Читать книгу Empowerment in der Sozialen Arbeit - Norbert Herriger - Страница 24
Requisiten einer gelingenden Individualisierung
ОглавлениеAus der beschleunigten Dynamik der Individualisierungsprozesse ergibt sich ein neues Profil von Anforderungen an das modernisierte Subjekt: Soziales Handeln im Zeichen der Individualisierung ist stets Handeln in Situationen der Unsicherheit. Alte orts- und sozialstabile Bindungen, Selbstverständlichkeiten und Verläßlichkeiten stehen als Sicherheitsleitplanken und Legitimation für einen individualisierten Lebensentwurf nicht mehr zur Verfügung. In dem Maße aber, in dem ehemals verläßliche Sicherheiten unsicher werden, wird der Einzelne selbst zum Planungs-, Entscheidungs- und Aktionszentrum seiner Lebensführung. Soll diese selbstbestimmte Lebensführung aber gelingen und nicht an Divergenz und Widersprüchen scheitern, so setzt dies eine veränderte psychosoziale Ausstattung des Subjektes voraus – eine Lebenssouveränität, die es dem Subjekt möglich macht, den Anspruch der Moderne auf Selbstbemächtigung lebensalltäglich einzulösen. Hier nun ist das Verbindungsstück, das Individualisierung und Empowerment zusammenschließt: Individualisierung – konsequent zu Ende gedacht – bedarf eines Subjektes, das auf Vorräte von (selbstreflexiven, psychischen, sozialen) Kompetenzen zurückgreifen kann, die für eine produktive Nutzung der riskanten Chancen einer individualisierten Lebensführung unentbehrlich sind. Das Individualisierungskonzept liefert so auf der Ebene makrosoziologischer Analyse eine Deutungsfolie veränderter Subjektivität. Das Empowerment-Konzept benennt ergänzend hierzu auf der Ebene mikrosoziologischer Analyse die biographischen Prozesse und Kontexte, in denen die Entwicklung unentbehrlicher Vorräte von Kompetenzen für eine souveräne und eigenmächtige Lebensführung möglich wird. Die Selbstbemächtigung des Subjektes – sei sie nun autonome Selbst-Inszenierung, sei sie das Produkt einer helfenden Beziehung im Handlungszusammenhang institutionalisierter Fürsorglichkeit – ist die notwendige Requisite einer gelingenden Individualisierung. Wie nun diese »inneren Besitzstände« von Kompetenzen aussehen, auf deren Grundlage eine selbstbestimmte Lebensführung in einer unübersichtlichen Welt der Options- und Entscheidungsvielfalt möglich wird, dazu abschließend drei Hinweise:
Multiple Identität und Kohärenz: Individualisierung – dort, wo sie als gelingend und befreiend erfahren wird – erfordert ein in die Zukunft hinein offenes Identitätsprojekt, in dem neue Lebensformen erprobt und eigener Lebenssinn entwickelt werden. Die alltägliche Erfahrungswelt des modernisierten Menschen ist eine Welt multipler Realitäten. Die Lebenswelt zerfällt in ein Bündel von Sinn-Splittern, Rollenarrangements und widersprüchlichen Handlungsanforderungen, die nicht mehr durch einen umfassenden Weltentwurf zusammengehalten werden (es sei denn um den Preis totalitär-geschlossener Welt-Modelle). Eine solche segmentierte und widersprüchliche Alltagswelt erfordert vom Subjekt aber ein ständiges Umschalten auf immer neue Situationen, in denen ganz unterschiedliche, sich vielfach sogar ausschließende Personenanteile gefordert sein können. Diese alltäglichen Diskontinuitäten erfordern ein Subjekt, das Sinn-Brüche aushält, Widersprüchliches nebeneinander stehen lassen kann und in multiplen Rollenarrangements und den dazugehörigen Identitäten ohne permanente Verwirrung zu leben vermag (in sozialpsychologischer Sprache: ein Subjekt, das »Ambiguitätstoleranz« zu wahren vermag). In der Literatur hat sich für dieses zukunftsoffene Projekt von Subjektivität, das nicht mehr an ein zeit- und situationsübergreifend konstantes Koordinatensystem von Normen und Sinnorientierungen gebunden ist, der Begriff der »multiplen Identität« eingebürgert (Keupp (2003 b) spricht in diesem Zusammenhang auch vom »Multi-Options-Ich« bzw. von der »multiphrenen Identität«; und Rosa (2005, S. 352ff.) nutzt im gleichen Zusammenhang den Begriff der »situativen Identität«). Grundkapital für das Gelingen eines solchen Identitätsprojektes ist also die Fähigkeit, sich auf Menschen und Situationen offen einzulassen, sie neugierig zu erkunden, die Zugehörigkeit zu multiplen Sinn-Welten und Rollen-Settings als Kraftquelle zu nutzen, aus der Energien, Gratifikationen und Ich-Stärkung geschöpft werden können. Freilich: Befriedigend und befreiend erlebt wird diese »Puzzle-Identität« nur dort, wo die subjektive Welt der Widersprüche von einem »Gefühl der Kohärenz« (»sense of coherence«; Antonovsky 1987; 1997), einem Gefühl der Lebens-Stimmigkeit, durchzogen ist. Diese Kohärenz, in der die Sinn- und Orientierungssplitter einer individualisierten Welt (wie vorläufig und veränderbar auch immer) zu einem Lebens-Ganzen zusammengefaßt werden, ist also unverzichtbar. Kohärenz aber ist das Produkt einer beständigen Arbeit an der Identität, sie entsteht immer wieder neu aus einem kreativen Prozeß der Konstruktion und der Neu-Konstruktion von Sinn und Selbstverständnis (zu diesem reflexiven Identitätskonzept vgl. Keupp u. a. 2013).
Das Subjekt als Baumeister des Sozialen – die aktive Gestaltung von Netzwerken: Im Prozeß der Freiheitsentfaltung der Moderne hat sich die Typik sozialer Beziehungen entscheidend verändert. Die Verkehrsformen haben sich aus institutionellen und normativen Verhaltensreglements herausgelöst, die die denkbaren Handlungsmöglichkeiten für fast jede Situation bis ins Detail festgelegt haben. Das »Soziale« (Bindungen, Freundschaften, Vertrautheiten) ist nicht mehr das selbstverständlich Gegebene. Beziehungsarrangements werden offener, aufkündbarer, zerbrechlicher, mehr und mehr von Kriterien der Entscheidungsfreiheit, Freiwilligkeit und Interessenhomogenität bestimmt. An die Stelle von sozial vorgegebenen Zwangsgemeinschaften treten Beziehungsarrangements, die als offene Aushandlungsgemeinschaften in die Regie der Beteiligten gestellt sind. Das Subjekt wird so zum aktiven Initiator und Konstrukteur seiner eigenen Kontakt-, Bekanntschafts-, Freundschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen, kurz: es wird zum »Baumeister seiner sozialen Welt«. Freilich: Die Wahlfreiheit des Subjektes, seine Fähigkeit, soziale Mitgliedschaft und Inklusion in eigener Regie zu modellieren, sind nicht grenzenlos. Die Chancen, befriedigende Netzwerk-Arrangements zu inszenieren, sind nicht gleich verteilt. Soziale Kontexte und Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit setzen dieser Wahlfreiheit enge Grenzen. Die Befunde der neueren Netzwerk-Forschung belegen dies eindeutig: Größe, räumliche Reichweite, Vertrautheit und subjektiv befriedigend erlebte Unterstützungsqualität von Netzwerken sind entlang der »klassischen« Dimensionen sozialer Ungleichheit (Bildung, Einkommen, berufliches Prestige) verteilt – und dies zulasten der Angehörigen der unteren sozialen Milieus. Ein signifikantes Niveau materieller Ausstattung ist von daher eine erste Voraussetzung für das Gelingen einer produktiven Selbstorganisation in der sozialen Mikrowelt. Hinzukommen muß ein weiteres: Es bedarf zunehmend auch spezifischer psychosozialer Ressourcen von Beziehungsfähigkeit. Denn: Netzwerkbindungen müssen gepflegt, beständig erneuert, im aktiven Zugehen auf den anderen immer wieder aufs Neue beglaubigt werden. Netzwerkbindungen bedürfen einer beständigen Investition, sie bedürfen eines nicht versiegenden Stroms von wechselseitigen Austauschakten, durch die sich gegenseitige Anerkennung, Vertrautheit und Zusammengehörigkeit immer wieder neu bestätigen. Die Chancen, die in der Offenheit der Konstruktionspläne sozialer Netzwerke angelegt sind, wird nur der einlösen können, der über dieses Kapital psychosozialer Beziehungsfähigkeit verfügt. Hingegen wird der, der zu einem solchen produktiven Beziehungsmanagement nicht in der Lage ist, einen hohen Preis bezahlen müssen: den Preis der radikalen Vereinsamung. In einer Welt, in der Bindungen und soziale Nähe die Renditen des Investments von sozialem Kapital sind, bleibt jedem, dessen Kapital aufgebraucht ist, der tiefrote Beziehungszahlen schreibt, nur die Einsamkeit.
Kommunitarismus – die Wiederentdeckung der Ressource Solidarität: In der aktuellen Gedankenlandschaft werden vielfältige Heilrezepturen und Gegengifte angeboten, die gegen die negativen Nebenwirkungen einer beschleunigten Freisetzung – Vereinzelung, Ellenbogen-Mentalität und die Abnahme von sozialer Bedenklichkeit – immun machen sollen. Die Kommunitarismus-Bewegung, die in der Gegenwart auf beiden Seiten des Atlantiks eine Renaissance erlebt, verspricht vielen ein solches Gegengift (zur Einführung vgl. Bude 2019; Etzioni 2004; 2015; Reese-Schäfer 2001; 2019). Kommunitaristische Ansätze – so unterschiedlich sie in ihren ideologischen Besetzungen auch sein mögen – setzen in ihrem Kern auf Werte der Gemeinschaft und der sozialen Kohäsion. Alle diese Ansätze konvergieren in der Forderung nach einer »Kultur der Kohärenz«, die der scheinbaren Beliebigkeit pluraler Lebens- und Kulturmuster neue Ressourcen identitärer Gemeinschaftlichkeit gegenüberstellen könnte. Eine lebendige Demokratie, die in einer immer weiter vorangetriebenen Freiheitsentfaltung des Subjektes nicht die Grundlagen allen sozialen Zusammenlebens – Solidarität und Gemeinsinn – auflösen will, eine solche Demokratie bedarf gemäß der Überzeugung der Kommunitaristen einer gemeinsam geteilten Wertebasis. Drei Bausteine bilden diese einheitsstiftende Wertebasis: (1) Solidarität: Eine zivile Gesellschaft ist eine Gesellschaft solidarischer Vergemeinschaftung. Die individuellen Freiheiten, die die Bürgergesellschaft dem Einzelnen garantiert, sind nicht nur private Freiheiten – sie verlangen vom Einzelnen vielmehr, daß er diese Freiheiten aktiv ausfüllt, Verantwortung für das eigene Leben und für die Belange der Gemeinschaft übernimmt. Die Gesellschaftsmitglieder definieren sich so als »Beteiligte am gemeinsamen Unternehmen der Wahrung ihrer Bürgerrechte«. Kraftquelle dieses Unternehmens aber ist die Ressource Solidarität, die auch in Zeiten einer radikalen Pluralisierung die Erfahrung von sozialer Zugehörigkeit und identitätsstiftender Bindung möglich macht. (2) Politische Partizipation: Die Demokratie bedarf der sozialen und politischen Teilhabe ihrer Bürger. Sie bedarf lebendiger Identifikationsgemeinschaften, Solidargemeinschaften von Bürgerschaftlichkeit, in denen Menschen gemeinsam mit anderen ihre politische Stimme entdecken, in der durchaus konfliktgeprägten Auseinandersetzung zwischen partikularen Interessen Gemeinsinn entwickeln und in ihrer wechselseitigen Verständigung eine neue kommunitäre Identität entwerfen. Notwendiges Requisit ist für Taylor hier eine Öffnung der Demokratie für eine Vielfalt von Formen direkter Partizipation, die Menschen eine strittige Einmischung lohnenswert machen und ihnen den Zutritt zu Arenen der politischen Gestaltung eröffnen. (3) Respekt und die Achtung des Anderen: Differenz, Pluralität, Partikularität der Lebens- und Sinn-Welten sind nicht mehr aufhebbare Webmuster der Moderne. Die zivile Gesellschaft ist damit notwendig eine offene Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher Herkünfte, Bindungen und Sinnhorizonte zusammenleben. Gerade dort, wo Erfahrungen der sozialen Ungleichheit, der Diskriminierung und der Nicht-Zugehörigkeit in die Alltagswelten der Bürger einziehen, ist das demokratische Miteinander gefährdet. Hier ist es die sich wechselseitig achtende Anerkennung der Bürger, die Zündfunke einer neuen solidarischen Vergemeinschaftung sein kann. Das kommunitaristische Projekt, das sich diesen unteilbaren Grundwerten verpflichtet fühlt, versteht sich als ein Gegenentwurf gegen eine Gesellschaft, deren »sozialer Kitt« in der Dynamik einer beschleunigten Individualisierung zerfällt. So unterschiedlich die demokratietheoretischen Positionen der Protagonisten auch sind – gemeinsam sind der vielstimmigen zivilgesellschaftlichen Debatte zwei Anliegen: zum einen das Bemühen um eine Stärkung des Gemeinsinns und des gemeinwohlorientierten Engagements der Bürger in eigeninszenierten sozialen Netzwerken; und zum anderen das Eintreten für eine durchgreifende Demokratisierung gesellschaftlicher Strukturen, die die Reichweite des etatistischen Eingriffshandelns eingrenzt und den Bürgern und ihren kollektiven Vertretungen die Instrumente einer demokratischen Selbstregierung an die Hand gibt. In diesen Zukunftsbildern einer reflexiven und partizipatorischen Demokratie aber begegnen sich der theoretische Diskurs der Zivilgesellschaft und die Empowerment-Praxis der Bürger im Kontext der neuen sozialen Bewegungen.
Beenden wir hier unsere Ausführungen zur Individualisierungstheorie. Wir haben in drei abschließenden Stichworten versucht, die Voraussetzungen zu benennen, an die ein subjektives Lebensgelingen in den riskanten Freiheiten einer beschleunigten Individualisierung gebunden ist: das Herstellen von Kohäsion in multiplen Identitäten, die gelingende Konstruktion tragender Beziehungsnetzwerke und die sinnstiftende Teilhabe an bürgerschaftlichen Zugehörigkeitsgemeinschaften. Diese drei Stichworte skizzieren in aller Kürze das Profil der Anforderungen, die sich dem modernisierten Menschen – in den wechselnden Situationen, Räumen und Passagen seines Lebens – stellen. Dieses Anforderungsprofil benennt zugleich die zentralen Zielsetzungen einer psychosozialen Praxis des Empowerment. Eine verberuflichte Hilfe, die sich den Herausforderungen der Moderne stellt, hat so stets drei Handlungsdimensionen: Sie ist für ihre Adressaten (1) Wegweiser im Irrgarten der Identitätskonstruktionen und Wegbegleiter bei der Suche nach Lebenssinn. Sie vermittelt (2) tatkräftige Unterstützung bei Aufbau und Pflege von sozialen Netzwerken. Und sie fördert (3) die Eröffnung von Partizipationsräumen, in denen Menschen in sozialer Inklusion die Erfahrung von selbstorganisierter Gestaltungsfähigkeit machen und die Ressource Solidarität neu entdecken können.