestand in einem Korsett von feststehenden Rollen, Normen und Lebenswegen. Der Prozeß der Modernisierung, der im Zuge der Durchsetzung der kapitalistisch verfaßten industriellen Gesellschaften in Gang kam, führte zu einer dramatischen ›Freisetzung‹ aus orts- und sozialstabilen Bindungen und schuf damit letztlich auch die moderne ›soziale Frage‹. Diese Freisetzung erzwang den im doppelten Sinn ›freien‹ Lohnarbeiter: Er besaß nichts mehr außer seiner Arbeitskraft (er war also ›frei‹ von Produktionsmitteln), und er war gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen (die ›Freiheit‹, sie an den Kapitalisten zu verkaufen, der dafür am meisten bot). Die aus dieser ›Freiheit‹ entstandenen individuellen Entscheidungen waren immer von der Not des Überlebens geprägt. Die im entstehenden Proletariat gemeinsame Erfahrung, daß die eigene Lebensexistenz in elementarster Weise bedroht ist, führte zu ›Notgemeinschaften‹ und schließlich auch zu kollektiven Kampforganisationen, die für eine Minderung der Lebensnot zu streiten hatten. In diesem Kampf ist unter anderem auch der moderne Sozialstaat entstanden, als kompromißhafter Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital. In diesem Prozeß der kollektiven Interessenorganisation haben sich neuartige Strukturen engmaschiger solidarischer Netzwerke, Formen der Absicherung von Lebensrisiken, herausgebildet« (Keupp 1994, S. 337f.).
In dieser Traditionslinie stehen auch die aktuellen Freisetzungs- und Individualisierungsprozesse. Allerdings kommen neue Elemente hinzu, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, von einer »zweiten Phase der Individualisierung« zu sprechen. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften des Westens haben die durchschnittlich erreichbaren Standards von Existenzsicherung und Lebensqualität (Sicherung der materiellen Existenz; Partizipation an kulturellen und sozialen Gütern; Level der Teilhabe an Konsum) ein relativ hohes Niveau erreicht, so daß der alltägliche Kampf gegen eine existentielle Lebensnot nicht mehr die erste Priorität besitzt. Beck (1986, S. 124) spricht hier von einem »Fahrstuhleffekt«: Zwar bestehen alte Relationen sozialer Ungleichheit fort (im Zeichen einer ›Politik der sozialen Kälte‹ und angesichts der aktuellen Rotstift-Politik der Leistungsreduktion sogar in verschärfter Form), allerdings auf der Basis einer für alle erhöhten Basissicherung. Zu diesen, in die Gegenwart hinein beschleunigten Prozessen der Individualisierung beigetragen haben u. a.:
• Die wohlfahrtsstaatliche Entwertung privater Solidargemeinschaften: Die Absicherung der Lebensexistenz durch Erwerbseinkommen bzw. durch sicheren Anspruch auf Lohnersatzleistungen sowie der Ausbau der Systeme sozialer Sicherung haben zu einer radikalen Entwertung der »privaten Sozialversicherung« geführt, die vormals noch durch die Solidarbindungen von Sozialmilieu und Klassenkultur gegeben war. Diese kollektiven Formen der solidarischen Unterstützung scheinen mehr und mehr entbehrlich, sie zerfallen. Zugleich entsteht aber eine neue Unmittelbarkeit zwischen Individuum und Gesellschaft, die überall dort sichtbar wird, wo Einschnitte in das Niveau sozialstaatlicher Absicherung nicht mehr durch Rückgriff auf privat erstellte, milieukulturelle Solidarleistungen abgefedert werden können.
• Der Ausbau der formalen Bildung: Die Demokratisierung der Bildung und die immer weitergreifende Teilhabe der jungen Generation (und hier insbesondere der Mädchen und der jungen Frauen: »Feminisierung der Bildung«) am kulturellen Kapital Bildung führt zu einer Demokratisierung und Verallgemeinerung der Fähigkeit zu selbstreferentieller Reflexivität. Dies aber ist Sprungbrett für eine Herauslösung aus traditionellen Denkmustern, Wertorientierungen und Lebensstilen und für die Buchstabierung von Lebensformen, die das Versprechen auf ein Mehr an Selbstbestimmung und Eigenverfügung in sich tragen.
• Die dynamischen Veränderungen von Anforderungen und Strukturen des Arbeitsmarktes: Die normativen Muster der »Normalarbeitsbiographie«, die noch für ältere Generationen Geltungskraft besaß (der berufslebenslange gesicherte Verbleib in einem gelernten Beruf, in der Regel bei einem Arbeitgeber), erodieren. Die beschleunigten und in ihren Richtungswechseln kaum kalkulierbaren Umbrüche der Arbeitsmarktstrukturen (technologische Veränderungsschübe; Rationalisierung und das Sterben ganzer Arbeitsmarktbranchen; die radikale Entwertung von (Aus-)Bildungsqualifikationen und der darin begründete Zwang zu lebenslangem Weiter-Lernen) produzieren eine strukturelle Offenheit subjektiver Berufsbiographien. Die Berufserfahrungen und berufsbezogenen Wertorientierungen der älteren Generation verlieren an Wert, ihnen eignet kaum noch eine orientierende Kraft. An deren Stelle tritt die Grundqualifikation permanenter Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit als das subjektive Korrelat einer noch weiter zunehmenden Unsicherheit des Arbeitsmarktes.
• Die Erosion traditionaler Geschlechtsrollenmuster: Die Machttexturen zwischen den Geschlechtern verändern sich. Mit dem Beharren (insbesondere) der Frauen auf »ein Stück eigenes Leben« zerbricht die Normalität althergebrachter Paßformen von Biographieverläufen, Partnerschaft, Elternschaft, Familienalltag. Die Schnittmuster der bürgerlichen Normalfamilie lösen sich auf. An ihre Stelle tritt eine Vervielfältigung der Lebensweg- und Lebensstil-Optionen wie auch eine Pluralisierung wählbarer Formen des Zusammenlebens.
• Der Zwang zu geographischer Mobilität und Raumsouveränität: Die Mobilitätszwänge, die mit der Veränderung des Arbeitsmarktes verbunden sind, machen vielfältige Arbeitsplatz-, Orts- und Beziehungswechsel notwendig. Sie produzieren damit durchaus ambivalente Effekte: auf der einen Seite die Chance einer (allerdings von Arbeitsmarktdiktaten regierten) durchgreifenden Verselbständigung der Lebenswege, auf der anderen Seite das Risiko einer fundamentalen Vereinzelung und Vereinsamung. Die beschleunigte Segregation der alltäglichen Lebensräume (Räume der Arbeit, der Privatheit, der Freizeit, der öffentlichen Partizipation), die alle und jeder für sich nach eigenen Regeln, Routinen und Reglements funktionieren, stellt das Individuum zudem vor die Notwendigkeit permanenter und souveräner Raumwechsel und Regelanpassungen.
• Die Modernisierung der Wohnformen und der territorialen Identität: Prozesse der horizontalen Mobilität, die durch die Modernisierung städtischer (Teil-)Räume ausgelöst werden (die »Vertreibung« von Wohnfunktionen durch Dienstleistungsfunktionen; Mobilitätswellen, die durch eine »vertreibende Sanierung« und durch Mietpreissprünge ausgelöst werden usw.), führen zu einer Lockerung der territorial gebundenen Sozialbeziehungen und zur Auflösung traditioneller Nachbarschaftsmilieus. Die Anonymisierung des Zusammenwohnens und die Aufkündigung von Nachbarschaftshilfen sind sichtbarste Ausdrucksformen dieses Verlustes von räumlich gebundener Identität und Zusammengehörigkeitserfahrungen.
Riskante Chancen – die Ambivalenz der Freisetzung: Ein individualisiertes Leben trägt stets ein Doppelgesicht – es ist ein Jonglieren zwischen neuen Freiheitschancen und radikaler Verunsicherung, zwischen gelingender Lebenssouveränität und biographischem Schiffbruch. In der Literatur finden sich zwei kontroverse Meinungslager, in denen je optimistische Zukunftsoffenheit bzw. düstere Weltuntergangsstimmung überwiegen: Von den einen wird Individualisierung so als Überwindung vorgefertigter normativer Entwicklungsschablonen interpretiert und als neue Ressource von Emanzipation gefeiert; von den anderen hingegen wird Individualisierung als ein schmerzlicher Verlust von Basissicherheiten der individuellen Lebensführung beklagt und bedrohlich erfahren. Auch Hitzler und Honer verweisen auf dieses Janusgesicht der Individualisierung:
»Ein individualisiertes Leben zu leben bedeutet, existentiell verunsichert zu sein. Existentiell verunsichert zu sein, bedeutet nicht notwendigerweise, unter dieser Existenzweise zu leiden. Es bedeutet ebensowenig, dieses Leben zwangsläufig zu genießen. Ein individualisiertes Leben ist ein ›zur Freiheit verurteiltes‹ Leben… Der individualisierte Mensch ist nicht nur selber ständig in Wahl- und Entscheidungssituationen gestellt, sondern auch mit immer neuen Plänen, Entwürfen und Entscheidungen anderer Menschen konfrontiert, welche seine Biographie mehr oder weniger nachhaltig tangieren. Diese biographischen Freisetzungen zeigen sowohl einen Gewinn an – den Gewinn an Entscheidungschancen, an individuell wählbaren (Stilisierungs-)Optionen – als auch einen Verlust – den Verlust eines schützenden, das Dasein überwölbenden, kollektiv und individuell verbindlichen Sinn-Daches« (Hitzler/Honer 1994, S. 307).
Blättern wir zunächst einmal in den Gewinn-Seiten dieser Gegenwartsbilanz: Individualisierung kann – in optimistischer Sichtweise – begriffen werden als Befreiung von traditionellen Kontrollbindungen, Erweiterung von Möglichkeitsräumen, Stärkung der individuellen Entscheidungsmöglichkeiten – Individualisierung also als Chance einer von traditionalen sozialen Reglementierungen befreiten Lebensgestaltung. Diese Freiheitsgewinne werden in folgenden Facetten sichtbar:
Die Abkehr von der Schwerkraft traditionaler sozialer Verpflichtungen: Die Lebensmodelle, die durch die Vorbilder der Eltern, durch generationenübergreifende Familientraditionen und durch milieuspezifische Wertbindungen vorgegeben waren, erodieren. An die Stelle der ehemals fest vorgegebenen und durch sozialen Zwang bewachten Entwicklungsschablonen, die der Einzelne sich fraglos aneignete und innerhalb deren Grenzen er seine Biographie einrichtete, tritt heute ein buntes Kaleidoskop von Möglichkeiten der Selbstgestaltung, die Lebens-Neuland betreten und die Schwerkraft traditionaler sozialer Verpflichtungen hinter sich lassen (die Chancen des »Es-anders-machen-Könnens«). Deutlich wird dies mit Blick auf die Relation zwischen den Generationen. Hier vollziehen sich signifikante intergenerative Desintegrationsprozesse. Die Erfahrungsgeschichten und Lebensentwürfe der Eltern eignen sich für junge Menschen heute immer weniger als Interpretationsfolie für die Gestaltung des eigenen Lebensweges. Dies gilt zunächst einmal für die Zukunftsprogramme des Zusammenlebens, die junge Menschen für sich selbst entwerfen. Im Unterschied zur »Normalbiographie« der Eltern werden in der jungen Generation die Bezugsgrößen des eigenen Familienprojektes wie z. B. die Bedeutung der Ehe, die Buchstabierung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilungen, die Realisierung des Kindeswunsches, die Synchronisierung von Berufsambitionen und Familienarbeit fließend. Aber auch die Bildungs- und Berufsgeschichten der Eltern können den jungen Menschen heute kaum noch Vorbild sein. Die Vervielfältigung der Bildungswege und die damit verbundene größere Erreichbarkeit von höherwertigen Bildungszertifikaten, zugleich aber auch die unkalkulierbare Veränderungsdynamik des Arbeitsmarktes, das beschleunigte Veralten von Arbeitsqualifikationen und der Zwang zu lebenslangem Neulernen – alles dies läßt die bildungs- und berufsbezogene Biographie der Eltern als untaugliche Modelle erscheinen und öffnet die biographischen Entwürfe der jungen Generation für neue (immer auch unsichere) Projekte einer eigen-willigen Selbsterfindung, die die Schwerkraft von Familienbindung, Milieu und Stand hinter sich lassen.
Die Pluralisierung der normativen Koordinaten: Die normativen Horizonte, in denen Menschen ihr Leben einrichten, öffnen sich. Jenseits der (bis heute recht restriktiv abgesteckten) Grenzen des Strafrechtes pluralisieren sich die prinzipiell wahloffenen Wertehorizonte und die daran gebundenen Kulturen alltäglicher Lebensführung. Werte und Normen verlieren mehr und mehr ihre gesellschaftliche Integrationsfunktion und garantieren nicht mehr eine generalisierte und konsensfähige Wertordnung, sondern bündeln sich in personen-, situations- und kontextabhängigen Mikro-Kosmen normativer Verpflichtungen. Wir erfahren eine Wertedynamik, in der ein nomozentrisches Weltverständnis, das auf die ordnende Kraft universaler normativer Regelungen vertraut, von einem autozentrischen Weltverständnis abgelöst wird. Werte und Normen werden in diesem Prozeß zu gefügigen, dem variablen Alltag angepaßten, alltagstauglichen Werkzeugen. Ihre ehemals feststehende, universale Bedeutsamkeit zersplittert in unüberschaubar vervielfältigte, lebensweltlich-partikulare Norm-Provinzen mit eingeschränkter Geltungsreichweite. »Werte und Normen werden (auf diese Weise) zu pluralisierten subgesellschaftlichen Handlungsorientierungen, die nicht mehr die Spannkraft des einen großen, alles umfassenden Nomos stärken, sondern auf den Mikro- und Meso-Ebenen eigene, kleinere und ganz unterschiedlich geformte flüchtige Schatten werfen« (Lindenberg/Schmidt-Semisch 1995, S. 2).
Die Vervielfältigung der Sinn-Welten: Die Erosion der verpflichtenden sozialen Vorgaben und die Erweiterung der subjektiv nutzbaren Freiheitszonen erfaßt zunehmend weitere Kreise der Gesellschaft. In diesem Freisetzungsprozeß aber zerspringt die Sinn-Einheit der Welt. Die großen Sinn-Gebäude (religiöse Glaubensgehäuse; die großen säkularen Weltdeutungen; politische Ideologien jeglicher Couleur), die noch in den ersten Etappen der Moderne Sicherheit und Orientierung stifteten, werden eingerissen (Lyotard spricht hier vom »Ende der Meta-Erzählungen«). Es entsteht ein kaum zu überschauender Sinn-Markt, eine Art kultureller Supermarkt für Weltdeutungsangebote aller Art. In dieser zerspringenden symbolischen Einheit der Welt aber ist der moderne Mensch einer Vielzahl disparater und auseinanderdriftender Sinn-Versprechen, Überzeugungssysteme, Weltdeutungsschemata ausgesetzt, in denen er Ordnung und Struktur schaffen muß, um – zumindest für begrenzte Zeitphasen und Biographiepassagen – Lebenssinn buchstabieren zu können. Der modernisierte Mensch ist »nicht mehr ›zu Hause‹ in einem stimmigen Sinn-Kosmos, er ähnelt eher einem Vagabunden (oder allenfalls einem Nomaden) auf der Suche nach geistiger und gefühlsmäßiger Heimat. Sein Tages- und Lebenslauf ist gleichsam eine unstete und manchmal auch unsichere Wanderung, die er durch die Vielzahl von Sinnprovinzen unternimmt. Er ist darauf angewiesen, die Drehbücher seines individuellen Lebens selber zu schreiben, die Landkarten für seine Orientierung in der Gesellschaft selber zu zeichnen, über seine Biographie, seine Persönlichkeit, sein Selbstverständnis selber Regie zu führen« (Hitzler/Honer 1994, S. 311f.). Diese biographische Reise durch die Vielfalt der Sinn-Provinzen ist wohl eine unsichere Reise. Und dennoch: Sie befreit die subjektive Lebensgestaltung von den Fesseln sozial vorgegebener, verpflichtender Sinnbindungen (Familientradition; Milieu; Religion usw.). Schließen wir hier die Seiten, in denen die Gewinne der Individualisierung eingetragen sind: Die Erosion vorgegebener Biographieschablonen, die Flexibilisierung normativer Bindungen und die Pluralisierung von Sinn-Welten tragen in sich ein befreiendes Moment: Sie sind Bausteine einer reflexiven Lebensführung, in der der Einzelne aus dem Gehäuse normativer Vorgaben austritt und neue Freiheitsgrade in der Gestaltung seiner unveräußerlich eigenen Existenz gewinnt.
Individualisierung transportiert auf der anderen Seite aber auch vielfältige neue Risiken und Gefährdungen. In der aktuellen Debatte finden vor allem diese Schattenseiten der Individualisierung besondere Beachtung. Auf den Verlust-Seiten dieses Bilanzbuches werden u. a. folgende Aspekte eingetragen:
Die neue Rollenvielfalt und Rollenkomplexität: Die Vielzahl und die Heterogenität der Teil-Orientierungen, Teil-Räume, Teil-Zugehörigkeiten, die eine modernisierte Lebensführung kennzeichnen, führen zu einer signifikanten Zunahme von Rollenkomplexität. Das Rollenrepertoire des modernisierten Menschen ist bunter geworden; er muß komplexere und vielfältigere Rollen spielen, welche sich immer deutlicher voneinander unterscheiden, immer geringere Interdependenzen untereinander aufweisen und sich immer rascher ändern. Aber nicht nur die Rollenkomplexität nimmt zu. Mit dem Grad der sozialen Differenzierung vermehren und beschleunigen sich auch die Übergänge von einem Rollensystem zum anderen, von einer Zugehörigkeit zur anderen, von einem sozialen Raum zum anderen – Übergänge, die das Subjekt souverän handhaben muß, will es nicht aus sozialer Teilhabe herausfallen. Nach Lindenberg/Schmidt-Semisch (1995) ist die Welt der Moderne vor allem eine Welt der Übergänge – »eine funktional differenzierte und spezialisierte Gesellschaft, in der jedes der funktional spezialisierten Subsysteme die sozialen, psychischen und physischen Vorgänge in der Welt umfassend, aber hochselektiv mit Blick auf seine spezifische Funktion rekonstruiert… Das Individuum wird dabei in seinen verschiedenen Rollen in den verschiedenen Lebensbereichen mit äußerst verschiedenen Anforderungen, Erwartungen und Normen konfrontiert, denen es gerecht werden muß. Da wir also stets nicht nur einem der gesellschaftlichen Teilsysteme angehören, sondern vielmehr gleichzeitig vielen von ihnen, leben wir in einer permanenten Modulation der Perspektiven, die alle mit ihren jeweiligen Verhaltens- und Sichtweisen, Anforderungen und Präferenzen assoziiert sind. Wir sind gefordert, ständig die Übergänge von der einen in die andere Kontrollperspektive zu bewerkstelligen. Wir leben immer weniger in einer Gesellschaft des Übergangs, als vielmehr in einer Gesellschaft der Übergänge« (Lindenberg/Schmidt-Semisch 1995, S. 8). Mit der Vervielfältigung von Rollenkomplexität und der Beschleunigung von Rollenwechseln aber wächst das Risiko des Scheiterns – Menschen verirren sich im Dickicht unübersichtlich-divergenter Anforderungen, sie fallen aus ihren Rollen.
Orientierungsverlust in einer zerspringenden Einheit der Sinn-Welt: Wir haben es schon angesprochen: Die hochgradige soziale Differenzierung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft führt zu einem collageartigen Nebeneinander einer Vielzahl von Sinn-Provinzen mit je unterschiedlichen, voneinander abweichenden Präferenzen, normativen Verbindlichkeiten, Welt-Sichten.
»Die ›zersprungene Einheit der Welt‹ bewirkt…, daß der moderne Mensch in eine Vielzahl von disparaten Beziehungen, Orientierungen und Einstellungen verstrickt, daß er mit ungemein heterogenen Situationen, Begegnungen, Gruppierungen, Milieus und Teilkulturen konfrontiert ist und daß er folglich mit mannigfaltigen, nicht aufeinander abgestimmten Deutungsmustern und Handlungsschemata umgehen muß. Anders ausgedrückt: Die alltägliche Lebenswelt des Menschen ist zersplittert in eine Vielzahl von Entscheidungssituationen, für die es (nicht trotz, sondern wegen der breiten Angebots-Palette) keine verläßlichen ›Rezepte‹ mehr gibt« (Hitzler/Honer 1994, S. 308).
Der Chance einer selbstreflexiven, den Bedürfnissen und Fähigkeiten der eigenen Person angepaßten Buchstabierung von Lebenssinn steht hier die Gefahr neuer Rigorismen und totalitärer Weltsichten gegenüber. In einer Welt zerrissener Sinnzusammenhänge gewinnen geschlossene Weltmodelle (Ökologischer Rigorismus; Psychomarkt; New Age; alternative Spiritualität; geschlossene politische Ideologiegebäude u. a. m.) und die ihnen zugeordneten Zugehörigkeitskulturen ihre eigene Attraktivität. Sie bündeln die Bedürfnisse, die aus der Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit des Alltags entstehen, sie bieten »klare Lösungen«, verläßliche Sicherheiten und neue Sinnhorizonte. Körber (1989) formuliert aus kritisch-distanzierter Sicht den kleinsten gemeinsamen Nenner dieser geschlossenen Sinn-Welten:
»Alle Formen des regressiven Rückzugs aus einer als unerträglich widersprüchlich empfundenen Gesellschaft in vermeintlich widerspruchsfreie, begrenzte ›Gemeinschaften‹ (partikularistische Kollektivzusammenhänge) haben trotz aller inhaltlichen Unterschiede etwas gemeinsam: Sie entlasten von individuell-subjektiven Autonomieansprüchen und den widersprüchlichen Alltagserfahrungen damit; sie dienen dazu, täuschungs- und enttäuschungsfest zu machen; sie sollen ein für allemal vor dem Risiko selbstzerstörerischer Orientierungs-, Identitäts- und Sinnkrisen schützen« (Körber 1989 zit. n. Keupp 1994, S. 342).
Entscheidungszwang und Eigenverantwortung: Die kaum noch zu überschauende Vielfalt von Lebensoptionen, die auf den Sinn-Märkten angeboten wird, bürdet dem Einzelnen schon frühzeitig ein hohes Maß an Entscheidungszwang auf – Entscheidungen, für die er »geradestehen« und für die er Verantwortung übernehmen muß. Lebensform- und Lebensweg-Entscheidungen (Wahl von Ausbildungs- und Berufswegen; Beziehungsbindungen; Gestaltung sozialer Netzwerke; Formen der subjektiven Teilhabe an Konsum, Lebensstilen usw.) werden in die Hand des Individuums gelegt; der Einzelne ist gezwungen, die eigene Biographie durch aufbrechende Entscheidungsrisiken hindurch selbst zu planen, zu entwerfen, zusammenzuhalten. Individualisierung kann folglich beschrieben werden als ein Zwang, sich in immer wieder neuen biographischen Situationen – im Wechsel der Präferenzen und Sinnmuster und unter dauernder Abstimmung mit vertrauten Menschen, Bildungssystem, Arbeitsmarkt usw. – für bestimmte Lebensoptionen und damit gegen andere (ebenso wählbare und scheinbar beliebig-gleichwertige) zu entscheiden. Diese personalen Auswahlen und Entscheidungen aber müssen in Situationen biographischer Unsicherheit getroffen werden, in denen gültige Kosten-Nutzen-Bilanzen und Zukunftskalkulationen nur schwer möglich sind. Der Einzelne sieht sich in Situationen gestellt, in denen er auch in Zeiten der Unsicherheit selbstverantwortliche Entscheidungen über die eigenen Lebenskurse treffen muß.
Individualisierung – so können wir zusammenfassen – trägt ein Gesicht von Chance und Risiko zugleich. Sie kann Auszug aus Fremdbestimmung und gelingendes Projekt der Selbstbemächtigung sein, sie kann aber auch in biographische Sackgassen münden. Der Zugewinn von Freiheit und das Scheitern wohnen nahe beieinander. In diesem Sinne auch die Lagebeschreibung von Keupp:
»Wer die Gegenwart einzuschätzen versucht, kann zu zwei entgegengesetzten Lesarten kommen. Die radikale Enttraditionalisierung der Lebensformen eröffnet einerseits historisch beispiellose Möglichkeiten der Selbst-Organisation; andererseits verstärkt und verschärft sich der Wunsch nach Klarheit, Überschaubarkeit, Einfachheit, und entsprechende gesellschaftliche Angebote stehen hoch im Kurs. Mit der Erosion rigider Identitätsformen eröffnen sich Entfaltungsmöglichkeiten für Lebenssouveränität (ein Stück ›eigenes Leben‹ läßt sich das auch nennen). Aber gleichzeitig etablieren sich neue Rigiditäten und Identitätszwänge, oft gerade unter der Flagge der großen Freiheiten, Wahrheiten und Authentizitäten. Die Rede vom ›Freisetzungsprozeß‹ ist (wie bei Marx) ironisch zu verstehen: Die Befreiung von Zwängen und die Einrichtung neuer Abhängigkeiten greifen ineinander, vermischen sich in einem ›Selbstzwang zur Standardisierung der eigenen Existenz‹« (Keupp 1994, S. 336; zur Weiterentwicklung des Individualisierungsdiskurses zu einer »Theorie der reflexiven Modernisierung« vgl. Schneider/Kraus 2013).