Читать книгу Raban und Röiven Die Figur der Hekate - Norbert Wibben - Страница 5
ОглавлениеSommer
Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an
Der Sommer beginnt mit vielen verregneten Tagen. Auch wenn der Frühling sehr trocken gewesen ist und nicht nur die Gärten der Menschen, sondern die gesamte Natur den Regen dringend benötigt, ist das »dauernde Schietwetter« Gesprächsstoff, egal wo Menschen sich treffen. Da es bei strömendem Regen nicht so einfach ist, sich zu unterhalten und Regenschirme auf Dauer die Feuchtigkeit auch nicht ausreichend abhalten, eilen Jung und Alt von den Geschäften zum Auto und vom Auto ins Haus oder auch umgekehrt. Auf dem Weg zur Arbeit sind viele Menschen sogar bei schönem Wetter eher wortkarg, so dass sie jetzt nur stumm aneinander vorbei eilen. Auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln finden Gespräche zwischen ihnen nicht statt, weil nasse Umhänge, ein tropfender Regenschutz oder zusammengelegte Regenschirme sie eher auf Abstand zueinander halten. Der Regen wäscht sozusagen nicht nur die gute Laune der Menschen fort, er macht sie auch gesprächsfauler. Dafür schimpfen sie dann um so mehr, wenn sie sich im Trockenen treffen, also im Supermarkt, in größeren Orten auch in einer Einkaufspassage oder im Café und natürlich bei der Arbeit. Ihre Gesichter hellen sich dabei genauso wenig auf, wie der dunkle Himmel draußen!
Raban hat sich auf die ersten Ferientage gefreut, da er dann mit seinem Freund, dem Kolkraben Röiven, mehr Zeit verbringen wollte, als es ihm während der Schulzeit möglich ist. Doch jetzt sitzt der Junge in seinem Zimmer und schaut etwas lustlos nach draußen, wobei die Regenschlieren auf der Fensterscheibe seinen Ausblick stark behindern.
Seine Augen wandern zurück auf zwei neue, von ihm erstellte Zeichnungen. Ja, sie sind gut geworden. Er beschließt, sie zu den anderen an die Wand zu hängen. Das eine ist ein Brustbild von Zoe, der Gefährtin seines gefiederten Freundes. Das andere zeigt die Silhouette Röivens, der auf dem unteren Ast der Linde im geheimen Wald hockt.
Mittlerweile hängen hier sechs Bilder. In dem Moment, in dem er die neuen Bilder an der Wand ausgerichtet hat, vernimmt Raban ein Geräusch, das wie das Rascheln oder Reiben von Gefieder klingt. Er dreht sich schnell um.
»Puh, ist das langweilig«, vernimmt er auch schon die krächzende Stimme seines Freundes.
»Hallo Röiven. Schön dich zu sehen!«
»Hallo, mein Freund. Ich dachte, ich schau mal bei dir herein. Einfach nur so.«
»Das freut mich. Ich hatte schon überlegt, ob ich in wetterfester Kleidung einen Besuch bei dir machen sollte. Da der Regen aber in wahren Sturzbächen herunterfällt, habe ich das dann doch gelassen. – Ich habe stattdessen zwei neue Bilder gezeichnet. Wie gefallen sie dir?«
»Du hast Zoe wirklich gut dargestellt, aber wer ist der andere Fithich?«, entgegnet der Rabe mit schräg gehaltenem Kopf.
»Wer? Ja also, das sollst du sein.«
»Was? So sehe ich aus? Das ist doch nicht zu fassen. Wo ist denn mein intelligenter Gesichtsausdruck geblieben? Wenn ich mich in der Oberfläche eines Wassers anschaue, blitzt die Klugheit nur so aus meinen Augen. Hier sind nicht einmal Augen zu erkennen. Also, das solltest du korrigieren oder besser noch, es neu machen.«
»Mein Freund. Ich habe hier eine Silhouette von dir darge…«
»Was ist das denn?«, wird er krächzend unterbrochen. »Dann bin ich das also nicht? Was ist eine – Sil… Sillu…? Na, du weißt schon.«
»Wenn du mich ausreden lässt, werde ich es dir erklären.« Raban wartet einen kurzen Moment und fährt dann fort: »Wenn die natürliche Kontur, also der Umriss oder Schatten eines Körpers dargestellt wird, bezeichnet man das als Silhouette. So siehst du aus, wenn ich dich gegen das Licht betrachte, wenn du beispielsweise auf einem Ast der Linde im geheimen Wald sitzt. Augen sind dann nicht zu erkennen, wohl aber dein großer, muskulöser Körper!«, schmeichelt Raban seinem Freund.
»Meinst du das wirklich so? Hm. Ja, du könntest Recht haben. Wenn ich überlege, fällt mir keine vergleichbare Sil… Sillu… kein Schatten eines anderen Fithich ein, der so kraftvoll wirkt.«
»Dann bist du mit dem Bild einverstanden?«
»Ja, jepp, klaro!«
Der Kolkrabe schaut das Bild noch einige Zeit schweigend an, während der Junge seine Zeichenutensilien wegräumt.
Dann stutzt Raban kurz und fragt:
»Als du vorhin ankamst, sagtest du: »Puh, ist das langweilig.« War das nur so dahingesagt, oder geht es dir im Moment so, wie den vielen Fithich im vorigen Jahr, als sie im geheimen Wald Zuflucht vor Baran gefunden hatten? Sie vermissten ihr gewohntes Leben, waren ohne Beschäftigung und langweilten sich schon bald.«
Der Kolkrabe zögert, klappert mit seinen Augendeckeln und schreitet auf der Stuhllehne hin und her. Dann sprudelt er erste Worte hervor:
»Zoe und ich mögen uns sehr.« Pause. »Und Ainoa ist unsere helle Freude, unser Augenstern.« Pause. »Aber jetzt zieht unsere Tochter mit anderen jungen Fithich umher. Das ist ja ganz normal, doch ich sorge mich so sehr, dass ich am liebsten immer in ihrer Nähe sein würde.« Pause. »Aus der Ferne kann ich schließlich nicht auf sie aufpassen! Darüber gab es einen heftigen Streit, – also zwischen Zoe und mir.« Pause. »Jedenfalls hat Zoe mir das Versprechen abgenommen, unser Kind bis zum Winter – ja du hörst richtig: bis zum Winter! – unbeaufsichtigt zu lassen. Wenn Ainoa ein erwachsener Fithich werden soll, der eigenständig sein Leben meistert, dürfe ich mich nicht einmischen. Sie muss von den anderen Fithich akzeptiert werden, was nicht geschehen wird, wenn ich sie permanent umsorge. Das wäre außerdem für unsere Tochter peinlich, meint Zoe!« Pause. »Also habe ich schweren Herzens mein Versprechen gegeben. Aber jetzt fühle ich mich irgendwie leer. So, als hätte mein Leben keinen Sinn. Zumindest solange, bis es endlich Winter wird. Dann darf ich Ainoa wiedersehen.« Lange Pause. »Du kennst dich mit der Zeiteinteilung doch sicher gut aus. Wie lange dauert es noch bis zum Winter? Wie oft muss ich noch schlafen?« Aufgeregt klappert der schwarze Vogel mit seinen Augendeckeln.
»Hm. Bis zum Winter dauert es sehr lange. Du musst ungefähr noch 200 mal schlafen, also etwa zweimal so lange, wie es vom Beginn eures Nestbaus bis jetzt gedauert hat.«
Der Rabe macht einige torkelnde Schritte, als würde er als Reaktion auf diese Information umkippen.
»Was, so lange soll ich warten?« Seine Stimme ist kaum vernehmbar.
»Ich kann dich verstehen, glaube ich«, entgegnet Raban. »Ihr hattet soviel Sorge um eure Tochter, bis sie endlich schlüpfen und heranwachsen konnte. Anschließend standen die permanente Futterbeschaffung und der Aufwand beim Überlebenstraining an. All das fehlt dir jetzt.« Er legt eine Hand auf den Rücken seines Freundes und überlegt. Rabans Miene hellt sich auf, und er fährt fort: »Wir haben doch in den letzten Wochen darauf gewartet, dass Sorcha uns zu einem Treffen der Zauberer, also aller Fithich und Elfen mit magischen Fähigkeiten, ruft. Sie musste zuerst die Strapazen ihrer Gefangenschaft überwinden und wollte dann nach weiteren Elfen mit Zauberfähigkeiten forschen. Ob sie wohl damit fertig ist? Wir hatten schon vorher einige Fithich mit Zauberkräften gefunden. Dann könnte doch jetzt ein Treffen stattfinden, oder? Wenn ich mich richtig erinnere, machte Minerva die Sache dringend. Also, was meinst du, fragen wir Sorcha, wie weit sie mit ihrer Suche ist?«
»Wow. Ich sag ja immer, Minerva hatte Recht. Du bist …«
»Lass das«, unterbricht Raban seinen Freund. »Was meinst Du? Damit hättest du, aber ich natürlich auch, eine Aufgabe. Wir müssen verhindern, dass die dunklen Zauberer mächtig werden. Zumindest zwei gibt es wieder von ihnen, diesen Gavin und Morgana. Auch wenn in den letzten Wochen von keinen sonderbaren Ereignissen in den Zeitungen berichtet wurde, die ihnen zuzuschreiben wären, heißt das nicht, dass sie untätig sind. – Halt. Ich musste seit Sorchas Befreiung nicht mehr an Morgana, diese Urenkelin eines Dubharan denken. Ich hatte einmal geträumt, oder hellgesehen, wie sie verschwunden ist. Ob sie unser Land verlassen hat oder gar gestorben ist? Mir fällt ein, das hatte etwas mit einer Figur zu tun, die drei Frauen darstellt. – Ja, genau. Das war eine Darstellung der Hekate.«
»Ich erinnere mich auch an die Figur«, krächzt der Kolkrabe. »Sie stand auf dem Tisch in dem Arbeitszimmer in Mynyddcaer.«
»Richtig. Ich wollte sie damals in Sicherheit bringen, also an mich nehmen, da mir irgendetwas an der Figur komisch vorkam. In ihren Augen konnte ich das Glimmen eines grünlichen Funkens sehen. Es sah in meiner Traumsequenz so aus, als ob Morgana von einem plötzlich erscheinenden, grünlichen Lichtstrahl in die Figur gesaugt worden wäre. – In den letzten Wochen gab es viel Stress mit den letzten Prüfungen zum Schuljahresabschluss, dass ich das glatt vergessen habe. Hoffentlich war das kein Fehler! Womöglich könnte es sogar ein schlimmer Fehler sein!«
»Den können wir doch einfach korrigieren«, erwidert Röiven, während er schon auf die Schulter des Jungen geflattert ist. »Worauf wartest du noch, auf nach Mynyddcaer! Holen wir uns die Figur.«
»Halt, stopp! Ich nehme lieber meinen Haselstab mit, und wir sollten meinen Tarnumhang nutzen. Nicht, dass wir Morgana direkt in die Arme laufen. Vielleicht ist sie längst zurück und befindet sich in dem Arbeitszimmer.«
»Das wäre nicht gut, gar nicht gut«, stimmt der schwarze Vogel zu.
Raban geht zu seinem Schreibtisch und öffnet die oberste Schublade in der Mitte. Er entnimmt ihr den Umhang und den Armreif eines auserwählten Zauberers. Während der Schulzeit bewahrt er diesen dort immer auf und legt ihn nur bei Bedarf an. Es ist nur ein bronzener, fingerbreiter und schlichter Reif mit einem eingeprägten Sonnensymbol. Er wirkt am Handgelenk eines Jungen aber dennoch etwas seltsam. Den Tarnumhang hat er bisher noch nicht zu Ilea zurückgebracht. Das will er in den nächsten Tagen machen, sobald das Wetter besser wird. Dann würden sie durch die hügelige Landschaft spazieren und einen wunderbaren Tag zusammen verbringen. Raban reißt sich zusammen, um nicht ins Träumen zu kommen. Er schließt den Armreif um sein linkes Handgelenk und verspürt sofort den Wärmeimpuls, der ihm signalisiert, dass seine Zauberkräfte nun durch diesen magischen Reif um ein Vielfaches verstärkt werden. Danach breitet er den hauchdünnen Stoff vorsichtig über sich und den Raben auf seiner Schulter aus.
»So, das macht uns für Morgana unsichtbar, falls sie dort sein sollte.« Der Junge hebt seinen Haselstab an, um damit notfalls zuschlagen zu können. Er holt tief Luft, dann spricht er: »Portaro!«
Die Luft flirrt unter dem Umhang, wovon im Zimmer aber nichts bemerkt wird, da es bereits verlassen wirkt. Dann ist es das tatsächlich.