Читать книгу Raban und Röiven Die Figur der Hekate - Norbert Wibben - Страница 12
ОглавлениеWer oder was ist Hekate
Raban hilft seinem Großvater beim Einkaufen, was in dem Supermarkt nicht lange Zeit in Anspruch nimmt. Neugierig wird nach dem »jungen Mann« gefragt, der den älteren Mann heute begleitet. So drückt sich die Frau an der Kasse aus, während sie erwartungsvoll den Jungen anschaut. Auf derartige Fragen reagiert Raban einerseits hilflos, weil er nicht weiß, wie jemand so unverhohlen neugierig sein kann und ob er sich genervt einfach nach draußen verdrücken soll. Andererseits ist es ihm peinlich, als »Mann« bezeichnet zu werden, auch wenn das durch das Wort »jung« abgeschwächt wird. Kann er guten Gewissens beleidigt verschwinden, oder soll er sich geschmeichelt fühlen? Die Frau blickt ihn immer noch erwartungsvoll lächelnd an. Finnegan rettet ihn aus der Zwickmühle.
»Das ist mein Enkel, der auf einen kurzen Besuch vorbeigekommen ist«, antwortet er ebenfalls lächelnd, mit einem kurzen Blick zu Raban. Ob er dessen Zwiespalt erkennt, zeigt er nicht. Er reicht der Frau das geforderte Geld. Raban nimmt die gekauften Nahrungsmittel und verstaut sie in seinem Rucksack, den er einseitig auf die Schulter nimmt.
Als die Kassiererin das Wechselgeld zurückgibt und das bemerkt, stößt sie einen gespielten Überraschungsruf aus:
»Das es so was heute noch gibt. Ihr Enkel ist aber gut erzogen und so hilfsbereit! Sie müssen ja nichts selber tragen.«
Raban bemerkt, wie ihm die Röte ins Gesicht schießt. Die Frau war so laut, dass sie überall im Geschäft zu hören gewesen sein musste. Er nickt kurz und stürmt aus dem Geschäft. Finnegan grüßt zum Abschied und folgt ihm. Schnell hat er seinen Enkel eingeholt, der mit dunkler Miene auf ihn wartet. Dann lacht der ältere Mann prustend los.
»Bist du auf der Flucht? Die Frau wollte doch nur nett sein. Obwohl sie eine Klatschbase ist und auf diese Art den Leuten Neuigkeiten aus der Nase zieht, die dann an andere weitergegeben werden, ist sie herzensgut. Wirklich.«
»Ich kann das nicht leiden. Dieses gekünstelte Getue und dann spricht sie noch in einer Lautstärke, dass alle etwas davon mitbekommen.« Die dunklen Wolken bleiben aber nicht mehr lange in seinem Gesicht. Er stimmt schon bald in das ansteckende Lachen seines Opas ein.
Auf dem Weg nach Hause, der im wärmenden Sonnenschein mit Bedacht langsam zurückgelegt wird, fragt Raban: »Opa, du kennst dich doch gut in der griechischen Mythologie aus, nicht wahr? Jedenfalls kanntest du das Haupt der Medusa und auch Perseus.«
»Ja, das stimmt. Ob ich mich deshalb aber gut auskenne, weiß ich nicht. Was möchtest du denn wissen?« Gespannt dreht sich Finnegan zu seinem Enkel und bleibt stehen.
»Wer oder was ist Hekate?«, platzt es aus Raban heraus.
Der Großvater wartet, ob der Junge noch eine Erläuterung folgen lässt. Als das nicht so ist, antwortet er:
»Das ist aber eine sehr allgemeine Frage. Grob gesagt ist Hekate in der griechischen Mythologie die Göttin der Magie, aber nicht nur das. Erzähle mir doch, warum du das wissen möchtest.«
Raban holt kurz Luft.
»Vielleicht ist dir gestern der Vogelkäfig aufgefallen, den ich bei mir habe?«
»Das ist er. Ich wunderte mich, ob der für deinen Rabenfreund, also für Röiven sein soll, als ich die Figur darin bemerkte. Wir haben aber gestern beim Erzählen darüber kein Wort verloren, auch nicht über die beiden alten Bücher, die du ebenfalls mitbrachtest. Also, was ist damit?«
Jetzt erläutert der Junge was er geträumt hat.
»Meine bisherigen Erkenntnisse sind lediglich, dass die Figur Hekate darstellt. Das erklärt aber nicht, warum Morgana so triumphierend aussah, als sowohl die Flüssigkeit, als auch die Beschwörung eine Reaktion hervorgerufen haben.«
»Dass Hekate die Göttin der Magie ist, bietet keinen Hinweis, warum eine dunkle Zauberin sich so freuen sollte. Es erklärt auch nicht, weshalb sie in einem grünen Licht verschwunden ist. Hm. Wir müssen wohl etwas tiefer graben. Ich habe ein recht gutes Buch über die griechische Mythologie, vielleicht finden wir darin einen Hinweis.«
»Das ist gut«, stimmt ihm Raban begeistert zu. »Außerdem sollten wir in den beiden alten Büchern, die ich von Morganas Tisch mitgebracht habe, suchen. Da sie darin gelesen hat, sollte dort ein Hinweis zu finden sein. Falls wir aber danach immer noch keine Erklärung haben, reise ich in die Hauptstadt. Dort versuche ich, im Museum das Rätsel zu lösen.«
»Hey, ich habe eine Idee. Ich möchte auch gerne wissen, was dahintersteckt. Nimmst du mich dann zum Museum mit?« Die Augen des alten Mannes leuchten, so sehr freut er sich auf den magischen Sprung.
»Natürlich nehme ich dich mit. Ich weiß doch, dass du gerne auf magische Weise reist.« Der Junge grinst seinen Großvater an, der zurücklächelt. Mittlerweile haben sie das Haus wieder erreicht und verstauen ihre Einkäufe.
Danach stürmt Finnegan in sein Wohnzimmer, um das Buch über die griechische Mythologie zu suchen. Raban bereitet noch schnell für jeden eine Tasse heiße Schokolade mit Zimt zu und folgt ihm. Sein Opa sitzt schon am Tisch und blättert in einem Buch. Er blickt nur kurz auf.
»Danke, das ist lieb von dir. Ich finde sicher gleich die Stelle, an der Hekate beschrieben wird.«
Der Junge setzt sich auch an den Tisch und wartet gespannt. Er nimmt vorsichtig einen Schluck des heißen Getränks, dann noch einen. Bei seinem dritten verschluckt er sich vor Schreck fast, als Finnegan:
»Heureka!«, ruft.
»Was ist los?«, will Raban hustend wissen.
»Um mit Archimedes zu sprechen: Heureka. Das bedeutet: »Ich habe es gefunden.« Ich beziehe das zwar nur auf die Stelle mit der Erläuterung über Hekate und nicht auf eine wissenschaftliche Erkenntnis, aber das ist sicher erlaubt. – Hier steht es: »Hekate ist in der griechischen Mythologie die Göttin der Magie. Sie ist außerdem die Göttin der Wegkreuzungen, Schwellen und Übergänge, die Wächterin der Tore zwischen den Welten. Als Beherrscherin der Magie konnte sie den Zugang zur Unterwelt öffnen, den Kontakt mit Geistern und Toten ermöglichen, als Orakelgottheit die Zukunft offenbaren und ihren Anhängern Macht und Reichtum gewähren.« Dann ist hier noch eine Abbildung zu sehen. Schau mal.« Als Raban einen Blick darauf wirft, bestätigt er:
»Die Figur sieht wie die aus, die ich im Museum gesehen habe. Sie gleicht auch der Figur im Vogelkäfig. Sieh nur.«
»Ich habe sie mir vorhin kurz angesehen, bevor ich das Buch gesucht habe. – Gibt uns das jetzt die erhoffte Erklärung? Möglichkeiten eröffnen sich dadurch jedenfalls genug.« Der Junge schüttelt zweifelnd den Kopf.
»Damit hast du zwar Recht, aber wir sollten unbedingt in den beiden Büchern von Morgana nachschauen, ob uns das die vielen Möglichkeiten einkreisen lässt.«
Sofort nehmen sie sich jeder eines der Bücher vor. Sie lesen und blättern weiter, sie schauen sich manchmal vorhandene Skizzen an und müssen sogar einige Passagen mit viel Mühe übersetzen, doch sie geben nicht auf. Als sie fertig sind, tauschen sie die Bücher und beginnen erneut.
Inzwischen ist es Abend geworden, doch einen Hinweis auf Hekate haben sie nicht entdecken können. Seufzend erheben sie sich und strecken ihre Rücken.
»Schade, ich hatte so sehr auf einen Anhaltspunkt gehofft.«
»Ich auch«, bestätigt Raban. »Besonders in dem Buch »Magische Artefakte und deren Anwendung« erwartete ich einen, denn in dem hatte Morgana offenbar zuletzt gelesen. Aber da haben wir eben Pech gehabt. Jetzt bleibt uns noch das Museum.«
Begeistert bestätigt Finnegan: »In dem Museum war ich lange nicht mehr. Dort gibt es mehr Informationen, als wir an einem Tag aufnehmen können. Da werden wir sicher fündig werden. Ich freue mich aber noch mehr darauf, mal wieder magisch zu reisen!«
Nach dem Abendessen spazieren sie noch etwas durch den Ort. Sie genießen den lauen Sommerabend nach den vielen Regentagen. Dann sitzen sie noch längere Zeit im Wohnzimmer zusammen, wo Raban seinem Großvater das grüne Leuchten der Augen zeigt, wobei er dafür die Figur kurzzeitig aus dem Käfig herausnimmt. Das Wispern hört der Junge auch wieder, doch für die Ohren des älteren Mannes sind die Töne zu leise. Raban möchte die Figur nicht zu lange in der Hand halten, da erneut sowohl das Leuchten zunimmt, als auch sein Herzschlag beschleunigt wird. Darum sperrt er die Figur schnell wieder in den Käfig, ohne sich auf das Wispern zu konzentrieren.
Bruchstücke davon gehen ihm durch den Kopf. Als sie dann doch in sein Bewusstsein vordringen, stutzt er und fragt dann: »Opa, ich habe die Figur etwas wispern hören, du auch?«
»Nein. Waren das Worte und konntest du etwas verstehen?«
»Nicht wirklich. Ich meine etwas wie: »…sequor« und auch »… portas« gehört zu haben. Mehr war nicht zu verstehen.«
»Hm. »Portas« ist lateinisch und bedeutet »das Tor« oder »die Pforte«, das würde zu den Merkmalen der Hekate passen, du weißt schon, sie ist »die Wächterin der Tore zwischen den Welten«. Warum eine Figur aus der griechischen Mythologie Latein als Sprache nutzt, ist seltsam. – Das andere Wort kenne ich nicht. Ob das auch lateinisch ist? Was ist mit dir, kennst du es?«
»Wenn es tatsächlich »sequor« war, bedeutet das »folgen« oder »beachten«.«
Sie grübeln noch lange über einen möglichen Sinn. Will die Figur Raban etwas mitteilen? Der Junge möchte sie nicht erneut in die Hand nehmen. Vielleicht ist das zur Lösung des Rätsels auch nicht notwendig. Das hofft er jedenfalls. Insgeheim befürchtet er wegen des stärker werdenden Leuchtens, dass die Figur ihn hypnotisieren oder sogar in sich hineinziehen will, so wie das offenbar mit Morgana passiert ist. Deutet sein beschleunigter Herzschlag nicht auf eine Gefahr hin?