Читать книгу Stojan findet keine Ruhe - Norbert Möllers - Страница 6

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Samstag, 30.1.16

Stojan hatte wieder eine Spur. Beim Stöbern gefunden. Nicht gesucht. Bestimmt nicht. Höchstens ein bisschen. Denn etwas in ihm war immer auf der Suche, nachts im Halbschlaf, tags beim Dösen oder während der Spaziergänge mit Fido, seinem Hund. Er las etwas und plötzlich hatte er eine Assoziation. Oder er rührte sich gerade etwas zusammen, eine Vinaigrette oder Hollandaise, und seine Gedanken wurden mitgerührt, wurden losgelassen, gingen auf die Reise, schlugen irgendwo an. Dabei ging schon mal etwas verloren, Pfeffer oder Kräuter in der Sauce, der rote Faden im Roman. Egal, da war er Fido ähnlich: Wenn sein Boxerrüde eine Spur verfolgte, wurde auch gerne ein Kommando ignoriert.

Drei Fälle gab es, die ihn quälen konnten, ihn, der eigentlich seit fast zwei Jahren pensioniert war, außer Dienst, Kriminalhauptkommissar aD, wie es auf der Vorderseite der Visitenkarten stand, die ihm die Kollegen zum Abschied hatten drucken lassen. Diese Fälle konnten ihn quälen wie sich nie richtig schließende Wunden, die vielleicht mal etwas verschorft und überhäutet sind, aber nie so verheilt, dass der Arzt gesagt hätte: Jetzt brauchen Sie nicht mehr zu kommen, die Behandlung ist beendet.

Es hatte auch längere Phasen in den letzten zwei Jahren gegeben, in denen er ganz entspannt war, keinen Kontakt zu seinem alten Team oder den alten Fällen suchte. Phasen, in denen er dicke Bücher las oder sein neues Digitalklavier mit kleinen Melodien nach uralten Noten, die er im Regal gefunden hatte, fütterte. Das war ihm dann wichtiger als wer wo seine DNA nicht hatte bei sich lassen können, wer warum gelogen hatte oder wessen Alibi plötzlich geplatzt war. Gerne erinnerte er sich an den Sprach- und Kochkurs in einer alten Villa in der Toskana, den er sich bald nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst gegönnt hatte, auch an die nette frisch und anscheinend glücklich geschiedene Lehrerin aus Lübeck. Wie hieß sie nochmal gerade, irgendetwas mit S, Sabine? Stefanie? Eigentlich schade, dass sie sich damals nicht nähergekommen waren; vielleicht könnte er einfach mal Signale aussenden? Ach ja, Jessica hieß sie. Sogar zwei S.

Ein bisschen Langeweile bei eisiger Kälte im Hochsauerland, ein bisschen Nostalgie und, wie immer, ein bisschen Hoffnung, längst gewesene Zeit etwas umschreiben zu können, um damit eine der alten Wunden zu befrieden, hatten dazu geführt, dass er sich eines Samstagnachmittags mal wieder ins interne Polizeinetz eingeschmuggelt hatte, um durch ältere und frischere Nachrichten aus der Region zu surfen. Zwei Wochen war das jetzt her, seitdem versuchte er, seine Gedanken zu ordnen.

Legal war das nicht, dieses unbefugte Eindringen, das war ihm ziemlich klar und ziemlich egal gewesen. Doch wenn Sonja jetzt Ärger oder ernste Probleme mit der Dienststelle bekäme, wollte er das nicht so gerne verantworten.

Sonja war seine ehemalige Assistentin, die seine letzten acht Berufsjahre relativ angenehm gestaltet hatte, nicht nur wegen ihrer raschen Auffassung von Wesentlichem und Zusammenhängen, wegen ihrer Verlässlichkeit und Loyalität, sondern auch wegen ihrer ganzen Art, herzlich, freundlich, witzig, manchmal etwas frech, manchmal reichlich burschikos. Gelegentlich etwas weiblicher, hin und wieder mal chic angezogen, und natürlich nicht so ein grässlicher Musikgeschmack, mit dem sie seine Ohren regelmäßig quälte, wenn sie ihn in ihrem Wagen mitgenommen hatte nach Hagen oder Dortmund, ja, dann wäre sie sicher öfter in seinen Träumen aufgetaucht. Es war ihm schon lieber gewesen, wenn sie die aktuellen Bundesligaspiele kommentierte. Da konnte er zwar auch nicht richtig mitreden, aber sie tat das auf eine so herzerfrischend leidenschaftliche und witzige Art, dass Stojan sich bestens informiert und unterhalten fühlte. Dazu kam meistens noch ein bisschen aufgeschäumte, auf nette Art kokette Wut auf angebliche Fehlentscheidungen der Schiedsrichter und auf unglaubliches Pech mit Pfosten und Latte bei ihren Lieblingsvereinen. Da ihr Herz sowieso grundsätzlich für Underdogs und Außenseiter schlug, war entsprechend oft Ärger über verlorene Spiele Antrieb und Gewürz ihres Redens und Plapperns bis hin zur Unflätigkeit, sehr zum Amüsement ihres Zuhörers. „Mann, Chef, das hättest sogar du gemerkt, der Schiri war so blind, echt. Und das schönste: Der ist im richtigen Leben Zahnarzt. Ist das zu fassen? Ein blinder Zahnarzt, kannst du dir das vorstellen, würdest du zu einem blinden Zahnarzt gehen? Sag schon, Chef! Dir von dem einen Zahn ziehen lassen? Also. Ich habe nichts gegen Blinde, können die meisten ja nichts zu, aber blinde Zahnärzte, blinde Schiris, nee, Mann. Und blinde Autofahrer: Guck mal da vorne, der Cayenne, wenn Blinde auch noch Auto fahren, das ist ja fast so eine Katastrophe wie wenn sie Spiele pfeifen, bei denen es um etwas geht. Schert der einfach so ein, denkt in so ´nem Schlitten passiert einem schon nichts! Vielleicht ist das sogar unser Schiri-Zahnarzt!“

Stojan hatte sich sogar zur Gewohnheit gemacht, montags mal kurz die Ergebnisse der Aufsteiger anzusehen, um je nach Bedarf und Lust und Laune öfter ein bisschen Öl ins Feuer gießen oder, seltener, Wogen glätten zu können, wenn Dienstfahrten ins Ruhrgebiet anstanden.

Mit Sonja gab es immer wieder mal etwas auszutauschen, auch weil sie, seit ihrer Scheidung freiwillig und gerne Single, nicht wusste, wo oder bei wem sonst sie meist beruflich angestauten Ärger am besten abladen konnte. Wie bei einer nicht ganz so ordentlichen Mülltrennung gesellte sich manchmal ein bisschen privater Stress dazu, etwa mit dem trotz seiner mittlerweile zwanzig Jahre offenbar immer noch pubertierenden Junior oder mit dem einen oder anderen etwas verschämt eingestandenen Wochenendlover, der seine Rolle nicht richtig verstanden hatte und lästig wurde. Richtig war zum Beispiel: Tschüss, und nee, nicht telefonieren! Wenn sie ihn wie früher mit „Chef“ ansprach, wusste Stojan, welche Richtung das Gespräch nahm, und er war eitel genug, sich das gute Gefühl gefallen zu lassen, von der klugen und doch in ihren Entscheidungen nicht immer klaren Frau gebraucht zu werden. Damit man tatsächlich von einem Austausch sprechen konnte, brachte sie ihm dann ein paar abgelegte Akten mit, die er, wie er es nannte, „gerne nochmal überfliegen“ wolle. Insidern wäre aufgefallen, dass es sich dabei nur um solche Fälle handelte, die gar nicht oder nur unbefriedigend und mit offenen Fragen, „mit Gewalt“, hatte er früher dann gesagt, gelöst worden waren, so als hätte man die beiden letzten Schrauben, die nicht ganz richtig passten, an denen Drehkraft und Schraubenzieher verzweifelt waren, schließlich mit dem Hammer ins fast aufgebaute Möbel geschlagen, um sich wenigstens kurzfristig der Illusion eines stabilen Schranks hinzugeben. Fido mochte Sonja genauso wie sein Herrchen, auch weil an deren Treffen oft ein Spaziergang angehängt wurde, manchmal noch ein Kaffee bei ihm in seiner Datsche, wie er seinen Bungalow am Waldrand gerne und ironisch verniedlichte. Ganz selten wurde es dann auch mal ein ganzer Abend, und zweimal war es am Ende sogar eine ganze Nacht, in der genug Rotwein im Spiel war, um einen noch führerschein-verträglichen Abschied zu verhindern, aber nicht genug, um den platonischen Status ihrer Beziehung zu gefährden. Und weil beiden dieser Status unausgesprochen wertvoll war, dem väterlichen Freund und der verlässlichen Kumpanin, jonglierten sie seit seinem Ausscheiden aus dem Team virtuos mit der Anrede, wechselten zwischen Vor- und Nachnamen und hatten ihren Spaß daran und ein gutes Gefühl dabei, den anderen mal fest an sich zu drücken.

Auch diesmal hatte sie übers Wochenende ihren USB- Stick bei Stojan gelassen, mit dem sie sich und zwar, das hatte sie hoch und heilig unterschreiben müssen, nur sich selbst und sonst niemanden ins interne Netzwerk der Kripo einloggen durfte mitsamt Zugangscode und persönlichen Kennwörtern. Nicht dass ihn jetzt ein richtig schlechtes Gewissen lähmen würde, aber doch zehrte ein latent ungutes Gefühl an ihm, das er erst überwinden musste, bevor er noch einmal in den nicht offiziellen Polizeinachrichten stöberte. Ohne Spuren zu hinterlassen, hoffte er, weshalb er sich auch mit diesen Aktionen aufs Wochenende beschränken wollte. Er wusste nicht, wonach er suchen sollte, es gab kein Register, kein Inhaltsverzeichnis, das sortierte, ungeklärte Todesfälle von solchen durch Gift oder äußere Gewalteinwirkung unterschied oder Opfer mit auffälligen Tätowierungen auseinanderhielt. Nirgendwo hatte er sich lange aufgehalten, am längsten noch bei ungenauen und offenbar nicht weiter untersuchten Vorfällen in Westfalen und Nordhessen. Dahin hatte er seinen Fokus ausgerichtet, denn immerhin lagen dort die sieben letzten Haltestellen des Zugs, in dem man die Leiche der Irene Altmann kurz vor elf Uhr in Hamm gefunden hatte. Gut, sie hätte auch schon in Leipzig eingestiegen sein können, in Weimar oder Erfurt, wie ihn ein Blick in den Fahrplan der Deutschen Bundesbahn lehrte, aber zunächst erschien ihm das unwahrscheinlich. Irene Altmann war eine seiner offenen Wunden.

Ein Verkehrsunfall mit einem tödlich verletzten Fahrradfahrer und Fahrerflucht in Habichtswald interessierte ihn nicht, ein Totschlagsverdacht gegen den Ehemann einer krebskranken Frau in Korbach, der für sich Tötung auf Verlangen reklamieren wollte, ebenfalls nicht, eine Serie von KFZ-Diebstählen im Paderborner Umland, ein Einbruch in eine Modeboutique in Lohfelden, bei dem offenbar keine Beute gemacht wurde: Das alles rauschte an Augen und Kopf vorbei, ohne allzu viel Speicherkapazität in seinem Gehirn zu belegen. Hin und wieder hatte er sich ein paar Namen, Aktenzeichen oder Webseiten notiert, um sich später darum zu kümmern, ohne möglicherweise Sonja oder andere zu kompromittieren. Das konnte warten, das hatte ihn alles lange nicht so angesprungen wie eine andere Meldung, auf die er vor zwei Wochen mehr oder weniger zufällig gestoßen war und die sich seitdem in seinem Hirn festgebrannt hatte. Und mittlerweile da eine Menge Raum forderte und die er sich deshalb jetzt noch einmal ganz genau angucken wollte. Unter der Rubrik "Mögliche Straftaten" stand am Donnerstag, dem 17. 12.2015 folgende Notiz:

„Am 14.12. 2015 meldete sich auf dem Polizeirevier in Bad Zwesten im Schwalm-Eder-Kreis der nigerianische Staatsbürger Opako K. und gab zu Protokoll, er habe in einer Gaststätte in der Altstadt einem ihm unbekannten Mann ein gebrauchtes Handy abgekauft. In einem Mix aus Deutsch und Englisch hatte der Mann mit ihm gesprochen. Auf der sich noch im Gerät befindlichen Speicherkarte habe sich eine Art Tagebuch befunden, das ihm ein Kollege im Wohnheim übersetzt habe, da er nicht alles habe verstehen können. Der Mann habe auch nicht alles verstanden, ihm aber geraten, damit zur Polizei zu gehen, weil es sich nach dem Geständnis einer Straftat angehört habe und er, K., unter Beobachtung der Behörden stehe. Speziell handele es sich wohl um die Ankündigung oder Planung oder Durchführung oder Geständnis eines Tötungsdelikts. Die Speicherkarte wurde gesichert. Es ist zu bemerken, dass der Opako K. bereits im Vorjahr versucht habe, eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis in Deutschland zu erschleichen durch eine angeblich notwendige Operation, die nur in Deutschland erfolgreich durchgeführt werden könne. Zurzeit werde zum wiederholten Male geprüft, ob bei einer Rückführung ins Heimatland Foltergefährdung bestehe.“

Aus dreierlei Gründen hatte sich Peter Stojan über diese Notiz aufgeregt: Erstens das in seinen Augen miserable Beamtendeutsch –„Beamtenanwärterdeutsch", korrigierte er laut für Fido, der kurz ein Auge und ein Ohr für sein Herrchen öffnete, um dann, leicht seufzend und offenbar der gleichen Meinung, weiterzuschlafen. Auch grammatikalisch klang das nicht ganz sauber, fand Stojan, investierte da nun aber keine Zeit für eine intensive Prüfung. Zweitens die kaum verhohlene Abqualifizierung einer Aussage nur aufgrund des Status des Zeugen, hier der des Asyl suchenden Migranten. Stojan hatte im Gespür, dass der Beamte nur mit Mühe - oder vielleicht fremder Hilfe, wer weiß? – einen Hinweis auf die Hautfarbe vermieden hatte. Drittens stand nirgends, ob man dem Verdacht nachgegangen war und ermittelt hatte. Auch ob die Speicherkarte als Asservat gewertet und dann der Staatsanwaltschaft zugeleitet wurde, ging nicht aus den Aufzeichnungen hervor. Gesichert konnte auch abgenommen und vernichtet heißen. Stojan seufzte, fuhr sich mit der Rechten durch die Haare und lehnte sich dann einen Moment zurück. Jetzt war er ungeduldig. Die Meldung konnte tatsächlich zum Namen auf einem der Ordner auf seinem Schreibtisch passen: Altmann, Irene. So stand es da in großen Druckbuchstaben geschrieben.

Aber einfach und vor allen Dingen schnell kam er an diese Speicherkarte nicht dran. Wenn überhaupt. Auch oder gerade ein pensionierter Kriminalbeamter musste sich hier an den Dienstweg halten.

Und Dienstweg hieß Formulare, Stempel, Geduld und Zeit. Stojan hatte davon nur noch letzteres. Mal eben anrufen und die Kollegen strammstehen lassen, ihnen Bescheid sagen, sie hätten gefälligst mal, wahlweise ob sie eventuell bereit wären, freundlicherweise bitte sehr irgendwelche Daten online rüberzuschicken: Dass das so kaum funktionierte, war ihm klar.

Also Sonja. Sonja hatte auch nicht immer Zeit, ja, sah er ein, klar, tat er, natürlich. Und selbst hinzufahren, wäre zwecklos, er hatte seit zwei Jahren keinerlei Befugnisse mehr. Zuständig musste Kassel sein. Er könnte telefonisch ein bisschen recherchieren, wenigstens eine Dienststelle, eine Asservatenkammer. Erstmal an die frische Luft. Und dann zu Tasso. Da war er verabredet. Am Donnerstag. Nicht heute. Heute würde er ein Bier trinken. Auf die Spur. Prosit!

Stojan findet keine Ruhe

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