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Kapitel II: Am Schattenberg
ОглавлениеJulian marschierte zielsicher auf den Schattenberg zu. Der immer größer werdende, massive Fels machte ihm enorm zu schaffen. Schon in seiner Kindheit hatte er diesen Ort stets gemieden. Man fühlte sich hier aus irgendeinem Grund einfach unwohl. Herbstweih lag gerade in der richtigen Entfernung zum Berg, dass man darin unbekümmert und ohne ein mulmiges Gefühl im Magen leben konnte. Doch je näher man sich auf den Berg zubewegte, umso mehr verdunkelte sich die Umgebung, die Welt schien immer kleiner und der Berg stets größer zu werden und es fühlte sich an, als ob man von einem stets wachsamen Auge verfolgt wurde, egal wohin man wanderte. All das spürte auch Julian nun, da er immer näher an den Berg herantrat. Er verzweifelte an all dem Wahnsinn, der ihm schon widerfahren war und berichtet wurde. Allein Peters schreckliche Geschichte über Riesenotter, die seine Familie zerfleischt hatten. Daran würde Julian sich noch lange Zeit, wenn nicht für immer, erinnern. Kaum zu glauben, aber innerhalb von ungefähr zwei Monaten hatte sich scheinbar die ganze Welt um ein Vielfaches verdunkelt und wurde bedeutend düsterer. Nicht zwangsläufig vom Wetter her, aber man konnte es fühlen. Das Weltgefühl war ein anderes als zuvor. Auf Julian wirkte es so, als ob sich nun jeder selbst der nächste war und keiner mehr auf den anderen Acht geben würde. Dann liefen da noch so wahnsinnige Idioten herum wie der König von Falteritanien, Haggar Borrian. Ohne Zweifel musste er das größte Schandmaul sein, dass es je in der Existenz gegeben hatte. Davon abgesehen hatte Julian schon so viele grausame und unmenschliche Taten dieses "Königs" mit angesehen, dass er sich nicht sicher war, ob Haggar Borrian nicht vielleicht doch ein Dämon war. Dann gab es natürlich noch den guten, alten Aloisius Rabenkrang, den Kaiser von Ganredlah, von dem Julian nur Schlechtes gehört hatte, egal wohin er auch gelangte. Diesem üblen Zeitgenossen wollte er ganz bestimmt nie begegnen. Zuletzt gab es dann auch noch Illuminon, das Reich des ewigen Feuers. Alles, was Julian bisher darüber erfahren hatte, machte ihn wütend und ängstigte ihn zugleich. Als ob all das nicht schon ausreichen würde, gab es auch noch die mächtigsten Wesen auf der Welt sowie die Druiden und Äthergeborenen. Eigentlich war es schon eine beachtliche Leistung, zwei Schritte geradeaus zu gehen und nicht irgendjemand oder etwas zu begegnen, das einem nicht nur überlegen war, sondern einen auch noch töten wollte. Dennoch war dies noch immer die Erde, auf der Julian wandelte und nicht das stürmische Malluricon, in dem so etwas schon eher passierte. Davon wusste Julian aber nichts, denn ihm war bisher noch nie von Malluricon berichtet worden. Für seine derzeitige Situation machte das ohnehin keinen Unterschied, denn er musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, um am Schattenberg nach Otto und Lisa zu suchen. Sollten sie wirklich dort oben sein, wurden sie wahrscheinlich von dem Monster, das auf der Spitze des Berges hauste, gefangen gehalten und mussten um jeden Preis befreit werden. Wer, außer Julian, sollte das tun? Wer außer ihm wusste denn eigentlich, dass die beiden noch lebten und sich vermutlich dort oben befanden? Nur noch der alte Peter hätte ihnen helfen können, doch er war viel zu alt und schwach für so eine Aktion. Er hätte es wahrscheinlich nicht einmal bis zur Spitze des Schattenbergs geschafft. Julian war am Fuße des Berges angekommen und ein kleiner, offener Wald begrüßte ihn. Die Umgebung mutete so düster an, wie an einem typischen Herbsttag. Dabei war es gerade Sommerbeginn. Dem Herbst entsprechend weigerten sich die Bäume am Fuße des Berges, grüne Blätter zu tragen und begnügten sich stattdessen mit Laubwerk verschiedenster Farben, welches der Wind davontrug. Am Boden lag überall das Laub vieler vergangener Herbstzeiten. Die Schicht aus Blättern musste mindestens zwanzig Zentimeter über dem Boden aufragen. Julian bahnte sich seinen Weg durch das Laub und sah vor sich die unheilvoll in die Höhe schnellende Wand des Schattenberges. Er war besonders für diese eine Stelle bekannt. "Der Steig des Knechtes" wurde die Stelle auch genannt und sie machte ihrem Namen alle Ehre. Wer hier hinaufstieg, musste sich entlang der steinernen Wand über schmale, angelegte Wanderwege, die im Zickzack über die Steinwand verliefen, hinaufkämpfen. Für die meisten Menschen war der Weg aber viel zu steil und etwas korpulentere Personen wären wahrscheinlich schon ganz unten wieder hinabgestürzt, weil die schmalen Wege ihre Fülle nicht fassen konnten. Zum Glück besaß Julian die normale Statur eines jungen Mannes und er trug auch kein schweres Gepäck bei sich, welches ihm den Aufstieg erschwert hätte. So begann er, widerwillig die steilen Rampen hinaufzumarschieren. Für ihn war der Weg mehr als ausreichend und so wurde Julian schnell langweilig, da er nicht besonders auf seine Sicherheit achten musste. Der Weg zog sich allerdings der Beschreibung nach über 250 Höhenmeter. Die Spitze des Schattenberges lag auf 750 Metern Höhe. Nach dieser Wand hatte man immerhin schon ein gutes Drittel geschafft. Das war ja gar nicht das Problem. Wirklich problematisch wurde es erst, wenn man auf einer Höhe von 150 Metern plötzlich hinabblickte und sah, dass man sofort abstürzen konnte, wenn man nicht genau aufpasste, wo man auftrat. Da wurde den meisten Wanderern dann doch schwummrig und das Herz rutschte ihnen in die Hose. Auch Julian würde bald damit zu kämpfen haben, aber er konnte auch einfach nicht hinunter sehen. Das war sicherlich am gesündesten für ihn. Er nahm im Moment ohnehin nicht wirklich wahr, was er gerade tat. Wie in Trance stieg er immer weiter die Felswand hoch und dachte währenddessen an einen schönen, aber auch beängstigenden Moment aus seiner Kindheit.
Damals war Julian erst 7 Jahre alt. Lisa war gerade erst 6 Jahre alt geworden und Otto war 10. Ein besonders warmer Dezember erlaubte es den drei Kindern, oft draußen herumzutollen und so kam Otto eines Tages auf eine glorreiche Idee.
"Lasst uns zum Schattenberg gehen. Vielleicht finden wir ja irgendwelche Hinweise auf das grässliche Monster, das sich dort oben befindet."
"Hör auf, Otto, du machst mir Angst.", sagte Lisa.
"Beruhige dich, Lisa.", beschwichtigte Julian sie. "Das denkt er sich doch nur aus."
"Nein, das ist wahr. Die Erwachsenen erzählen uns doch dauernd, dass wir nicht zum Schattenberg gehen sollen, weil wir sonst von dem Monster verschleppt werden.", erwiderte Otto.
"Ich will nicht zum Schattenberg.", sagte Lisa und zitterte leicht.
"Schon gut, wir müssen auch nicht dorthin.", sagte Julian zu ihr. "Lasst uns lieber im Dorf verstecken spielen."
"Ja, das spiele ich am liebsten.", jubelte Lisa.
"Macht, was ihr wollt, ihr Feiglinge. Ich gehe jetzt zum Schattenberg.", tönte Otto und machte sich sofort auf den Weg Richtung Norden. Julian und Lisa konnten ihn nicht alleine dorthin gehen lassen, also folgten sie ihm. Dabei riefen sie unentwegt:"Otto, bleib stehen!", "Warte doch mal!" sowie "Wir sollten wieder nach Hause gehen!". Doch der älteste der drei hörte nicht auf die vernünftigen Rufe seiner jüngeren Freunde und marschierte immer weiter. Damals hatte sich Julian so machtlos gefühlt. Er wollte nur seinen besten Freund von diesem Berg fernhalten, doch er hörte einfach nicht auf ihn. Was also sollte er tun? Was konnte er tun? Schließlich erreichten die drei die Steinwand, als es schon langsam dunkel wurde. Otto starrte enthusiastisch nach oben und war offenbar bereit, den Aufstieg zu wagen. Er wandte sich zu seinen Freunden um, die erst ankamen, nachdem er schon ein paar Minuten auf die sich erhebende Felswand geblickt hatte. Die beiden waren völlig außer Atem. Immerhin war Otto schon ein wenig älter und somit auch schon ein Stück größer gewachsen und besaß daher längere Beine und konnte schneller laufen. Julian hätte zwar mit ihm mithalten können, doch kümmerte er sich um Lisa, die nicht nur sehr langsam vorankam, sondern auch noch schreckliche Angst vor dem Berg hatte. Als sie nun davor stand, fürchtete sie sich so sehr, dass sie sich an Julian klammerte und sich hinter seinem Rücken versteckte, während sie mit einem Auge vorsichtig hervorlugte. Otto sah die beiden an und fragte:"Also dann, wollen wir?"
"Was denn, willst du etwa da hoch?", fragte Julian seinerseits.
"Natürlich, wozu sind wir denn sonst hierher gekommen? Hier unten finden wir keine Spuren des Monsters. Es haust doch auf der Bergspitze."
"Dieser Berg ist aber sehr hoch.", sagte Lisa mit zittriger Stimme.
"Na und? Irgendwann sind wir oben. Das dauert nur ein wenig.", erwiderte Otto.
"Aber Otto, es wird schon dunkel. Lass uns lieber nach Herbstweih zurückkehren.", versuchte Julian, seinen Freund zu überzeugen.
"Hast du etwa Angst vor ein wenig Dunkelheit?", spottete Otto.
"Nein, aber Lisa.", sagte Julian. Lisa machte sich hinter ihm noch kleiner. Das schien Otto kurz zögern zu lassen. Er warf einen Blick auf Lisa und in seinen Augen schien sich etwas wie Sorge zu spiegeln. Nach einem kurzen Moment der Stille ging er auf den Wanderweg zu und sagte beiläufig:"Ihr geht zurück. Ich besteige jetzt den Schattenberg."
"Bitte mach das nicht. Das ist zu gefährlich.", sagte Lisa. Ihr standen schon Tränen in den Augen und sie konnte es kaum am Fuße dieses grässlichen Berges ertragen. Julian merkte das auch und wurde langsam wütend auf Otto.
"Ich muss da rauf.", erwiderte Otto. "Egal, wie gefährlich es ist. Ihr müsst mich nicht begleiten. Geht einfach zurück und morgen erzähle ich euch dann, wie es war."
"Warum kannst du nicht einfach mit zurückkommen? Warum musst du so dickköpfig sein?", fragte Julian wütend.
"Weil ich mich nun mal nicht von anderen, auch nicht von meinen Freunden, davon abhalten lasse, zu tun, was ich möchte.", gab Otto als Antwort.
Da nahm Julian einen Stein und warf ihn nach Otto. Der Stein erwischte ihn direkt im Gesicht und verpasste ihm mit einer scharfen Kante einen blutigen Schnitt auf seiner rechten Wange. Otto starrte Julian an und funkelte ihn zornig aus seinen roten Augen an. In diesem Moment fühlte Julian etwas Seltsames, etwas Unbehagliches, das er nicht erklären konnte. Er wusste, dass er zu weit gegangen war, doch das war Otto ohne Zweifel auch. Julians einzige Sorge galt Lisa. Sie fühlte sich so unwohl an diesem Ort, dass er sie nur so schnell wie möglich von hier fortschaffen wollte. Immerhin entfernte sich Otto vom Steig des Knechts und ging zurück zu seinen Freunden. Direkt vor Julian blieb er stehen und sagte langsam:"Wenn du das noch einmal machst, wirst du es bereuen."
Julian schluckte nur und nickte als Zeichen, dass er verstanden hatte. Anschließend machte sich Otto auf den Heimweg und rief schließlich:"Was ist, wollt ihr da hinten die ganze Nacht herumstehen? Kommt schon, gehen wir nach Hause." Dann marschierten sie wieder zurück nach Herbstweih und schon am nächsten Tag spielten sie Verstecken in Herbstweih und hatten alle einen Riesenspaß dabei. Sogar Otto amüsierte sich, doch Julian hatte nie vergessen, was an jenem Tag passiert war. Und er würde es auch nie vergessen. Das zweite, undefinierbare Gesicht seines besten Freundes.
"Verdammt.", stieß Julian laut aus, obgleich es niemand vernahm. Denn er befand sich jetzt bei ungefähr 80 Metern Höhe des Steigs und war gerade auf einen kleinen Stein getreten, an dem er fast abgerutscht wäre und dann in die Tiefe hätte stürzen können. Instinktiv musste er nun nach unten blicken und was er da sah, gefiel ihm gar nicht. Doch er wusste, er musste stark bleiben. Für meine Freunde. Für Otto. Für Lisa. Nun gab er mehr Acht auf seine Schritte und konnte so in gutem Tempo, aber dennoch achtsam weiter hinaufsteigen. Nichtsdestotrotz beschäftigte ihn jetzt etwas anderes. Als Julian am Schlachtfeld von Erudicor mit Sylvia gesprochen hatte, jener Seraphim, die ihn mehrmals geheilt hatte, da hatte sie ihm viel wirres Zeug erzählt, das er nicht ganz verstanden hatte. Er konnte sich nur noch vage daran erinnern, doch ein paar Dinge hatte er sich gemerkt. Sylvia hatte von Druiden, von Louise und von einem Geist des Wissens gesprochen. Louise kannte Julian aus Falteritanien, sie war die Schreiberin des Königs von Falteritanien, Haggar Borrian. Dieser behandelte sie wie Scheiße und das jedes Mal, wenn sie in seiner Nähe war. Sogar, wenn sie nicht dabei war, ließ er sich furchtbar über sie aus. Dafür hasste Julian ihn, denn Louise war ein wundervoller Mensch und in ihr hatte Julian zumindest eine einzige Freundin in Falteritanien gefunden. Erstaunlich war nur, dass Sylvia, ein Engel, Louise ebenfalls kannte. Darüber hinaus hatte sie sie als eine "Wissende" bezeichnet. Was genau es damit auf sich hatte, konnte Julian nur vermuten. Dennoch erinnerte er sich noch daran, wie Sylvia einen Geist des Wissens erwähnt hatte. Sein auf Julian damals unglaublich komplex wirkender Name war ihm leider entfallen. Doch hatte Sylvia erzählt, er könnte auch diesen Geist des Wissens befragen, wenn er Antworten suchte. Das größte Mysterium aber blieb für Julian der Ausdruck "Kind des Schicksals". Obgleich seine Bedeutung völlig klar schien, war es doch mehr eine philosophische Frage. Was genau zeichnete ein solches Kind des Schicksals aus, damit es als solches bezeichnet wurde? Und warum war Julian von zwei voneinander unabhängigen Personen mit ebendieser Bezeichnung betitelt worden? So viele Fragen gingen Julian durch den Kopf und er hatte das Gefühl, niemals Antworten darauf zu finden. Fast schon wäre er versucht gewesen, den Geist des Wissens zu rufen. Womöglich reagierte dieser ja darauf? Im Moment galt es aber vorrangig, die steile Felswand hinter sich zu bringen. Julian hatte nun schon 130 Meter Höhenmeter zurückgelegt und damit ein wenig mehr als die Hälfte geschafft. Die nächste Kehre, die den Weg wieder in die andere Richtung verlaufen ließ, bereitete Julian allerdings große Sorgen. Denn dort ragte der höhere Teil der Felswand plötzlich um die zwei Meter heraus und überragte so den unteren Teil. Somit würde sich hier nun keine Kante weiter unten als Rettung anbieten, sollte Julian stürzen und noch verzweifelt versuchen, sich irgendwo festzuhalten. Dann kam noch erschwerend hinzu, dass der nächste Teil des Weges sehr glatt aussah und so wirkte, als könnte man sehr leicht abrutschen. Also hieß es nun für Julian, besonders vorsichtig zu sein, denn wenn er nun hinabstürzte und starb, war niemandem geholfen. Für seine Freunde musste er es schaffen. Er musste einfach. Vorsichtig machte er den ersten Schritt und spürte, wie sein Fuß langsam in Richtung Abgrund rutschte. Sofort nahm er den Fuß wieder zurück auf sicheren Boden. Julian zog sein Schwert, das Katana Ibmogwari, eine magische Waffe aus dem asiatischen Reich Shanto Gyar. Damit stützte er sich in der Nähe des Abgrunds ab und drückte sich selbst so stark an die Wand, wie er nur konnte. Während er so langsam voranschritt und das Abrutschen seiner Stiefel mit dem Katana ausglich, indem er sich damit vom Abgrund wegstemmte, bahnte er sich so allmählich seinen Weg zu dem etwas sichereren, nachfolgenden Stück des Wanderwegs. Danach ging es wieder etwas gemächlicher weiter. Der Halt auf dem Weg war ein besserer und man rutschte nicht mehr so leicht ab. Julian blieb dennoch vorsichtig und schritt langsamer voran. Einige Zeit verging, bis er schließlich bei 200 Höhenmetern angelangt war. Auf dieser Höhe befand sich sogar ein Schild, das jemand in die Mitte einer Rampe, die nach rechts bergauf verlief, wenn man frontal auf die Steinwand blickte, gestellt hatte. Es war sehr alt, verfallen und aus Holz. Man konnte gerade noch die eingeritzten Zeichen lesen. Darauf stand geschrieben: Schattenberg. 200 Meter Seehöhe. Darunter befanden sich noch Wegweiser. Der eine, der nach rechts zeigte, war mit "Gipfel" betitelt. Der andere zeigte nach links und trug passenderweise die Aufschrift "Tal".
"Ach, wirklich, da runter geht's ins Tal?", fragte Julian sarkastisch. Dann wurde ihm klar, dass er nur ein uraltes Schild angeschnauzt hatte und stumm folgte er weiter dem Weg. Ihm kam wenig später der Gedanke, dass dieses Schild, obgleich der Verlauf des Weges ziemlich eindeutig war, auch jemandem gelten konnte, der vom Berg hinabstieg. So könnte das Schild auch dem Monster vom Gipfel den Weg weisen. Doch wer wollte eigentlich diesen fürchterlichen Weg hinabsteigen? Bergauf war er schon schrecklich genug. Julian jedenfalls wollte sich, so er die Begegnung mit was auch immer auf dem Gipfel überlebte, einen anderen Weg vom Berg hinunter suchen. Nach ein paar Minuten, die Julian nach seiner Begegnung mit dem Schild dem Weg gefolgt war, verjüngte sich die Felswand zu einem einzelnen, spitzen Felsen, an dem zu beiden Seiten Wege vorbeiführten. Julian folgte dem linken, obwohl es keinen Unterschied machte, und so gelangte er in einen sehr offenen Wald, wo die Bäume weit voneinander entfernt standen und sich überall am Boden Nadeln befanden. Hier oben thronte also ein Nadelwald, während am Fuße des Berges ein Laubwald prangte. Gleich an der linken Seite des Waldes befanden sich eine felsige Kante und dahinter ein sehr tiefer Abgrund. Man konnte noch einen kleineren Ausläufer des Berges sehen, der aber mindestens 100 Meter tiefer liegen musste. Kaum zu glauben, dass Julian erst ein Drittel des Weges geschafft hatte. Er marschierte einen schwach sichtbaren Pfad durch den Wald entlang und gelangte nach einiger Zeit, in der sich das Wetter drastisch verbessert hatte, zu ein paar Stufen. Bei ihnen handelte es sich um Stufen aus massivem Stein, die jemand hier auf dem Berg errichtet hatte. Sie verliefen immer in fünf aneinander anschließenden Stufen, dann war ein kleiner, halbwegs ebener Abstand von zwei bis drei Metern und dann folgten wieder fünf Stufen und so ging es immer weiter. Die ersten Sonnenstrahlen des heutigen Tages zeigten sich und fielen auf die Stufen, welche Julian gerade erklomm. Es war ein angenehmer Aufstieg, jedoch vermutete Julian, dass es auf diese Weise wohl noch ewig dauern würde, bis er den Gipfel erreichte. Während er immer weiter die Stufen hinaufstieg, die sich in verschiedensten Windungen, Kurven, Richtungsänderungen und Winkeln an einem unsichtbaren Weg zu orientieren schienen, bewunderte er den abgestorben wirkenden Wald hier oben. Alle Bäume waren kahl und hatten keinerlei Nadeln an sich. Dabei sollten die meisten Nadelbäume ihre Nadeln doch behalten. Der Schattenberg war ein sehr seltsamer Ort, soviel stand fest. Irgendwann gelangte Julian zu einer Stelle, von der er auf einen höheren Teil des Berges sehen konnte. Dieser Teil erhob sich wie ein weiterer Berg auf dem Berg und ragte gen Himmel. Ganz oben konnte Julian etwas erkennen. Einen Turm. Er blickte auf einen Turm auf der Spitze des Berges. Das also war sein Ziel. Was auch immer dort hausen musste, es hauste nicht in einer Höhle, wie Julian stets angenommen hatte, sondern in einem Turm. Bevor er aber herausfinden konnte, wie beschaffen das Monster letztendlich war, musste er erst den Rest des Weges dorthin zurücklegen. Er wusste es nicht, doch nach einiger Zeit, die er über die Stufen bergauf marschiert war, näherte er sich erst langsam den 450 Metern. Es gab noch immer 300 Meter zu bewältigen. Julian setzte seinen Weg fort und fand es faszinierend, wie wohl er sich hier oben eigentlich fühlte. Wenn er daran dachte, dass der Schattenberg einem alleine schon vom Namen her Angst machte, so schien es unmöglich, hier oben nicht ohne permanente Gänsehaut herumzuspazieren. Doch Julian fühlte sich in diesem toten Wald sogar geborgen. Interessant war auch, dass der Wald zum Gipfel hin immer lebendiger zu werden schien. Nun erschienen schon vereinzelt lebendige Bäume entlang des Weges und dort, wo sich der Turm befand, hatte Julian in großem Umkreis einen grünen Wald aus der Ferne gesehen. Während er weiterhin den steinernen Stufen folgte, kam es ihm von einem Moment auf den anderen irgendwie nicht mehr so vor, als ob dieser Ort verweilenswert wäre. Schlagartig fühlte er sich unwohl und wollte so schnell wie möglich verschwinden. Was war geschehen? Warum fühlte sich Julian nun plötzlich so anders? Ihm war nichts aufgefallen, während er weiter bergauf marschiert war. Schließlich blickte er rundum und irgendwie wirkte nun alles wie von einem unsichtbaren, schimmernden Schleier überzogen. Julian war ratlos, was das sollte und beschloss, einfach weiterzugehen. Diese Entscheidung hatte sich als richtig erwiesen, denn als er sich weiterbewegte, schnappte aus dem Nichts heraus eine schwarze Hand mit drei langen, knöchernen Fingern nach ihm und verfehlte ihn. Er spürte aber eine eigenartige Präsenz und wandte sich um. Da war nichts. Spielte ihm nun schon sein eigener Verstand Streiche? Nach einem Moment, den er innehielt, setzte Julian seinen Weg fort. Kurze Zeit später hörte er einen Ast krachen, weil jemand draufgetreten war. Ob das Monster seine Anwesenheit bereits vernommen hatte und ihn nun verfolgte? Erneut wandte sich Julian um, nur um erneut in einen leeren, immer lebendiger werdenden Wald zu blicken. Als er dann langsam den Blick hinüberschwenkte, dorthin, wo sich der Weg fortsetzte, stoppte er abrupt. Er wagte es nicht, hinzusehen, doch wusste er, dass dort eine grausige Gestalt stand und wartete. Aus dem Augenwinkel hatte er sie ganz schwach wahrgenommen. Das einzige Detail, abgesehen von der enormen Größe, war ein dunkelblaues Gewand, das die seltsame Gestalt vollständig zu bedecken schien. Julian starrte nur geradeaus und rührte sich nicht vom Fleck. Ganz klar wartete er darauf, dass das Monster ihn töten würde. Ihm war irgendwie auch klar, dass er im Kampf keine Chance hatte. Er konnte es spüren.
"Wenige Sterbliche wagen sich hier herauf.", erklang eine fürchterliche Stimme, die Julian in den Ohren schmerzte. Sie klang blechern, furchtbar verzerrt und hallte unendlich wider. Nachdem die Stimme gesprochen hatte, kehrte wieder Stille ein. Julian wagte nicht, zu antworten. Das allerdings war die falsche Entscheidung.
"Antwortet, wenn ich mit Euch rede!", brüllte die Stimme nun und angesichts ihrer Beschaffenheit war es unerträglich für Julian. Sofort sagte er:"In Ordnung, ich antworte. Aber was wollt Ihr von mir?"
"Ich? Was verschlägt Euch hierher?", erwiderte die Stimme.
"Ich suche meine beiden besten Freunde und vermute, dass sie hier oben sind."
"Tatsächlich. Wen genau sucht Ihr?"
"Otto und Lisa aus dem Dorf Herbstweih.", sagte Julian. Er hoffte, das Monster würde ihm nun nicht offenbaren, dass es sie längst getötet und verspeist hatte. Stattdessen hielt die Gestalt kurz inne und sprach dann:"Hm, verstehe. Es wird das Beste sein, Ihr setzt Euren Weg zum Gipfel fort und redet mit der Gestalt, die Ihr dort vorfindet."
"Aber...das heißt, Ihr seid nicht derjenige, der am Gipfel des Schattenberges wohnt?"
"Nein. Ich bin nur hier, weil ich es will. Nun werde ich aber wieder verschwinden. Gebt auf Euch Acht, Kind des Schicksals."
Auf diesen Satz hinauf löste sich die Gestalt, die Julian noch immer nur aus dem Augenwinkel wahrnahm, auf und verschwand. In der letzten Sekunde blickte er in ihre Richtung und konnte nur noch ein Stück dunkelblauen Stoffes erkennen, das zurückblieb und zu Boden fiel. Julian hob es auf und steckte es in seine Hosentasche, wo es ein wenig heraushing. Kind des Schicksals. Julian war schon wieder jemandem begegnet, der ihn so bezeichnet hatte. Konnte das Zufall sein? War es Zufall, dass Julian noch lebte? Oder war es vielmehr die Achtung vor den Kindern des Schicksals, welche das seltsame Monster Julian hatte verschonen lassen? Schon wieder wurde unser Held mit viel zu vielen Fragen bombardiert und dabei versuchte er doch nur, seine Freunde zu retten. Verwirrt und mit einem viel zu drängenden Bedürfnis, Antworten zu bekommen, setzte Julian erneut seinen Weg fort. Der Rest des Anstiegs verlief schnell und ohne besondere Vorkommnisse. Irgendwann, auf Höhe von 650 Metern, erreichte Julian eine Treppe, aus perfekt gebauten Stufen. Diese allerdings waren viel schmaler als jene großen Steinstufen, denen er so lange gefolgt war, nur ungefähr einen Meter breit. Dafür waren sie höher als die Steinstufen, bestanden aus grauem Marmor und waren so exakt gefertigt, dass es schon beängstigend wirkte. Diese Treppe führte in erschütternd steilem Winkel den letzten Anstieg hinauf und endete, wie man schon vom unteren Ende aus sehen konnte, direkt beim Turm am Gipfel. Zu beiden Seiten der Treppe verlief der Berghang ebenfalls bergauf, hier wucherten unzählige, dicht aneinander gedrängte Nadelbäume, die alle lebendig und gesund wirkten. Julian begann, die Treppe hinaufzusteigen und hörte erst auf, als er oben vor dem großen Turm stand. Dieser bestand aus massivem, sehr dickem Stein, wobei man unförmige Steinbrocken in der Fassade sehen konnte, zwischen denen sich noch andere Materialien befinden mussten, um das ganze zusammenzuhalten. Auch der Turm war mit einer unglaublichen Präzision errichtet worden, besaß perfekte Kanten, stand absolut gerade und schloss in einer Höhe von 50 Metern mit den Zinnen der sich erweiternden Dachterrasse ab. Diese ragte auf allen Seiten exakt vier Meter über den Rest des Turmes hinaus. Auf allen Seiten befanden sich, jeweils auf Höhe einiger Stockwerke, eingebaute Fenster, die sogar mit Glas versehen waren. Manche Glasscheiben waren jedoch so gedreht worden, dass sie in der Mitte des Fensters parallel zu dessen Seiten verliefen und nicht das Fenster schlossen wie üblich. Scheinbar konnte man diese Glasscheiben also drehen. Julian hatte keine Ahnung, was für ein Wesen hier hausen konnte, doch er machte sich einfach daran, es herauszufinden. So betrat er den Turm durch die kleine, hölzerne Tür und fand im Inneren sofort einen Raum mit Tischen, Regalen und Säulen vor, wobei die Säulen die oberen Geschosse stützten und daher essentiell für das Bauwerk waren. Dieser Raum war allerdings nicht wirklich spannend und so stieg Julian eine weitere Treppe hinauf, die entlang der Wand des Turmes hinauf verlief. Nach einigen Stufen kam immer ein Zugang zu einem Raum auf dem jeweiligen Geschoss. Weiter oben endete die Treppe plötzlich in einem sehr gemütlichen Raum, welcher einen großen, roten Teppich am Boden liegen hatte. An der rechten Wand stand ein großes, einladendes Bett, daneben befanden sich ein Schreibtisch und ein Regal voll mit Pergamentrollen, Flaschen mit seltsamen Flüssigkeiten darin sowie ein paar Stoffsäckchen mit unbekanntem Inhalt. Am Fußende des Bettes, auf Julians Seite, befand sich auch noch eine sehr große Truhe aus Holz. Auf der gegenüberliegenden Seite zu jener, entlang welcher das Bett stand, befand sich ein kleiner Durchgang nach draußen auf einen kleinen Vorsprung. Von diesem aus führte die Treppe außerhalb des Turms weiter. Das war Julian gar nicht aufgefallen, als er den Turm betrachtet hatte. Tatsächlich hatte er es gar nicht sehen können, denn diese Treppe außerhalb befand sich auf der Rückseite des Turms und Julian hatte von der Frontseite darauf geblickt. Darüber hinaus führte diese Treppe nur über die Hinterseite und endete weiter oben schon. Dort befand sich wieder ein Durchgang, der in den obersten Stock führte, über dem nur noch die Dachterrasse lag. Als Julian dort mit gezogenem Schwert eintrat, fand er kein schreckliches Monster vor. Nein, da stand ein alter Mann mit langem, grauem Bart und orangem Umhang. Er trug braune, elegant geschneiderte Kleidung, doch der Großteil davon wurde ohnehin von dem sehr langen und weiten Umhang verdeckt. Der alte Mann bemerkte Julian sofort und sah ihn dann aus seinen schwach grün leuchtenden Augen an.
"Ah, na endlich, Eadfjeddr. Du kommst reichlich spät.", sagte er zu Julian. Dieser wusste zunächst gar nicht, was er eigentlich erwidern sollte. Immerhin war er gerade mit einem seltsamen Namen angesprochen worden. Der alte Mann nahm ihm die Arbeit ab und fuhr fort:"Was soll denn das Junge, verhält man sich so in Gegenwart eines alten Mannes? Steck gefälligst das Schwert weg und steh gerade. Also wirklich, die Jugend von heute. Durch und durch verdorben. Warum genau hat das so lange gedauert? Ich habe schon gestern mit dir gerechnet. Die Sterne lügen nicht, doch manchmal scheint es, als ob sie nicht ganz korrekt bei ihren Angaben sind."
"Verzeihung...", begann Julian schließlich, "...aber was redet Ihr da eigentlich?"
"Hm? Was ich rede? Oh, natürlich. Entschuldige, ich vergesse immer, dass nur ich weiß, was passieren wird und die anderen dann immer verdutzt dreinschauen, bis ich es ihnen erkläre. Also, ich bin der Druide der Gestirne. Mein Name ist Alfokohel und bisher wartete ich auf deine Ankunft, Eadfjeddr."
"Ich heiße Julian!", rief Julian dem Alten dazwischen. Dennoch staunte er innerlich. "Ein Druide".
"Natürlich ist das dein Name, aber ich glaube, du verstehst nicht ganz. Eadfjeddr ist keinesfalls ein Name, es bedeutet "Vorherbestimmter" in der alten Sprache. So es der Zufall will, wobei das hier wohl eher Schicksal ist, bist du mir vorherbestimmt, Julian. Es ist vorherbestimmt, dass wir beide uns treffen."
"Wie kann das vorherbestimmt sein?", fragte Julian erstaunt und verwirrt.
"Ich fühle, du hast viele Fragen, doch will ich dir zunächst bei jener helfen, die mir am dringendsten scheint. Deine beiden Freunde, Otto und Lisa. Ich weiß, wie es um sie bestellt ist."
"Tatsächlich? Geht es ihnen gut? Wo sind sie?", fragte Julian sofort erfreut. Vielleicht konnte der Druide ihm ja wirklich helfen.
"Ganz ruhig. Unser Treffen ist vorherbestimmt, somit werde ich dir helfen, aber auch du musst mir helfen. Das verstehst du sicherlich. Bist du bereit für deine Aufgabe?"
"Was? Nein, Moment. Bitte sagt mir sofort, was mit meinen Freunden geschehen ist. Das hat Vorrang vor allem anderen. Danach helfe ich Euch gerne, aber bitte sagt mir zunächst alles, was Ihr über meine Freunde wisst."
"Tut mir Leid, Julian, aber das kann ich nicht tun. Wenn du meine Aufgabe erfüllst, dann werde ich dir alles erzählen. Also, bist du bereit für die Aufgabe?"
"Soll das ein schlechter Witz sein?", erwiderte Julian zornig. Er zog sein Schwert und blickte den Druiden finster an.
"Ich will jetzt Antworten. Dafür bin ich doch extra auf diesen beschissenen Berg hinaufgeklettert. Ihr sagt mir jetzt alles, was Ihr wisst oder Ihr nehmt es mit ins Grab!"
"Kein Grund, ausfallend zu werden, mein ungestümer Freund. Ich glaube, du solltest dich erst einmal ausruhen."
Dann hob der Druide der Gestirne seine Hände und Julian schwebte plötzlich in der Luft, während er immer müder wurde. Sein Katana fiel ihm aus der Hand und zu Boden. Anschließend verlor er das Bewusstsein.