Читать книгу Stojan findet keine Ruhe - Norbert Möllers - Страница 9

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Samstag, 6.2.16

Kalt und grau hatte der nächste Tag begonnen. Dichter Nebel hing über den Fichten, geregnet hatte es auch etwas. Ein paar Schnee- und Eisflecken lagen noch auf dem Weg. Sie waren in der Nacht wieder gefährlich glatt geworden und flößten Stojan Respekt ein. Er achtete bei seinen Spaziergängen mit Fido zwar auf den Witterungsverhältnissen angepasstes Schuhwerk, allein schon, weil er immer mal mit einem plötzlichen Ausreißversuch des Hundes rechnen musste. Wenn also ein Reh meinte, den Weg kreuzen zu müssen, half nur schnelle Reaktion, festes Zupacken und eben Standsicherheit. Sonst hatte er keine Chance. Auch ohne Fidos Dazutun war er im sich langsam verabschiedenden Winter auf einsamem und unwegsamem Gelände öfter mal mit einem Fuß weggerutscht und hatte nur mit Glück einen Sturz vermeiden können. Gerade sein linkes Knie meldete sich in letzter Zeit öfter ungefragt mit unangenehmem Reiben und Ziehen und ließ ihn seine Strategie des konsequenten Ignorierens manchmal hinterfragen. Die verschiedensten Szenarien mit ihm selbst als hilfloser Hauptdarsteller wegen eines Wirbel- oder Beinbruchs war er schon durchgegangen, keines konnte ihm gefallen. Immerhin versuchte er seitdem daran zu denken, sein Handy mitzunehmen. Vorzugsweise aufgeladen. Und wen hätte er dann angerufen, vorausgesetzt, er wäre weder hilflose Person im Funkloch noch sonst körperlich oder geistig außerstande, ein paar Knöpfe zu drücken? Die Tochter? In Hamburg? Gut, die könnte den Notarzt bestellen, doch das hätte er dann auch selbst gekonnt. Seinen Bruder, fast genauso weit weg? Der ihm dann erst mal einen Vortrag gehalten hätte, er solle endlich mal etwas Sport treiben, nicht so viele gesättigte Fettsäuren zu sich nehmen, Alkohol und Gewicht reduzieren und ähnliche Dinge, die man im Notfall auch gerade brauchen konnte und gerne hörte und die noch nicht einmal gut gemeint waren. Nein, Andreas konnte ihm gestohlen bleiben, fast siebzig, aber immer noch der große Bruder, mischt immer noch in seiner alten Hausarztpraxis in der Nähe von Buxtehude mit, obwohl er längst einen Nachfolger hat. Kann einfach nicht loslassen, redet sich ein, er werde noch gebraucht. Sei unverzichtbar. Okay, so richtig losgelassen hatte der kleine Bruder Peter ja, strenggenommen, auch noch nicht. Und seinen Blutdruck könnte er mal wieder messen, der kleine Bruder, kann nicht schaden.

Dann der halbtaube frühpensionierte Hauptfeldwebel, der mit seiner immer seltsamer werdenden Schwester als einziger Nachbar weit und breit in dem heruntergekommenen Fachwerkhaus mit dem merkwürdigen Antennenwald auf dem Dach wohnte? Der ging sowieso nie ans Telefon und schien wie seine Schwester auch intellektuell und logistisch damit überfordert, galt es, irgendjemanden am Verrecken zu hindern. War sich Stojan jedenfalls ziemlich sicher, unbeschadet dessen anzunehmender militärischen Ausbildung. Außerdem hassten sie Fido und unterstellten ihm wiederholt Grenzverletzungen bei der Erledigung wichtiger Geschäfte. Angeblich machten sie jetzt in Seher und Heiler mit eigener Homepage, alles sehr merkwürdig. Dass die beiden ein inzestuöses Verhältnis pflegten, hatte Stojan aber unter böswilliges Geschwätz eingeordnet und sich jedwede Beteiligung daran konsequent verkniffen. Größeren Wahrheitsgehalt wollte er dann schon anderen Gerüchten zubilligen, etwa dass Madame Goro, wie des Unteroffiziers Schwester jetzt zumindest auf dem Holzpfeil an der Auffahrt zu ihrem Schuppen hieß, die vor einem halben Jahr im Dorf vermissten und erst auf ihren Tipp hin wiedergefundenen Kühe selbst versteckt hatte. Das interessierte Stojan ähnlich wenig wie die Homepage.

Von seinen Schachfreunden fiel ihm auf Anhieb auch keiner mit hervorragender Qualifikation in Berg- und Katastrophenrettung ein. Sonja? Klar, die wüsste natürlich, was zu tun ist. Oder besser noch Jankowski, der packte zu, auch wenn er nicht immer wusste, was er tat und vor allem, warum. Und für jede Lebenslage noch einen mal mehr mal weniger passenden Zweizeiler parat hatte, einen kleinen Kalenderspruch, eine Bauernregel; doch, es gab Leute, die mochten so etwas. Ob er sich selbst dazu zählen sollte, zumal außer Gefecht in einer ziemlich extremen Situation, naja, da kamen ihm Zweifel. Aber Jankowskis direkte Art hatte er immer geschätzt und ihn um manch einen schrägen Kommentar oder eine schlagfertige Antwort beneidet. Auch wenn der manchmal geradezu auf Stichwortgeber wartete. „Wo hast du denn den blauen Fleck her?“, durfte man Jankowski beispielsweise nicht fragen, es sei denn, man hatte nichts zu tun und Lust auf Geschichten.

„Sei froh, dass ich überhaupt noch lebe!", so könnte dann der Einstieg in die folgende Story gehen, oder besser „Seid froh!“, und deutlich lauter als für nur ein Paar Ohren notwendig, so dass alle anderen im Raum und bei offenen Türen auch nebenan zum Zuhören oder Lauschen eingeladen waren. Und das musste man ihm lassen, erzählen konnte er. Banale Erlebnisse oder Nachrichten wurden gewürzt, vermengt, ausgerollt und breitgewalzt, bis große Dramen entstanden, die dann auch noch spannend und witzig vorgetragen wurden. Dass der Wahrheitsgehalt dieser Storys nicht immer jeder Überprüfung standhalten konnte, tat ihnen keinen Abbruch. Dafür und dass so jemand den oft grauen und ernüchternden Arbeitsalltag mit etwas Farbe und Ablenkung ausstattete, wurde er in der Abteilung nahezu geliebt. „Einer muss ja zuständig sein für Jubel, Trubel, Heiserkeit“, hatte Sonja gesagt, ohne Neid auf diese Rolle. Das klang dann eher froh, dass sie sich nicht auch noch darum kümmern musste.

Zwar gab es auch Kollegen, die ihn für etwas einfältig hielten, wenn er manchmal noch etwas stutzte, während bei anderen offensichtlich der Groschen schon gefallen war, aber das konnte auch gespielt sein. Gelegentlich war er Stojan mit seiner fast fanatischen Schnäppchenjagd auf den Geist gegangen. Auf jeden Fall war er glänzend vernetzt, allein schon durch seine regen Vereinstätigkeiten. Gegenüber Jankowskis potenziellen Informationsquellen stand Stojan mit den paar Leuten, die ihm einen Gefallen schuldeten, da wie ein Waisenknabe. Trotzdem: Zusammen mit Sonja waren sie schon ein gutes Team gewesen. Dass auf der Rückseite der geschenkten Visitenkarten groß Kommissar aRuB stand und klein darunter: außer Rand und Band, war natürlich auch Jankowskis Idee gewesen. Stojan wollte auf jeden Fall mal seine Mobilnummer einspeisen. Wie hieß er bloß noch mit Vornamen? Richtig, Marek. Für ihn war er immer nur Jankowski gewesen und das war auch überall so akzeptiert worden. Von anderen hatte er es auch nicht anders gehört.

Tasso fiel ihm noch ein, ja, Tasso würde ihm helfen, der war patent, praktisch veranlagt, lange schon das, was Stojan als Freund empfand. „Hey, weißt du, dass wir die gesündeste Küche in der Welt betreiben? Komm öfter zum Essen und du brauchst keinen Arzt mehr! Und keinen großen Bruder!“, hatte er ihm neulich erst zusammen mit einem Klaps auf die Rippen mit auf den Weg gegeben. Ja, gut, dass Tasso da war, sehr gut. Da und nah.

Und halt, Marek hieß er gar nicht, Jankowski hieß Marik, wusste er doch, irgendwie ungewöhnlicher Name. Jetzt basta mit den Schreckensszenarien.

Wenn er noch auf die Idee verfallen wäre, den Kontaktspeicher seines Smartphones zu befragen, um noch weitere Kandidaten für die Rettung aus seiner imaginären Notlage ausfindig zu machen, hätte er sich rasch die Sinnlosigkeit solcher Gedankenspiele eingestehen müssen, auch, weil sich der große Teil der restlichen Nummern wegen einer im Laufe der Zeit immer obskurer gewordenen Verschlüsselung mit Kürzeln oder Pseudonymen nicht mehr richtig zuordnen lassen würde. Das war schlicht dem Status ihrer früheren Besitzer geschuldet, ehemalige V-Männer und Informanten aus den verschiedensten Milieus, die sich nach aller Erfahrung nicht lange unter ein und derselben Nummer erreichen ließen. Und die Milieus waren Rotlicht, Mafia, Drogen, Waffen. Auch Sozialarbeit kam vor, aber sicher nicht Feuerwehr, Sanitäter, Ambulanz. Mangels Pflege, dafür hatte Stojan nie Zeit aufgebracht, war es um die Aktualität der Daten sowieso nicht zum Besten bestellt. Und die kleinen Kärtchen, die so enorm viele Dinge einfach schluckten, keine Namen und keine Vornamen vergaßen, die fragten nicht erst, die übernahmen einfach vom alten aufs neue Handy. Uwe stand auch noch drin, hätte er festgestellt, unter U, einer der wenigen, der nur mit Vornamen dastand. Und Jens, klar, den hatte er auch noch nicht gelöscht, warum auch, Stojans Telefonkontakte würden niemals auch kleinster Karten Speicherkapazität in Verlegenheit bringen. Wie lange war das jetzt her mit Jens? Auf dessen Beerdigung hatte Stojan seine letzte Zigarette geraucht, noch am offenen Grab, zum Missfallen der übrigen Trauergemeinde. Nur Erika, mit der er sich so oft gestritten hatte wegen ihrer kleinen und mittleren Gemeinheiten, die sie sich dem schon Schwerkranken gegenüber nicht verkneifen konnte, hatte die Geste verstanden. Die nächste Festnetznummer hatte auch nur noch nostalgisch-historischen Wert: „Birgit und Peter Stojan sind im Moment nicht zuhause. Wer will, kann eine Nachricht hinterlassen.“ Weder damals noch heute hätte er das gewollt. Selbst wenn sie noch funktioniert hätte, selbst wenn Birgit inzwischen ihren Selbstfindungsprozess beendet hätte und zuhause angelangt wäre, auch dann nicht. Weder beim Selbstfinden noch beim zuhause Anlangen wollte er noch einmal gestört haben.

Vordergründig wäre das ganze Unterfangen Lebensrettung via Handy aber sowieso zum Scheitern verurteilt gewesen, hätte er doch feststellen müssen, dass sich das entsprechende Gerät weder in der rechten noch in der linken Hosentasche, nicht in seiner Weste, nicht in seinem Anorak mit den vielen Taschen und auch sonst nirgendwo in der Nähe befand, sondern vielleicht im Auto oder zuhause auf dem Nachttisch oder sonst wo. Und anrufen, wen auch immer, also ausfiel. Mangels Hardware.

„Hey, Fido, solange ich dich habe, kann mir doch nichts passieren, du passt doch auf mich auf. Auf dich kann ich mich verlassen, da brauch' ich keine Menschen mehr, oder?“ Gerade in diesem Moment hatte Fido allerdings keine Zeit, weil er intensiv und mit dem halben Kopf in einer angetauten Schlammpfütze Umweltforschung betreiben musste.

Dass sein Handy zuhause auf Fidos Schlafdecke lag, stellte Stojan erst nachmittags fest, dass der Akku leer war und das Ladegerät mal wieder unterwegs, auch. Und da er gerade dabei war, Ordnung zu schaffen, fiel ihm noch ein, dass Marik nicht Marik hieß, sondern Maris, jetzt hatte er ´s. Ungewöhnlicher Name, wusste er doch. War ja noch prima, das Gedächtnis. Geradezu phänomenal, wenn man die anderen so hörte! Zur Belohnung verordnete er sich ein bisschen Sofa.

Er hatte in der letzten Nacht wenig und schlecht geschlafen, zunächst sich noch ein paar Notizen machen wollen, wie er die Gasthausszene in seinem Kinderroman, der bisher nur aus einer Sammlung loser Ideenfäden bestand, unterbringen könnte, ohne den erhobenen Zeigefinger allzu penetrant zu zeigen. Aber dann drehten sich seine Gedanken immer wieder um den Tattoostecher. Es ärgerte ihn, dass er ihn nicht einfach irgendwo abholen lassen konnte wie früher alle die, die nicht freiwillig erschienen, Termine vergaßen, keine Lust, keine Zeit oder ein schlechtes Gewissen hatten oder möglicherweise Dreck am Stecken, den sie nicht gerne zeigen wollten.

Stojan findet keine Ruhe

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