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Dienstag, 9.2.16

Er hatte seinen großen Schreibtisch so vor das Fenster geschoben, dass er von seinem bequemen Sessel aus durch eine kleine Kopfbewegung nach links den Blick vom Computermonitor aufs Rothaargebirge lenken konnte. Für seine Gedanken und seine Fantasie hieß das: Los, schweift umher, oder: Erinnert euch, was fällt euch ein, was fällt euch auf? Oder umgekehrt nach rechts: Wo steht das nochmal? Ein Grund, die Maus wieder in die Hand zu nehmen, hin- und herzuschieben, auf die Tasten zu drücken. Der Blick nach unten richtete sich dann auf den aufgeschlagenen Ordner. Seitdem er und seine Gleitsichtbrille nach schwieriger Erprobungsphase sich an ihre jeweiligen Eigenheiten gewöhnt hatten, funktionierte das erstaunlich gut. Diese drei Akten, die Wundkrater in seinem Leben, seinem Berufsleben allemal: Er wollte, dass sie sich endlich schlossen, sich beerdigen und ihn in Frieden ließen. Drei Kriminalfälle, staatsanwaltlich abgeschlossen, ohne dass eine Täterermittlung gelungen war, drei in vierzehn Jahren, in denen er die Mordkommission geleitet hatte. Keine schlechte Bilanz, aber eben auch keine perfekte. Eigentlich gehörten die Ordner ins Polizeiarchiv der Stadt Schmallenberg, aber da vermisste sie im Moment niemand, wie ihm Sonja versichert hatte. Sie hatte sie ihm schon vor Weihnachten besorgt und seitdem war kaum mal eine Woche vergangen, in der er nicht wenigstens einmal in einer der schweren Kladden irgendetwas nachgeschlagen oder auch nur ziellos geblättert hatte. Und jetzt hatte er etwas entdeckt, vielleicht ein Puzzleteilchen, eine Schlüsselkarte, ein Heilpulver für alte Wunden. Jedenfalls für die Wunde Altmann.

Die Ermittlungsakte S 6744013, Altmann, Irene, wurde am 27. Februar 2014 geschlossen. Für Jankowski war es Weiberfastnacht oder Wiewerfastelovend; an Karneval pflegte er gerne seine rheinischen Wurzeln, die die Kollegen ihm aber nicht so ohne weiteres abnehmen wollten. Sie vermuteten, dass er sich lediglich einen Anlass zunutze machte, um seine chronische Feierlaune zu bedienen. Jedenfalls ein Tag, an dem alles egal und erlaubt war. „Es gibt sonst kein Wort in keiner Sprache in keinem Land, in dem wie und wer steckt, Ende und Liebe und schnell und immer“! Damit konnte er zwar nur noch diejenigen verblüffen, die entweder neu in seiner Umgebung waren oder bereits an fortgeschrittener Demenz litten. Die anderen unterstellten ihm selbst gerne dasselbe, packte er doch trotz der anfangs noch wohlgemeinten Hinweise auf den falschen Buchstaben immer noch „ever“ mit in das Zauberwort, das längst nicht alle im Sauerland kennen, geschweige denn richtig aussprechen können.

Für Stojan war es allerdings ein eher trauriger und besinnlicher Tag gewesen. Wenige Wochen später war er aus dem Dienst ausgeschieden, fast ein halbes Jahr früher als geplant, aber mit angesparten Urlaubswochen und krankheitsbedingten Arbeitszeitverkürzungen hatte man ihm das so vorgeschlagen und er hatte weder Lust noch Kraft verspürt, anderer Meinung zu sein. Und derjenige, dem er zuhause das Sagen und Meinen überließ, und zwar gerne, war schon der damals drei Monate alte Boxerrüde, der ihm auch in der ersten Phase seines Ruhestands Langeweile und Larmoyanz rasch ausgetrieben hatte. Fido war kein großer Schmuser, gelegentliches Tätscheln seiner Flanke oder Streichen über den Rücken musste reichen und wurde dann aber auch schnell und unmissverständlich als lästig nach oben gemeldet. Da auch Stojans Bedarf an zärtlichem Austausch schon immer sehr überschaubar geblieben war, beschränkte sich die Nähe zwischen Herrn und Hund meistens darauf, dass man sich nebeneinandersetzte, sei es zum gemeinsamen Zeitunglesen, Musikhören oder kleinen Imbiss zwischendurch. Da kam es dann auch schon mal vor, dass die klebrig pelzige Hundezunge hinter und über Herrchens Ohr fuhr. Ein versteckter Beobachter hätte ohne allzu großes Risiko einiges darauf setzen können, dass Mensch und Tier diese Szene genossen. Jeweils ohne es sich anmerken zu lassen, versteht sich. Und Fido sorgte dafür, dass im Hause Stojan mindestens zweimal täglich Speisen auf den Tisch und in den Napf kamen, fast nie länger als zwei Stunden am Stück gelesen oder am Schreibtisch gesessen wurde und ein ausgeklügeltes Fitness-Programm für Jungsenioren von Anfang bis Mitte sechzig mit regelmäßigen Streifzügen durch die umliegenden Wälder und Raufen, Kämpfen und Nachlaufen in dem verwilderten Garten die Balance zwischen Körper und Geist garantierte.

Altmann, Irene. Stojans Gefühl wurde stärker. Und so etwas hatte er in Ermittlungen nur zugelassen, wenn es auch Fakten gab, irgendetwas Logisches. Noch war es keine Kopfsache.

Irina Altmann war am 28.11.1992 in Kasachstan geboren, das sich gerade von Russland gelöst hatte. Ihre Eltern, Ernst und Agnes Altmann, gehörten der russischdeutschen Minderheit in Astana an und siedelten 1994 mit der kleinen Irina nach Deutschland aus. Nach etlichen Sprach- und Integrationskursen fand der Vater als gelernter Schreiner eine Anstellung in einem Sägewerk in Schmallenberg und die Mutter, eine ausgebildete Krankenschwester, einen unregelmäßigen und schlecht bezahlten Job in einem ambulanten Pflegedienst als Springerin für erkrankte oder schwangere Altenpflegerinnen. Aus Irina wurde Irene. Daten und Kommentare aus der Akte und eigene zunächst vage, dann deutlichere Erinnerungen formten vor Stojans geistigem Auge das Bild des Mädchens.

Bis auf die ersten Lebensjahre, in denen zuhause noch Russisch gesprochen wurde, war Irene über Kita, Grund- und dann Realschule vollständig in der neuen Umgebung sozialisiert worden, die Eltern hatten sich frühzeitig um Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung gekümmert und weder heimatliche Traditionen noch vornehmlichen Umgang mit ehemaligen Landsleuten gepflegt. Die zunächst noch jährlichen Verwandtschaftsbesuche in Kasachstan waren nach dem Tod von Irenes Großmutter seltener geworden, der letzte hatte 2009 das Begräbnis des Großvaters zum Anlass. Samstags wurde Lotto in einer Tippgemeinschaft gespielt, sonntags aßen sie bei Pepe Pizza funghi oder Lasagne. Die Termine des örtlichen Schützenvereins waren ihnen mindestens so heilig wie den Alteingesessenen. Sie sprachen langsames Deutsch mit wenigen grammatikalischen Fehlern. Ernst machte kaum welche und war stolz darauf, korrigierte Agnes dann manchmal gerne. Im Gespräch verriet nur sein wohl unauslöschlicher harter Akzent seine Herkunft, aufmerksamen Mitbürgern mögen auch die alten, nicht mehr generationstypischen deutschen Vornamen und der in Westfalen eher unübliche Gesichtsbau, nämlich kantiger, nicht so fleischig, aufgefallen sein. Irene lief überall gut mit, ein waches, aber nicht schnelles Kind, sie wiederholte die siebte Klasse und verließ die Schule nach der zehnten Klasse mit Fachoberschulreife. Danach schrieb sie Bewerbungen und sammelte Ablehnungen, konnte sich für nichts richtig begeistern, jobbte ein bisschen hier und da und bei Pepe, was den Eltern überhaupt nicht gefiel, zumal sie nicht wussten, warum Irenchen so viel Trinkgeld bekam, für das sie sich dann noch schludrigere Kleidung kaufte als sie sowieso schon trug, wenn sie das kleine elterliche Reihenhaus am Ortsrand verließ, um sich mit ihrer Clique zu treffen.

Stojan las weiter. Er war froh, dass sich jemand Mühe gegeben hatte mit der Biografie der jungen Frau. Sie endete mit dem Beginn der Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten in einer Schmallenberger Augenarztpraxis im August 2010. Aussagen von Zugpersonal und Mitreisenden folgten, ein kopierter Fahrplan, handschriftlich ergänzte Kommentare, Frage- und Ausrufezeichen. Stojan fand Papier, einen Bleistift und versuchte zu ordnen.

Am Dienstag, den 19.2.2013 musste sie irgendwo zwischen Leipzig und Hamm in den Zug Richtung Dortmund eingestiegen sein, irgendwann zwischen sechs Uhr und zehn Uhr siebenunddreißig. Aber wo und wann Irene tatsächlich den Zug bestiegen hatte, war nicht ermittelt worden. Kein Mensch in ihrer Umgebung schien auch nur die leiseste Ahnung zu haben, was sie in dem Zug wollte. Laut Fahrplan sollte der Zug acht Minuten vor elf Uhr in Hamm halten, wenige Minuten vorher hatte sich ein Rollstuhlfahrer darüber beschwert, dass die Tür zur Behindertentoilette versperrt sei, ohne dass das Besetztzeichen leuchtete. Einem Zugbegleiter, der gerade zugestiegen war, gelang es, die breite Tür zur Behindertentoilette aufzudrücken. Zunächst sah es so aus, als sei die junge Frau ohnmächtig zusammengebrochen und habe mit ihrem Körper die nach innen zu öffnende und nicht verschlossene Tür blockiert. Sofort wurde nach einem Arzt über den Lautsprecher im Zug und an den Bahnsteigen ausgerufen, gleichzeitig der Notruf betätigt. Der Zugbegleiter und ein junger Mann leisteten erste Hilfe, offenbar fachkundig und ohne Hektik, wie man später vernehmen konnte. Bereits sechs Minuten nach dem abgesetzten Notruf war der Notarzt im Zug und begann mit der Reanimation, die dann während des Transports auf einer Liege und schließlich im Rettungswagen fortgesetzt wurde, letztendlich ohne Erfolg. Das Bewusstsein hatte Irene nicht mehr wiedererlangt. Eine Fahrscheinkontrolle sei zwischen Erfurt und Gotha und eine weitere zwischen Kassel und Altenbeken erfolgt, die Sitzplätze der elf Waggons mit sechs Abteilwagen und fünf Großraumwagen seien zu diesem Zeitpunkt, wie der Zugbegleiter sich zu erinnern glaubte, ungefähr zur Hälfte besetzt gewesen. Das sei an einem normalen Werktag zu dieser Tageszeit meistens ähnlich. Ebenfalls glaubte er sich vage zu erinnern, dass die junge Frau in einem der hinteren Großraumwagen gesessen und ihm wortlos ein am Automaten gelöstes und ordnungsgemäß entwertetes Ticket hingehalten habe, ohne länger als unbedingt notwendig von ihrem Handy aufzusehen. Das sei definitiv bei der zweiten Kontrolle, folglich hinter Kassel, wahrscheinlich sogar hinter Warburg gewesen. Nein, die Toiletten würden normalerweise nicht kontrolliert, es sei denn, ein ungewöhnlich langes Rot ließe den Verdacht auf einen versteckten Schwarzfahrer aufkommen oder sonst jemanden, der zu Ordnung, Anstand oder Sitte gerufen werden müsse. Stojan stutzte, las den Satz noch einmal. War das etwa wörtliches Zitat eines Ermittlungsbeamten? In der Zweitberufung Spaßvogel? Oder hatten sich ein paar Zyniker ins Team geschlichen, die es sich nicht nehmen ließen, allzu trockene Berichte mit ihrer eigenen Note zu würzen? So etwas hatte ihm nie gefallen und er war fast erleichtert, dass er das Unterschriftenkürzel zu dieser Seite nicht zuordnen konnte. Jedenfalls war es keiner von seinen Leuten, die sich in den ersten Tagen nach Entdeckung der Leiche auf das direkte Umfeld der Toten konzentriert hatten.

Da auf dem Totenschein „unnatürliche Todesart“ angekreuzt worden war, landete Irene Altmann schließlich nachmittags auf dem Seziertisch des Instituts für Rechtsmedizin Dortmund. Als Todesursache wurde Ersticken durch Würgen mit Bruch von Zungenbein und Kehlkopf festgestellt. Der Angriff musste von hinten erfolgt sein, und zwar wahrscheinlich von einem Rechtshänder. Ebenfalls auffällig war ein erhöhter Insulinwert im Blut, der weitere und genauere Untersuchungen veranlasste. Man fand eine Einstichstelle im Bereich der linken Halsschlagader vermutlich durch eine Injektionsnadel, deren Kaliber deutlich größer war als üblich bei einer therapeutischen Insulinverabreichung. Eine Unterzuckerung war noch nicht eingetreten. Ob die Insulinkonzentration im Blut zum Tode hätte führen können, ließ sich nicht sicher nachweisen, wohl dass die Injektion noch zu Lebzeiten erfolgt sein musste, bei noch wenigstens für ein paar Sekunden funktionierendem Kreislauf. Ansonsten waren keine weiteren Auffälligkeiten zu Protokoll genommen worden.

Die Identifizierung war rasch gelungen, in ihrer linken hinteren Jeanstasche hatte sie eine EC-Karte ihrer Bank. Wie sich später im Laufe der Ermittlungen ergeben sollte, hätte sie zum Zeitpunkt ihres Todes über 720 Euro verfügen können.

Sobald sich absehen ließ, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelte, war eine Sonderkommission gebildet worden mit Teams aus der Kreispolizeibehörde des Hochsauerlandkreises und weiteren Teams aus der für den Fundort der Leiche zuständigen Polizeibehörde Hamm. Zeitweise bestand die Soko Irene aus 45 Mitarbeitern. Stojan hatte die Ermittlungen nur wenige Tage und mit einer gewaltigen Dosis an Schmerzmitteln leiten können, bis er notfallmäßig in der neurochirurgischen Klinik in Dortmund an einem Bandscheibenvorfall im unteren Lendenwirbelsäulenbereich operiert wurde. Dass er auch heute noch seine rechte Großzehe nicht mehr richtig anheben konnte, schoben die Ärzte auf die zulange hinausgezögerte Behandlung. „Seien Sie froh, dass Sie das Bein überhaupt noch bewegen können, Sie indolenter Dickschädel!", musste er sich danach noch mehrmals anhören. Immerhin ließ er sich dann doch auf eine stationäre Reha ein, sodass er insgesamt fast fünf Wochen ausfiel. Für Sonja, die ihn vertrat, war es die erste Mordermittlung in leitender Funktion, die unter diesen Umständen offiziell zuständige Leitung der Soko blieb beim Ersten Kommissariat Hamm. Auf Stojans Drängen hin wurde er während seiner Reha zwar gelegentlich häppchenweise mit E-Mails und SMS gefüttert, aber richtig beteiligt wurde er an den Ermittlungen nicht.

Als er schließlich wieder mitmachen konnte, war die Soko auf sein eigenes Team von fünf Leuten geschrumpft, der Fall Irene Altmann aus der Presse und damit dem öffentlichen Interesse verschwunden. Zugleich hatten sich andere Akten Platz auf den Schreibtischen gesucht und genommen, und wenn die Kollegen des Gewaltdezernats morgens die dringlich zu bearbeitenden Dateien auf ihren PCs aufriefen, mussten sie ziemlich lange hinunterscrollen, bis sie auf die Tote aus dem Zug stießen. Die lokalen und natürlich auch die für Sensationen allgemein und für sex and crime besonders zuständigen überregionalen Zeitungen hatten ihre Leserschaft zunächst täglich seitenlang mit Texten voller Ausrufe- und Fragezeichen bombardiert. Dazu kamen überraschend schlechte Fotos vom Opfer zu Lebzeiten, bessere vom Tatort, noch bessere vom Polizeisprecher.

Vielleicht hätte es mehr Hinweise aus der Bevölkerung gegeben, wenn dies umgekehrt gewesen wäre. Nun, die Texte wurden kleiner und schmuckloser und immer seltener, die Fotos wurden nicht besser, der Polizeisprecher tauchte als letzter nach drei Wochen noch einmal auf und bedankte sich für die Vielzahl der Hinweise und versprach, dass weiter mit Hochdruck in alle Richtungen ermittelt werde. Es gebe vielversprechende Spuren und man sei optimistisch, zeitnah eine Verhaftung durchführen zu können.

Auf den Tag elf Monate nach dem Tod der einzigen Tochter starben die Eltern Ernst und Agnes Altmann bei einem Verkehrsunfall. Sie waren mit ihrem fünfzehn Jahre alten Renault Clio gegen einen Autobahnbrückenpfeiler geprallt, Bremsspuren fand man nicht, Gurtspuren auch nicht, statt eines Abschiedsbriefs eine leere Flasche Wodka zwischen den Autotrümmern. Alkohol hatten die Eheleute laut einiger Aussagen in ihrem Umfeld - viele hatte man da nicht mehr befragt, warum auch? - selten und sehr gemäßigt getrunken. Es sah alles so aus, als hätten sie den Jahrestag des Mordes an ihrer Tochter nicht mehr abwarten können. Der Vater war schon lange nicht mehr im Schützenverein erschienen, hatte nicht mehr an der Tippgemeinschaft teilgenommen, die Mutter wegen Erkrankung kaum noch Pflegevertretungen angenommen. Bei Pepe hatten sie noch ein paar Mal ohne große Lust und Freude etwas bestellt und dann kaum angerührt. In der Hosentasche von Ernst Altmann fand man später die Quittung einer Gärtnerei über für drei Jahre im Voraus bezahlte Grabpflege für Irene Altmann, Familiengrab Nummer 702. Achthundert Euro hatte er dafür bezahlt.

Stojan erinnerte sich gut an die Artikel im Westfalenkurier, den er sich nach Bad Sassendorf hatte nachschicken lassen, und die ihn jetzt noch einmal, im Ordner chronologisch sortiert, ärgerten. Dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen unbekannt schloss, zwölf Monate und acht Tage nach dem Mord an Irene Altmann und einen Monat und acht Tage nach dem Unfalltod oder Selbstmord ihrer Eltern, fand nicht den Weg in die Nachrichten, Lokales oder Vermischtes aus aller Welt. Der Polizeisprecher hatte sich längst mit demselben Foto, aber in anderer Sache etabliert: Er bedankte sich bei der Bevölkerung für die zahlreich eingegangenen Hinweise auf den Feuerteufel, der für insgesamt sechzehn Scheunenbrände im Großraum Dortmund verantwortlich gemacht wurde, und aufgrund derer man mit einer baldigen Verhaftung des Täters rechnen könne. Auch daran erinnerte sich Stojan gut. Tatsächlich war der Feuerteufel drei Wochen später gefasst worden.

Er verbot sich weitere Abschweifungen. Wenn er irgendwo doch noch irgendetwas finden wollte, irgendeine Antwort auf eine der vielen Fragen, um den Fall noch einmal aufzurollen, eine Wiederaufnahme der Ermittlungen zu bewirken, um einen Mörder seiner Strafe zuzuführen, um einen besseren Schlaf in seinen Nächten zu finden, musste er nüchtern bleiben, bei den trockenen Fakten. Fantasie war erlaubt, sicher, sogar nötig, aber in kleinen Dosen.

Er klappte sein Tablet auf, um den Posteingang seiner E-Mails durchzusehen.

„Fido, wir sollen wieder zu einer der berüchtigten Familienfeiern in die Heide, diesmal aber nicht mehr das Parkcafé. Wie hieß der Kellner noch? Zlatko, richtig. Weißt du noch, wie viel das gekostet hat? Also für die Versicherung?“

Fido öffnete ein Auge, seufzte einmal tief, um dann wieder in ein leises gleichmäßiges, sehr gesund klingendes Schnarchen zu verfallen. Stojan erinnerte sich an diese zunächst recht langweilige Feier vor mittlerweile mehr als einem Jahr besser als ihm zuweilen lieb gewesen war. Langweilig war es dann auf einmal nicht mehr gewesen, das lag vor allen an den beiden Hauptdarstellern des zweiten und letzten Teils der Veranstaltung. Wenn man die Cousine zweiten Grades dazurechnen wollte, ja vielleicht auch seine Wenigkeit, kam man sogar auf vier Beteiligte. Gut, fünf, den Neffen oder Großneffen - wer das überhaupt war, wusste er bis heute nicht – wollte er mal mitzählen. Schließlich hatte dieser die ganze Szene geistesgegenwärtig mit Bild und Ton auf sein Smartphone gebannt und verewigt. Und wahrscheinlich verkauft, jedenfalls nahm er es schwer an, wenn es denn tatsächlich ein Mitglied der Großfamilie Stojan gewesen sein sollte.

Zlatko, nein Dragan hieß der Kellner, jetzt fiel es ihm wieder ein, junger Kerl, geschickt, wie er Flaschen und Gläser und Torten und Tassen auf seinen Tabletts balancierte und offenbar Spaß an seinem Beruf hatte. Er hatte das Bild noch genau vor Augen, wie Dragan mit einem Tortenstück auf dem Tablett neben einem reich dekorierten Cocktail zunächst zögerte, dann aber zielstrebig die entfernte Cousine ansteuerte. Er erinnerte sich gut, dass er sich etwas gewundert hatte, denn erstens hatte sie noch ein halbes Stück auf dem Teller und zweitens fand er, dass das eigentlich ausreichen sollte, um rein figurtechnisch noch im Rahmen zu bleiben. Da könnte sein Bruder mal ansetzen, hatte er noch gedacht, statt ihm die Kalorien vorzurechnen. Dann hatte er sich wieder an Fabian gewandt, seinen gerade ins erste Schuljahr gekommenen Enkel. „Guck mal, was Fido schon kann". Um sich selbst, dem Enkel und natürlich auch dem Hund ein bisschen die Langeweile zu vertreiben, hatte er begonnen, „Sitz!" und „Bleib!" zu trainieren. Das funktionierte schon sehr gut, einschließlich des Kommandos: „Zu mir!", worauf Fido sofort und ohne Umwege im Galopp zu seinem Herrchen zu rennen hatte. Wegen der sowieso schon etwas erschwerten Bedingungen im Saal des Parkcafés hatte Stojan einen ziemlich kurzen Parcours mit einer geraden Strecke von höchstens zehn Metern für Fidos Spurt abgesteckt und sich als einziges einigermaßen natürliches Hindernis den Rollator eines weiteren entfernten Verwandten, den er noch nie gesehen zu haben glaubte, ausgeliehen. Alles war also bestens gerichtet. Fido saß bereits mit zurückgelegten Ohren und wartete auf das Kommando seines Herrchens. Just in diesem Moment musste sich Bogdan, - hieß der ehemals jugoslawische Kellner nicht so? Stojan war jetzt nicht mehr ganz sicher -, sich eines Besseren besonnen haben, das heißt in diesem Fall eher eines Schlechteren. Jedenfalls vollzog er eine zackige Wendung und begab sich mitsamt seinem Tablett auf den Weg in Richtung des in der Tat wesentlich eher als das Cousinchen ausgehungert aussehenden Onkels Alfons. Gerade als Stojan den Rest des Films vor seinem geistigen Auge abspulen wollte einschließlich Lärm und Geschrei und Scherbenhaufen - nein, kein Blut, aber ein zweijähriger Boxer kennt nun mal keine Gefahr und keine Bosnier, Fido wurde auch nicht aus der Haftpflichtversicherung ausgeschlossen, die Gebühren lediglich etwas angepasst in Richtung Kampfhund - riss ihn der neue Klingelton seines Handys in die Realität zurück. Sonja rief zurück. Schon vormittags hatte er sie nach Leuten fragen wollen, die irgendwie Zeit mit Irene verbracht hatten, hatte aber bei einer Besprechung gestört, was Sonja ihm sehr kurz und sehr knapp mitgeteilt hatte.

"Da gab es noch die Pfarrerin, die war aber nicht lange im Amt. Unverheiratet und sehr sexy, wie man sagt, war auf dem besten Wege, die evangelische Kirche voll zu kriegen, angeblich sogar mit katholischen Männern. Also eine echte Bedrohung für Sitte und Anstand im Sauerland, stand von Anfang an unter argwöhnischer Beobachtung besonders der weiblichen Bevölkerung. Wiederholt wurde angeblich privater Herrenbesuch außerhalb der allgemein akzeptierten seelsorgerischen Geschäftszeiten zum Synodialamt gemeldet. Als sie schließlich zweimal in der Woche im Pfarrheim Feten von Jugendlichen organisieren ließ, zu denen Erwachsene keinen Zutritt hatten, hieß es, sie würde mit den Kids Joints rauchen und anschließend die völlig enthemmte Dorfjugend verführen. Sie konnte sich damals noch gut an das Mädchen erinnern, fand sie ein bisschen aufsässig, aber mehr Mitläuferin als Anstifterin, und wohl sehr auf Anerkennung aus. Jankowski hatte sie aufgesucht und ein bisschen befragt, das hat aber nur eine kleine Aktennotiz eingebracht. Besuch sie doch noch mal, du hast ja Zeit, die arbeitet jetzt aber für den Hochsauerlandkreis. Das Büro müsste in Meschede sein. Irgendwann hatte sie keine Chance mehr gesehen, sich gegen Lug und Intrige durchzusetzen, hat der Kirche den Rücken zugekehrt und ihren Abschluss als Sozialarbeiterin nachgeholt. Mit Mitte vierzig, alle Achtung. Warte, ich habe ihre Nummer damals notiert. Vielleicht hat sie ja noch ein Mosaiksteinchen für dich."

Stojan schrieb mit und schob den Zettel in seine Hosentasche. Konnte ja nicht schaden.

Dann zog er mehrere Blätter DinA4-Papier aus dem Schacht seines Druckers, nahm einen Bleistift und schrieb: Frage 1.

Stojan findet keine Ruhe

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