Читать книгу Raban und Röiven Die Figur der Hekate - Norbert Wibben - Страница 10
ОглавлениеBesuch im Norden
Als das Gleißen nachlässt, steht Raban im Wohnzimmer seines Großvaters, direkt vor dem Sofa und ruft:
»Opa, ich bin da!«
»Ich komme ja schon. Nur nicht so hastig.« Bei den letzten Worten öffnet dieser die Haustür und schaut suchend umher. »Wo versteckst du dich denn?«, fragt der ältere, aber rüstige Mann erstaunt. Er fasst sich an den Kopf und schüttelt ihn. Schnell schließt er die Eingangstür und geht ins Haus zurück, als er auch schon die Antwort auf seine Frage hört:
»Na hier, im Wohnzimmer. Du wolltest doch nicht, dass ich draußen erscheine. Du weißt schon, wegen der Nachbarn!«
Finnegan steht jetzt vor seinem Enkel.
»Natürlich weiß ich das noch. Wir haben doch erst vor ein paar Minuten telefoniert. Da mich aber sonst niemand mit dem magischen Sprung besucht, bin ich automatisch zur Tür gegangen.«
Raban hat seinen Rucksack und die Bücher auf das Sofa gelegt und den Vogelkäfig davor gestellt. Er läuft dem Großvater entgegen. Beide umarmen sich herzlich.
»Schön dich hier zu haben, mein Junge. Ich freue mich wirklich sehr.«
»Ich mich auch! – Mom hat mir etwas für dich mitgegeben.« Damit holt der Junge die beiden Päckchen aus seinem Rucksack. Diese sind schnell geöffnet und werden genauso schnell kommentiert:
»Typisch Ciana, deine Mutter. Als ob es hier nichts zu essen geben würde. Aber das Brot duftet verführerisch. Hm. Es ist ja noch ganz frisch. Das wird uns gut schmecken. Und der Käse passt sehr gut dazu. Ja, das war dann doch eine gute Idee von ihr!«, schmunzelt der alte Mann.
Schnell werden die Lebensmittel in die Küche gebracht und beide genießen dort ihr Abendessen. Anschließend kehrt jeder mit einer dampfenden Tasse Kakao in der Hand ins Wohnzimmer zurück. Zuerst fragt Raban nach den jüngsten Erlebnissen seines Großvaters, dann berichtet er von seinen. Natürlich dauert es nicht lange, und die Ereignisse aus dem letzten Sommer und die vom Frühjahr diesen Jahres werden damit verbunden. So ist es auch nicht verwunderlich, dass es spät in der Nacht ist, als sie beide zu Bett gehen. Die Informationen über Hekate müssen bis zum nächsten Tag warten.
In der Nacht träumt Raban.
Erneut sucht er in den vernebelten Gassen einer alten Stadt nach Röiven, begegnet dem dunklen Zauberer Baran und ist mit seinem Freund vom Schutz eines Zaubers umgeben, während ein Flammenmeer um sie herum einen Baum und darin sitzende Kolkraben verbrennt.
Der Junge wälzt sich unruhig im Bett, und der Traum ändert sich.
Ein weiß gekachelter Raum wird von einem unerträglich grellen Licht erhellt. Eine vermummte Person sticht die Nadel einer Spritze in die Brust eines Raben, der auf einem Metalltisch festgeschnallt ist. Als die Spritze geleert ist, verdreht der Vogel die Augen, dann fällt sein Kopf kraftlos zur Seite. Der Kadaver wird losgeschnallt und in einem blauen Müllsack entsorgt.
Raban stöhnt. Der Traum ändert sich erneut.
Vor einem Schreibtisch sitzt eine Frau mit langen, schwarzen Haaren. Sie hält eine kleine Phiole gegen ein Kerzenlicht und nickt zufrieden. Ein triumphierendes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, in dessen dunklen Augen grüne, sternförmige Einsprenkelungen zu erkennen sind. »Morgana«, blitzt der Name dieser dunklen Zauberin auf. Eine kleine Keramikfigur steht vor ihr auf dem Tisch. Morgana zieht den Stöpsel aus der kleinen Glasflasche und träufelt etwas Flüssigkeit auf die Figur, die kurzzeitig von einem hellen Schimmer überzogen wird. Die Magierin hält ihre Hände über die Figur und beginnt eine Beschwörungsformel zu sprechen, die sie aus einem Buch abliest. Der Spruch beansprucht eine lange Zeit. Am Ende erscheint der schimmernde Glanz erneut. Jetzt leuchten die Augen der Figur grün. Als die dunkle Zauberin nochmals etwas murmelt, ist kurz ein Wispern der Figur zu hören. Ruft diese jemand oder ist das eine Antwort? Jetzt springt ein grünlicher Lichtstrahl von der kleinen Keramikfigur zur Zauberin herüber. Dann ist Morgana verschwunden. Das grünliche Leuchten in den Augen der zurück gebliebenen Figur reduziert sich auf ein punktförmiges Glimmen.
Raban wälzt sich unruhig hin und her.
Den Rest der Nacht träumt er nicht.
Am Morgen fühlt sich Raban wie gerädert. Er grübelt und erinnert sich schließlich an alle Traumsequenzen der vergangenen Nacht. Er hat sie nicht zum ersten Mal gesehen. Aber was haben sie zu bedeuten? Der Junge steht auf, kleidet sich an und begrüßt den Großvater in der Küche. Gemeinsam bereiten sie das Frühstück. Es ist offensichtlich, sein Opa freut sich, Gesellschaft beim Essen zu haben.
»Endlich setzt sich der Sommer durch«, kommentiert Finnegan, bei einem Blick nach draußen, das Wetter. Bereits gestern Mittag gab es hier eine Wetteränderung, die bald das gesamte Land erreichen wird. Die dunklen Regenwolken wurden von einem starken Westwind vertrieben, der sich in der Nacht beruhigt hat. Jetzt strahlt die Sonne von einem klaren, blauen Himmel herab.
»Was hältst du davon, wenn wir einen kleinen Spaziergang unternehmen? Die letzten Tage bin ich nur kurz nach draußen gekommen, um das Notwendigste einzukaufen.«
»Das können wir gerne machen, Opa«, bestätigt Raban den Wunsch. »Sollen wir auch etwas einkaufen?«
»Hm, ja. Wie lange möchtest du denn bleiben? Das hast du mir noch nicht verraten. – Nicht, dass ich dich schon wieder loswerden möchte – ich muss nur die Menge der benötigten Lebensmittel überdenken.«
»Ich möchte einige Informationen von dir bekommen, die vermutlich mit der griechischen Mythologie zu tun haben. Je nach den Erkenntnissen, die wir daraus ziehen können, muss ich möglicherweise sofort wieder weg. Ich möchte aber auf jeden Fall noch mindestens eine weitere Nacht bei dir bleiben.« Der Junge schaut in das Gesicht seines Großvaters und fährt schnell fort: »Sei nicht enttäuscht, vielleicht habe ich ja doch etwas mehr Zeit. Minerva, das ist eine kluge Eule, befürchtet, dass sich die dunklen Zauberer ausbreiten, wenn die Elfen, die Raben und ich sie nicht aufhalten. Von den bösen Zauberern gibt es mittlerweile mindestens zwei, wie ich dir gestern schon erzählte.«
»Du hast Recht, die Dubharan müssen aufgehalten werden. Auch wenn es seltsamerweise seit dem Frühjahr ruhig ist, was unerklärliche Ereignisse betrifft, heißt das nicht, dass sie untätig sind. Trotzdem hatte ich gehofft, etwas mehr Zeit mit dir verbringen zu können.«
»Ich auch«, bestätigt Raban. »Aber jetzt kaufen wir erst einmal ein, und danach machen wir zusammen einen ausgedehnten Spaziergang.«