Читать книгу Stojan findet keine Ruhe - Norbert Möllers - Страница 14

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Dienstag, 16.2.16

Sonja hatte dann doch spontan zugesagt, als er sie auf dem Weg zu Tasso anrief, und sie hatten einen netten Abend mit der Lammkeule verbracht, ein bisschen über sich gefrotzelt und gegen Kollegen gestichelt, die Stojan noch kannte. Und den neuen Dienststellenleiter, den Stojan nicht kannte. Klar, dass auch der Fall Altmann Thema wurde.

„Sonja, liebe Sonja, ich will dich überhaupt nicht vereinnahmen, aber trotzdem bin ich auf deine Hilfe angewiesen. Es gibt da vielleicht ein dickes Mosaiksteinchen, aber ich komme nicht dran, habe es schon versucht. Wolltest du nicht unbedingt mal nach Kassel? Vielleicht zur documenta? Oder zum Einkaufen? Oder Fußballspiel?“

„Nu sag schon, was ich da soll. Documenta ist dieses Jahr nicht, Kasselaner Fußball findet bestenfalls in irgendeiner Hessenliga vor hundertfünfzig Zuschauern statt, und seit wann interessieren dich meine Einkäufe? Demnach: Wenn ich für dich etwas da erledigen soll, muss ich da schon extra hinfahren, das geht moralisch voll auf deine Kosten, und ob du das jemals wiedergutmachen kannst, ich weiß nicht, das ist nicht so um die Ecke. Und hör mir auf mit Landschaftserlebnis oder das Auto mal endlich wieder bewegen, Batterie aufladen und so weiter! Versuchs doch einfach so: Sonja, meinetwegen auch liebe Sonja, es ist doch auch dein Fall gewesen, du kannst doch auch nicht gut damit umgehen, dass der Fall nicht geklärt wurde, wahrscheinlich immer noch ein Mörder frei herumläuft, weil wir irgendetwas übersehen haben. Los sag schon, was soll ich in Kassel?“

Das war vor fast einer Woche gewesen. Und jetzt würde sie ihren freien Freitagvormittag opfern, nicht nur für ihn, sondern für sie beide, für die Gerechtigkeit, für das Gute im Kampf gegen das Böse. Da konnte doch kein Opfer zu groß sein. Waren sich beide einig geworden. Und Stojan wartete ungeduldig.

War Irene wirklich ein unbeschriebenes Blatt? Viele Leute, die auf dieses Blatt etwas draufschreiben konnten oder wollten, hatten sie nicht gefunden. Oder nicht gesucht? Er nahm sich als nächstes die Aussage des Augenarztes vor, bei dem Irenes gearbeitet hatte. Stojan hatte sie selbst damals noch aufgenommen, konnte sich in Bruchstücken erinnern. Der Arzt war ein paarmal aus dem kleinen Sprechzimmer herausgelaufen, weil eine Mitarbeiterin nach ihm gerufen hatte, ja, er erinnerte sich wieder, eine Patientin wollte nicht einsehen, dass eine angebliche notwendige Untersuchung nicht von ihrer Krankenkasse bezahlt werde, und hatte sich lauthals beschwert.

Stojans Protokoll war von wem auch immer in Maschinenschrift übertragen worden, aber offenbar nicht mehr von ihm selbst abgezeichnet worden. Am liebsten würde er jetzt noch in den Text eingreifen und Kommasetzung, Abkürzungen und Stil korrigieren, aber das ging ja wohl nicht. Offiziell hatte er die Akte ja nicht einmal in der Hand. Mithin musste er auch darüber hinwegsehen.

„Im ersten Lj. sei sie richtig lieb und aufmerksam, und lernwillig gewesen, besonders technisch von sehr schneller Auffassungsgabe. Gerne hätte sie Sehtests gemacht, später auch Augendruckmessungen. In der Kommunikation mit Pat. und am Tel, sei sie allerdings bis zuletzt eine einzige Katastrophe gewesen. Das sei aber Organisationssache gewesen, die beiden ausgebildeten Vollzeitkräfte hätten auch Defizite im Leistungsspektrum, wären aber sehr beliebt bei den Pat., und das wäre für das Funktionieren einer Praxis von unschätzbarem Wert. Iota sei etwas schwer von Kapee aber sehr freundlich und gewissenhaft. Yvonne, die eigentliche Erstkraft machte ihm die ganze Verwaltung und Post und schrieb Rechnungen aber im logischen Denken wäre Irene trotz ihrer Jugend 1 Klasse besser gewesen, mindestens. Einen charakterlichen Entwicklungsknick, vielleicht könne man das so nennen, hätte er gegen Ende des zweiten Ausbildungsjahres, oder etwas später bemerkt. Sie hätte sich keine besondere Mühe mehr gegeben, sei fahrig und unkonzentriert gewesen und hätte sich häufig au. schreiben lassen, merkwürdigerweise immer von unterschiedlichen Allgemeinärzten auch aus weiter entfernten Orten, auch von Gynäkologen und Orthopäden. Mit den Kolleginnen, die sie anfangs noch ziemlich gefördert hatten, gab es jetzt öfters Streit um liegengebliebene Arbeiten, unsaubere Geräte, überhaupt sei der Ton unter seinen Mitarbeiterinnen ruppiger geworden. Zu dem Zeitpunkt sei ihm klar geworden, dass weder bei ihr noch bei ihm selbst Interesse an einer Anstellung nach der Ausbildung bestehen konnte.“

Die Atmosphäre in der Praxis hatte Stojan angespannt gefunden, er entsann sich. Kein großes Wunder, wenn jemand eine Woche vorher plötzlich und gewaltsam aus dem Team gerissen worden war. Alles war ungeordnet, Stojan war froh gewesen, als er wieder draußen war, auch weil er nicht mehr sitzen konnte, die Schmerzen im Bein waren kaum noch erträglich gewesen.

„Telefonische Nachfrage Augenarzt Dr. Markus Weniger, 6.6.13“ stand darunter, dann Sonjas Kürzel.

„Klärung zum Madeira-Urlaub:

Irene habe um Urlaub gebeten, weil sie eine Reise gewonnen habe, er habe nicht nachgefragt, sie habe sehr freundlich gefragt, zuletzt einen besseren Eindruck hinterlassen, auch wieder natürliche Haarfarben getragen, sei nicht mehr so flippig gewesen wie noch zuvor. Der Urlaub habe ihr auch zugestanden, die Kolleginnen hätten sich immer abgesprochen, so dass der Praxisbetrieb nicht gelitten habe. Und in der letzten Woche vor Weihnachten hätte immer die ganze Praxis Urlaub, das sei traditionell so, im letzten Jahr sei das ab dem 17.Dezember gewesen.

Wann habe sie gefragt, ob sie Urlaub bekommen könne?

Das sei ziemlich spontan gewesen, bei der Weihnachtsfeier der Praxis, Moment, das konnte er im elektronischen Terminkalender nachschauen, sie gingen dann immer irgendwohin essen, kleine Geschenke gab's auch, Gutscheine fürs Kino oder Eisdiele oder ähnliches. Früher wäre auch seine Frau und die jeweiligen Partner seiner Helferinnen mit dabei gewesen, Aber das wäre seiner Frau dann zu familiär geworden. Also das war der 23. November, bei dem neuen Italiener seien sie gewesen, der sei übrigens auch nicht besser als Pepe, da sei es höchstens heller, ungemütlicher und teurer. Da hätte sie das erste Mal gefragt, nach dem Wochenende hätte er ihr dann zugesagt. Zehn Tage später hätte sie ja schon losgewollt.“

Sonja schien das als Gedächtnisprotokoll angefügt zu haben, so hatte sie das früher auch immer gemacht, indirekte Rede, viel Konjunktiv, sachlich, aber nicht streng dokumentarisch. Stojan mochte das, er konnte das so lesen, wie es gemeint war, auch wenn es nicht so exakt war wie das Formblatt.

Jetzt überlegte er, ob es sich lohnen könnte, dem Augenarzt nochmal einen Besuch abzustatten. Hatte man die Arbeitskolleginnen befragt? Alle? In der Akte stand nur, sie hätten ausgesagt, mit Irene keinen privaten Kontakt gehabt zu haben. Im ersten Ausbildungsjahr hätten sie manchmal noch die Mittagspause zusammen verbracht, einen Salat beim Türken gegessen oder einen Cappuccino in der Eisdiele getrunken, da hätte sie auch mal etwas von zuhause erzählt, nichts Aufregendes oder Spektakuläres. Offenbar hatte das gegenseitige Interesse aneinander dann rasch nachgelassen und für die Ermittlungsakte war eben auch nichts weiter herausgesprungen. Die Ärzte, die Irene dann später krankgeschrieben hatten, waren anscheinend nicht befragt worden. Wahrscheinlich hatte man befürchtet, dass sie sich hinter ihrer Schweigepflicht verschanzen würden, besonders wenn man an ihren Attesten Zweifel hegte oder der Vorwurf leichtfertigen Handelns unausgesprochen im Raum stand. An einer ernsthaften Erkrankung hatte Irene sicher nicht gelitten, da hätte die Obduktion etwas ergeben. Er hatte immer noch einen Finger an der Stelle. Da stand aber nichts. Irene war völlig gesund gewesen. „Abgesehen davon, dass sie tot war“, fiel Stojan dazu ein. Was auch immer im kurzen Leben der Irene, geborener Irina Altmann, die Ärzte diagnostiziert haben mochten, musste folgenlos verheilt sein. Was auch immer die junge Frau den Ärzten vorgespielt haben mochte, um an einen gelben Schein zu kommen, dürfte zur Lösung des Falles nicht so entscheidend beitragen, dass Stojan große Lust verspürte, als ungebetener lästiger Gast in Wartezimmern stundenlang abgegriffene Sport- oder Autoillustrierte durchzublättern. Da hoffte er schon eher, der Pfarrerin oder Ex-Pfarrerin etwas Gewichtigeres zu entlocken.

Ohne offizielle, das heißt durch Staatsanwaltschaft veranlasste oder zumindest gedeckte Ermittlungen stand ihm kein Apparat zur Verfügung, blieb alles Hobby, möglicherweise teures Hobby. Es sei denn, er fand Mitstreiter, jemanden, dem es um Gerechtigkeit, Sühne oder Strafe ging oder auch nur um Wahrheit, und der sich auch nicht vor Kosten scheute. Irgendwo musste er seine Rente und seine laufenden Verpflichtungen im Blick behalten. Privatdetektive, Reisen mal eben einfach so, aufwändige Technik, das ging nicht ohne weiteres. Er konnte lange Zeit ohne viel Geld auskommen, manchmal gönnte er sich aber auch gern etwas. Für die Enkel legte er immer mal wieder etwas zurück, einige sozial aktive Institutionen durften mit seinen regelmäßigen Spenden rechnen, und wenn irgendwo Katastrophen Not und Elend hinterließen, konnte er ohne einen Griff ins eigene Portemonnaie nicht gut schlafen. Aktenzeichen XY würde auch nicht auf seinen Wunsch und einen bloß vage gefühlten Verdacht hin Sendezeit opfern, um bundesweit nach Tattoos zu fahnden. Er brauchte schon ein bisschen mehr, aber wie kam er an Antworten auf seine Fragen?

So viele Sackgassen! Von Ralf stand nach seinem Geschmack eindeutig zu wenig in den Protokollen. Wenn der nicht völlig unterbelichtet oder dauerverliebt oder komplett unter Irenes Pantoffel gestanden hatte, muss der doch mehr wissen, als die dürftige Notiz hergab:

„Ralf Lichtmann, geboren 1992, Auszubildender in einer Autolackiererei in Schmallenberg, der bei den Arbeitskolleginnen und beim letzten Klassentreffen Irenes ein halbes Jahr vor ihrem Tod von ihr als ihr Freund geführt wurde, hatte wohl keine Trauerzeiten eingehalten und für rasche Ablenkung gesorgt. Schon bei der ersten Vernehmung hatte er die emotionale Distanz zum Opfer betont und mehr eine beliebige und belanglose Gelegenheitsbeziehung unter gleichaltrigen jungen Menschen zwecks gemeinsamer Freizeitgestaltung einschließlich Probierens und bei Gefallen Austobens sexueller Spielchen gezeichnet. Kennengelernt hätten sie sich bei den Abendveranstaltungen der Pfarrerin, höchstens vier Monate engere Freundschaft wollte Ralf gelten lassen, davon seien die letzten vier Wochen schon nicht mehr so eng gewesen, nach Madeira hätten beide eigentlich keine große Lust mehr aufeinander verspürt.“

Das war´s. Wenig. Nicht einmal, ob Irene in der Nacht vor ihrem Tod bei ihm gewesen war. Zu dem erwähnten Klassentreffen fand Stojan auch nichts. Dabei gab es doch offenbar Aussagen: von Irene über Ralf, von Klassenkameraden über Irene, über Irene und Ralf. Hatte Ralf etwas über die Klassenkameraden gesagt? Hatte noch jemand etwas von der Mutter erfahren, was nirgendwo vermerkt wurde, weil es niemand wichtig genug fand? Es musste jemand ausgesagt haben, dass Irene auf einem Klassentreffen war, vielleicht ein halbes Jahr vor ihrem Tod. Sie musste dort erzählt haben, dass sie einen Freund hatte. Vielleicht hatte sie den Klassenkameraden noch mehr erzählt? Was sie sonst so trieb? Nebenberuflich? Was sie gerne machte? Wofür sie sich interessierte? Etwas, was sie nicht wussten, sie aber weiterbringen konnte. Nicht unbedingt musste. Aber das konnte man doch erst wissen, wenn man es versucht hatte, oder, Kollegen Schlafmützen?

Ärger kam hoch. „Kann man sich denn nicht mal in Ruhe an der Bandscheibe operieren lassen, Herr Gott sakra!“

Er müsste mal wieder vor die Tür. Nicht nur vor die seiner Datscha. Aus größerer Distanz wurde sein Blick manchmal schärfer. Nordsee vielleicht, die Idee behagte ihm.

Aber erst die Pfarrerin. Das Büro war in Meschede, hatte Sonja gesagt. Zeit hatte er ja. Also.

Auf den ersten Blick gefiel sie ihm, ihr offenes Gesicht mit den Lachfalten vom Mund bis zu den großen Augen mit dem frechen, etwas spöttischem Blick, dem asymmetrischen Pagenschnitt, den sie ihrer Frisur in zur Strumpffarbe passendem Auberginerot verpasst hatte. Auch das, was zwischen Kopf und Schienbein seine Aufmerksamkeit ungewöhnlich lange in Anspruch nahm, gefiel ihm sehr: wie der breite Kragen einer cremefarbenen Bluse aus dem V-Ausschnitt des olivgrünen Cashmerepullover lugte, auch etwas asymmetrisch, darunter der leicht schwingende Wollrock in passendem dunklen Schottenkaro. „Wenn sie jetzt noch etwas nettes sagt, nehme ich mir mehr Zeit, trödele ein bisschen und frage sie vielleicht auch mal was Privates“, dachte Stojan.

„Mitkommen!" Stojan fand das ausgesprochen nett und erhob sich etwas schwerfällig aus dem Besuchersessel, um ihr die Hand zu reichen, doch da stand sie schon im Flur und hielt ihm gerade noch mit zwei Fingern die Tür auf. Übersetzt hieß das wohl "länger bleiben ist nicht, träumen erst recht nicht, allenfalls das allernötigste an Zeit wird hier gewährt, und, wer die Kostbarkeit dieser Gunst nicht zu würdigen weiß, geht am besten sofort!"

Helen Bell, Sozialarbeiterin und Theologin, ehemalige evangelische Pfarrerin, konnte sich gut an Irene Altmann erinnern. „Freitags war sie sehr oft da, sie fiel auf, oder gehörte dazu und fiel erst auf, wenn sie nicht da war. Sie interessierte sich wenig für Probleme anderer, mischte sich selten mal ein in Gespräche, stand meistens in der Raucherecke. Manchmal flipperte sie ein bisschen, aber ohne große Freude oder Ausdauer, oder sie tanzte ein paar Schritte, wenn Musik auf Eins Life lief, die ihr zu gefallen schien. Aber sie tat das immer nur allein, verträumt und dermaßen aufreizend beckenbetont, also die meisten Mädchen hat das, glaube ich, abgestoßen. Wie das bei den Jungs ankam, weiß ich nicht. Aber richtig anmachen wollte sie die auch nicht, wenn mal einer etwas näherkam, machte sie eher wieder auf "Fass mich nicht an!". Anerkennung war ihr aber wichtig, Lob für ihr Outfit oder einen coolen Spruch. Bekam sie aber nicht von mir, da bin ich zu ehrlich. Ihre Klamotten mögen topmodisch gewesen sein, ich fand sie nur unnatürlich oversexed und einfach nichts für eine junge, einigermaßen hübsche Frau, und die Sprüche, naja, die besseren jedenfalls hatte ich alle vorher schon mal woanders gehört. Floskeln, unkritisches Geplapper, sie war nicht diejenige mit eigener Meinung, eigenem Kopf. Mit ihr ins Gespräch zu kommen, war nicht einfach, ich war zugegebenermaßen auch nicht sehr ausdauernd bei meinen Versuchen. Das hat mir natürlich furchtbar leidgetan, als ich das hörte, und es zu spät war.

„Halten Sie es für möglich, dass sie sich prostituiert hat?", fragte Stojan.

„Mir ist tatsächlich damals der Gedanke gekommen, ja, hatte auch schon überlegt, wie ich sie darauf ansprechen könnte, ohne sofort abzublitzen. Zuhause hatte sie sich längst jeder Kontrolle entzogen, im letzten Ausbildungsjahr war sie zumindest unstet, verpasste Prüfungsarbeiten, ließ sich oft krankschreiben, erzählte man, dann aber immer wegen banaler Geschichten, die von Donnerstag bis Freitag dauerten und schnell und spurlos ausgeheilt waren. Aber das war noch nicht der einzige Grund, so etwas gab es schließlich öfter bei den frustrierten und angeblich so perspektivlosen Jugendlichen, nein, sie schien im Gegensatz zu den meisten ihrer Altersgenossen über einiges Geld zu verfügen, jedenfalls manchmal. Da war dieser Urlaub auf Madeira, kurz vor Weihnachten ist das wegen des warmen Wetters bei Touristen sehr beliebt und sicher kaum billiger als in der Hauptsaison, fünf Sterne und zwei Wochen, angeblich. Manchmal trug sie Schmuck, nun, ich bin keine Expertin, aber nach Modeschmuck sah der nicht aus. Einmal muss sie auch einige Tage auf einer Motorjacht zugebracht haben, habe ich aufgeschnappt. Und es war nicht ihre Art anzugeben, dafür war sie zu wenig extrovertiert, trotz Imponiergehabe mit ihrem Zeug. Einmal ist sie abgeholt worden freitags, vielleicht halb neun, von so einem nicht mehr ganz neuen Sportwagen. Der Fahrer schien mir auf die Entfernung auch nicht mehr ganz neu, er hat nur kurz gehupt, Irene hat ihre Sachen zusammengesucht und weg war sie, grußlos und ohne sich umzudrehen. Das Kennzeichen, Herr Kommissar?“

Stojan grinste, er hatte gar nichts gesagt.

Helen Bell grinste auch. „Ich konnte gerade noch etwas erkennen, es war schon ziemlich dämmerig, aber als beim Anfahren auch die Rückleuchten wieder angingen, habe ich gesehen, dass es nicht von hier war, es kann KB oder KS gewesen sein. Ich glaube, der Wagen war schwarz oder dunkelblau, so ein tiefer gelegter. Ihre Haare waren übrigens alle paar Wochen von anderer Farbe, aber ob sie das selbst machte oder teure Friseure beschäftigte, kann ich nicht unterscheiden. Ihr Handy war wohl ziemlich angesagt und sicher entsprechend teuer. Woher das alles kam, war mir schon ein wenig schleierhaft."

„Und ihr Freund?“

„Ach, Ralf meinen Sie, der war selten dabei, und wenn, traten sie kaum als Paar erkennbar auf, ich glaube, der war noch ziemlich grün hinter den Ohren. Viel zu melden hatte er nicht, sie war klar reifer und hatte das Kommando. Bezahlte aber auch, wenn irgendwas Geld kostete."

„Dass er sie vermittelt haben könnte, an andere Männer vielleicht, würden Sie das für möglich halten?"

„Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, der sicher nicht. Ich denke, auch als Zuhälter muss man ein gewisses Format besitzen, oder? Das hatte er nicht."

Stojan stockte ein bisschen, der Sozialarbeiterin und ehemaligen Pfarrerin schien kein Milieu fremd zu sein. So gehörte es sich ja auch, dennoch war er etwas überrascht und auch irritiert, von der Anerkennung eines Formats bei einem kriminellen Gewerbe wie der Zuhälterei aus ihrem Munde zu hören.

„Außerdem schien sie an Alkohol gewöhnt zu sein. Sie trank manchmal reichlich von diesen Mixgetränken mit Wodka, Alkopops und anderes Zeug, ohne dass man ihr das anmerkte.“

Auch im Januar und Anfang Februar 2013 sei sie im Pfarrheim gewesen, doch, sie sei ziemlich sicher, zumindest am Freitagabend, da wären immer die meisten da gewesen. Sie selbst hatte sich zur Angewohnheit gemacht, auch um den ganzen Miesepetern und Quertreibern Wind aus den Segeln zu nehmen, gegen 22 Uhr und gegen Mitternacht jeweils kurz in der Tür zu erscheinen und auf sich aufmerksam zu machen, gleichzeitig pünktliches Ende um halb eins anzumahnen. Das wäre auch fast immer gut und geräuschlos vonstattengegangen.

Stojan hatte sich überschwänglich bedankt für ihre ganze Zeit, ihre freundliche Art und Weise, ihre Geduld. „Und überhaupt Ihr angenehmes Wesen“, hatte er noch hinzufügen wollen, bremste sich aber. „Und wie aufmerksam Sie durch die Welt gehen und sich noch Jahre später an Details erinnern, meinen Respekt!“, sagte er stattdessen und notierte etwas auf einem Zettel: KB für Korbach im Kreis Waldeck-Frankenberg, KS für Kassel.

„Aber gerne doch. Ich mag es, wenn man nicht so einfach andere Menschen zu reinen Aktenzeichen werden lassen will, sondern lieber nochmal nachfragt. Und wenn man in seinem zweifellos wohlverdienten Ruhestand nicht nur Sudokus löst, sondern irgendwo versucht, etwas zu bewegen, zu verändern, zu korrigieren. Mir ist das damals auch sehr nahe gegangen, glauben Sie mir. Und wenn ich richtig verstanden habe, ist das ja alles inoffiziell, was Sie machen. Unterliegt wohl auch keiner Schweigepflicht. Private Gedanken, sozusagen. Wenn Sie Lust haben, können wir unsere Gedanken gerne noch einmal abgleichen, vielleicht, wenn Sie noch etwas mehr herausbekommen haben, oder mir noch etwas eingefallen ist. Ich werde bestimmt jetzt wieder etwas an Irene denken und die ganze tragische Geschichte. Also, wenn Sie Lust haben? Privat natürlich. Ich schreib Ihnen mal meine Nummer auf, warten Sie.“ Während sie offenbar nach irgendeinem tauglichen Schreibgerät samt Zettel suchte, kramte Stojan eine seiner Visitenkarten aus dem Portemonnaie. Kommissar außer Rand und Band, ja, so fühlte er sich tatsächlich gerade und vergaß darüber zu erwähnen, dass er Helen Bells Telefonnummer schon irgendwo besaß. Und mit Sudokus eigentlich sowieso nichts im Sinn hatte.

Stojan findet keine Ruhe

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