Читать книгу Raban und Röiven Die Figur der Hekate - Norbert Wibben - Страница 9
ОглавлениеVorbereitungen für Recherchen
»Reisen mit dem magischen Sprung hat seine guten Seiten«, beginnt Raban, als sie zurück in seinem Zimmer sind. Er deponiert die Bücher auf seinem Schreibtisch und stellt den Vogelkäfig darauf. Den Zauberstab legt er zusammen mit dem Tarnumhang in die oberste Schublade in der Mitte. Dann fährt er fort: »Es ist nicht nur, dass das sagenhaft schnell geht, man bleibt dabei auch noch völlig trocken.«
»Jedenfalls dann, wenn man nicht außerhalb eines Gebäudes im strömenden Regen ankommt«, keckert Röiven und flattert zum Tischchen neben dem Bett des Jungen. Dort hockt er sich hin und legt seinen Kopf schräg.
»Wie wäre es mit einer kleinen Stärkung? Du hast doch sicher noch etwas Schokolade. Die täte jetzt wirklich gut!« Der schwarze Vogel klappert mit seinen Augendeckeln und blickt erwartungsvoll zu seinem Freund.
»Bevor du zu Schauspielern beginnst, wie schwach du nach unserem kurzen Ausflug nach Mynyddcaer bist«, lacht der Junge, »werde ich schnell das von dir geschätzte Stärkungsmittel holen.« Er geht zu seinem Schreibtisch hinüber und entnimmt dessen mittlerer Schublade eine Tafel Schokolade, die er sofort auspackt und in einzelne Brocken zerteilt. Zuerst legt er für Röiven mehrere davon auf das Tischchen und steckt sich dann selbst eins in den Mund. Der Kolkrabe schnappt sich sofort das erste Stück, dem schnell das nächste folgt. Es dauert nicht lange, dann ist die komplette Tafel verputzt.
»Das war wirklich gut, aber auch notwendig«, kommentiert der Rabe die Leckerei.
»Das freut mich. Dir geht es also wieder besser, und du bist im Vollbesitz deiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten?«
Der Vogel beäugt den Jungen misstrauisch.
»Was soll diese seltsame Einleitung? Auch wenn ich körperlich mal etwas geschwächt bin, so wie gerade eben noch, sind meine geistigen Fähigkeiten immer auf der Höhe! Keine Frage! Pö!« Röiven dreht sich empört etwas vom Jungen weg und schaut demonstrativ zum Fenster hinaus. Da der Regen unvermindert vom Himmel fällt, läuft das Wasser immer noch über die Scheibe und behindert den Blick nach draußen.
»Ich wollte dich nicht beleidigen, mein Freund«, versucht Raban den Vogel zu beruhigen. »Bei dem Regen kannst du dort nicht viel sehen, also schau mich an, bitte. Ich will dir erklären, weshalb ich mich so ausdrückte. – Komm schon, Röiven!«
Der große Vogel dreht seinen Kopf ganz langsam vom Fenster weg, um sich dann mit einem Satz schnell zum Jungen umzudrehen.
»Ich bin nicht beleidigt! Wir sind doch Freunde. Ich musste mich beim Überlegen nur konzentrieren, was mir besser gelingt, wenn ich sozusagen nichts sehe. Darum habe ich zum Fenster geschaut. Hätte ich die Augen geschlossen, hättest du denken können, ich sei eingeschlafen.« Dann keckert der Rabe laut lachend: »Hey, das war Spaß. Ich wollte dich nur ein bisschen necken, weil du so komisch zu Reden angefangen hattest.«
»Du bist ja ein richtiger Schelm. Immer zu einem Jux bereit. – Aber jetzt zurück zu meinem Anliegen.«
»Zu was? Anliegen? Du drückst dich heute aber richtig gestelzt aus«, giggelt der Rabe.
»Das wollte ich nicht. Ich weiß auch nicht. Vielleicht sind das Nachwirkungen von dem grünen Licht aus den Augen der Figur, oder vielleicht von deren Gewisper? – Doch lassen wir das. Ich muss dringend mehr über die Figur oder über die Bedeutung der Hekate herausbekommen. Dafür muss ich vielleicht wieder den Schulcomputer nutzen, um im Internet zu recherchieren.« Hier unterbricht ihn der Rabe:
»Ich soll doch wohl nicht wieder Wache auf dem Baum vor der Schule schieben, während du in diesem Interdings nach Informationen suchst? Das ist doch voll langweilig. Außerdem regnet es immer noch, da ist das zusätzlich sehr ungemütlich.«
»Beruhige dich, mein Freund. Das wäre zwar eine Möglichkeit, aber keine Herausforderung für deine Intelligenz. Nein. Ich werde meinen Großvater besuchen und ihn fragen. Er kennt sich in der griechischen Mythologie gut aus. Er gab mir im letzten Jahr auch den Hinweis, den versteinerten Baran vor dem Museum in der Hauptstadt abzustellen. So wie er es vermutet hatte, wurde dieser für eine Skulptur des Perseus mit dem Haupt der Medusa gehalten. Vermutlich kennt er sich auch mit Hekate aus. Falls ich bei ihm nicht genug Informationen bekomme, werde ich erneut das Museum in der Hauptstadt besuchen, aber zu einer normalen Öffnungszeit. Dort kann ich sicher reichlich Auskünfte bekommen.«
»Und was hat das mit meinen geistigen Fähigkeiten zu tun«, will der Rabe wissen, während er seinen Kopf schräg hält und den Jungen abwartend anschaut.
»Ich nannte nicht nur deine geistigen, sondern auch deine körperlichen Fähigkeiten. Während ich recherchiere, sollst du Sorcha besuchen.«
»Das ist doch keine körperliche oder geistige Herausforderung!«, empört sich Röiven.
»So scheint es, das stimmt. Da wir aber schon lange Zeit nichts mehr von Sorcha gehört haben, wirst du sie vermutlich suchen müssen. Falls sie wider Erwarten in Serengard im geheimen Wald zu finden ist, wirst du dich natürlich nicht anstrengen müssen. Ich vermute aber, dass Sorcha noch immer auf der Suche nach anderen Elfen mit Zauberkräften ist. In dem Fall wirst du reisen und nach ihr forschen müssen. Beginnen solltest du natürlich im geheimen Wald.«
Der Rabe antwortet nicht. Seine Augendeckel klappen mehrmals auf und zu. Er lässt ein lautes Kollern hören und beginnt dann:
»Ja, du hast Recht. Das kann eine Herausforderung für Kraft und Intelligenz sein. – Ich werde Sorcha finden. Ganz bestimmt.«
»Sobald du etwas herausbekommen hast, nehme geistigen Kontakt mit mir auf, damit wir uns treffen können.«
»Das mache ich. Wenn du vorher mit der Informationssuche fertig bist, meldest du dich, einverstanden?«
»Na klar, dann werde ich dich unterstützen. – Wie wäre es mit einigen weiteren Stückchen Schokolade, sozusagen als vorsorgliche Stärkung?«
»Da sage ich nicht nein«, erwidert der schwarze Vogel prompt.
Raban teilt eine neue Tafel auf, die bald verputzt ist.
»Pass auf dich auf, mein Freund!«
»Du auf dich auch!«, verabschieden sich beide. Dann flirrt die Luft. Der Junge ist allein in seinem Zimmer.
Es ist mittlerweile Abend geworden. Raban überlegt kurz und geht dann nach unten, um seine Eltern über sein Vorhaben zu informieren, den Großvater für einige Tage zu besuchen.
»Ich rufe Opa an und werde dann gleich zu ihm hinüberwechseln, wenn er einverstanden ist«, endet sein Vorschlag.
»Das ist eine tolle Idee. Dein Großvater wird sich riesig freuen«, stimmen ihm die Eltern zu.
»Du kannst die Hälfte von dem Brot mitnehmen, das ich heute gebacken habe. Falls Vater nicht genügend vorrätig hat, müsstet ihr sonst erst Einkaufen gehen. Das Stück Cheddar nimmst du auch mit. Warte mal, ich habe auch noch …«
»Also Mom«, unterbricht der Junge sie. »Großvater lebt doch nicht in der Wildnis. Ich nehme das Brot und den Käse mit, mehr aber nicht.«
Sein Vater Brendan schmunzelt:
»Raban hat Recht. Notfalls kommt er einfach mittels magischem Sprung zurück, um weiteren Nachschub zu holen. Aber das wird dein Vater sicher nicht zulassen. Er kann sich gut selbst versorgen und seinen Enkel dazu.« Er grinst seine Frau an, die nun auch lächelt.
»Na gut. Dann telefoniere jetzt, während ich die beiden Lebensmittel einpacke.«
Das Telefonat verläuft, wie Raban es sich erhofft. Finnegan ist überglücklich, seinen Enkel für ein paar Tage bei sich zu haben.
»Diesmal achte aber darauf, nicht vor meiner Haustür zu erscheinen. Du könntest von einem Nachbarn gesehen werden. Komm lieber sofort in mein Wohnzimmer. Da ich weiß, dass du bald erscheinen wirst, werde ich mich schon nicht erschrecken.«
»Gut. Ich sitze dann gleich auf dem Sofa. Wir sehen uns.« Damit legt der Junge auf und stürmt nach oben, um Sachen zusammenzupacken, die er mitnehmen möchte.
Er verstaut einige Kleidungsstücke in seinem Rucksack, nimmt beide alten Bücher und den Vogelkäfig mit der Figur der Hekate und will nach unten eilen. Er stutzt kurz und legt dann die Sachen auf den Fußboden. Er läuft die Treppe hinab und ins Wohnzimmer.
»Jetzt habe ich beinahe vergessen, dass du es nicht magst, wenn ich vor dir den magischen Sprung ausführe, Mom.«
»Ich bin zwar im Frühjahr mit dir auf diese Art zu dem Seniorenheim gereist, und es war nicht schlimm, aber du hast Recht, ich mag es nicht, wenn du dich vor mir in Nichts auflöst. – Hier hast du die Lebensmittel, und grüße deinen Großvater von mir.«
»Von mir auch«, fügt Brendan hinzu. Dann umarmen beide den Jungen, und Raban verlässt mit einem letzten Lächeln das Wohnzimmer. Langsam steigt er die Treppe nach oben hinauf und tritt in sein Zimmer. Schnell verstaut er das Brot und den Käse in seinem Rucksack, den er anschließend schultert. Die Bücher klemmt er sich unter den linken Arm, den Vogelkäfig hält er mit seiner rechten Hand. Er lässt seinen Blick noch einmal prüfend durch das Zimmer gleiten, dann verschwindet er.