Читать книгу Stojan findet keine Ruhe - Norbert Möllers - Страница 8

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Sie war jetzt 43; der schräge Schnitt, den sie ihrer Frisur verpasst hatte, stand ihr gut, fand sie, sah aus wie gewollt, keck, flott, nicht wie hingezittert mit stumpfer Schere bei schlechtem Licht und nicht fahrig und trübe wie das Innenleben ihres Kopfes. Der Hals, ein paar Falten, auch nicht ganz gerade; der Pulli, etwas ausgeleiert, ein paar Pfund mehr auf den Rippen könnte er bequem beherbergen. Mehr von ihrem Körper zeigte ihr der Spiegel mit den fast blinden Ecken nicht. Der letzte Auftrag, mit dem sie wenigstens ein paar Wochen ganz gut über die Runden gekommen war, lag schon über ein Jahr zurück. Es fiel ihr zwar nicht schwer, sich einzuschränken: Möbel, Klamotten, Bücher sowieso, das konnte alles gebraucht sein, Lebensmittel vom Discounter, Auto und elektronischer Kram billig und eben so, dass es seinen Zweck erfüllte. Auch ihr Smartphone hatte keinen Kultstatus mehr, seitdem sie sich ihr letztes Edelgerät hatte klauen lassen. Es war besser so, sie hatte gerade alles gelöscht, altes Leben und altes Handy, ziemlich zugedröhnt von diesem Fläschchen. Das kleine No-Name-Handy tat' s auch, und mit solchen Dingen angeben brauchte sie auch nicht mehr. Schade, dass es kein kyrillisches Alphabet kannte. Aber ein bisschen Koks und Alkohol, um wenigstens zweimal die Woche etwas über dem Boden zu schweben, das brauchte sie. Und das gab's nicht umsonst, für sie nicht mehr. Die Schulden, die sich im Lauf der Zeit angehäuft hatten, wurden auch immer mehr und immer teurer. Sie war sich nicht zu schade für andere Arbeiten, aber das war alles so schrecklich mühsam. Das Modeversandhaus hatte ihr ziemlich deutlich gesagt, weitere Aufträge nur dann an sie vergeben zu können, wenn sie etwas an ihren Zähnen machen ließe. Dabei hätte man nur bei extremer Vergrößerung am Bildschirm sehen können, dass die oberen Schneidezähne etwas abbekommen hatten. Das blöde Modehaus hätte sich ja an den Zahnarztkosten beteiligen können, schließlich machten die Kohle ohne Ende mit ihren dämlichen Billigpullovern aus Viskose und schlechten Kunstfasern. Die sollte man erst mal unter die Lupe nehmen! Ihr lief jetzt noch ein Schauer über den Rücken, wenn sie daran dachte, wie unangenehm sich das auf der Haut anfühlte. Normalerweise wäre das schon ein Grund gewesen für finster verschlossene Lippen statt eines strahlenden, Zähne zeigenden Lächelns. Mittlerweile genügte allerdings schon halbwegs genaues Hinsehen, um zu merken, dass die Vergangenheit nicht spurlos an ihren Zähnen, ihrer Haut, ihren Haaren, ihrem ganzen Körper vorbeigerauscht war, das musste sie zugeben. Auch die einzig verbliebene Vierzig-Watt-Birne an ihrem Kosmetikspiegel reichte dafür. Hätte sie die anderen drei irgendwann durchgebrannten Birnen ersetzt, sie hätte auch den schmutzig-gelben Schimmer um das Blau in ihren Augen sehen können.

Es war gemein, je mehr zu flicken war, desto weniger konnte sie sich das leisten. „Das letzte Jahr hat dich ruiniert“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Das letzte Jahr war schlimmer als das vorletzte. Und das vorletzte war schlimmer als das davor. „Sorry, Onkel Igor, bin ein bisschen verrückt, verrutscht, abgerutscht, genau wie die Schere. Gut, dass ich mir nicht noch die Finger abgeschnitten habe!“ Die Kolleginnen von damals, was machten die? Mit gutem Grund gab es keine Kontakte mehr, alle verstreut auf der ganzen Welt. Die meisten ließen sich von irgendeinem Kerl aushalten, immer dieselbe Leier, irgendwo hatte sie es gehört, das wär ja das allerletzte für sie. Als Aushilfe im Café und ein bisschen nett sein zu den Leuten, stundenweise in einer Boutique und zeigen, dass man mal gut war, was gekonnt hatte, immer noch konnte. Das würde schon hinhauen, sie musste nur dranbleiben, etwas mehr Disziplin an den Tag legen. Dann war das mit Alf auch noch nicht vorbei, hatte er versprochen, sie erinnerte sich daran. Gut, dass sie wieder Tagebuch schrieb, wie früher, jetzt auf Deutsch, das tat ihr gut, das erleichterte sie. Sie hatte immer Angst, eine gute Idee zu vergessen. Davon hatte sie nämlich nicht so viele. Und so konnte sie die, die sie hatte, einfach ablegen, auf Wiedervorlage sozusagen, und all die Dinge, die immer so einen schlechten Geschmack verursachten, wenn man dran denkt, die konnte sie ja auch da ablegen, auf Niemehrwiedervorlage. Und wenn dann die Gedanken doch wiederkamen, nachts zum Beispiel, oder wenn das Telefon klingelte und sie nicht wusste, wessen Nummer das war, dann konnte sie sagen: „Schert euch zum Teufel, Gedanken, ich weiß nicht, worum es geht, fragt meine Memos.“ Sie war nicht mehr zuständig.

„Und dann wird das nächste Jahr wieder besser“, dachte sie, „ich durchschreite eine Sohle, ein Sohlental. Und dann wird die Funzel wieder aufgerüstet. Talsohle muss das heißen? Echt? Auch gut. Aber Funzel aufrüsten gefällt mir.“

Gut, dass sie nicht nur keinen Kerl, sondern auch kein Balg am Hals hatte, keinen Paul und keine Paula und wie die kleinen Nervenräuber alle hießen. Wieso war ihr Igor eingefallen? Hatte sie ihn Onkel genannt? Ach ja, wegen der Finger.

Aber sie hatte noch einen Piccolo, übriggeblieben, hinten im Küchenschrank. Ihre Hand prüfte die Temperatur. „Kälter muss der gar nicht sein“, dachte sie und zog das grüne Fläschchen hervor. „Der kommt gerade richtig.“ Ein Glas herauszuholen, lohnte sich nicht, nicht für den Schluck, den Abwasch könnte sie sich sparen, befand sie. Sie schraubte den kleinen Verschluss ab. Sie mochte dieses feine Klicken, wenn das Aluminium-Gewinde aufbrach, diesen kleinen Sieg, diese kleine Niederlage.

Stojan findet keine Ruhe

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