Читать книгу Raban und Röiven Die Figur der Hekate - Norbert Wibben - Страница 17
Ein Treffen mit Sorcha
Оглавление»Ich freue mich, meine Retter zu sehen«, werden Raban und Röiven von einer strahlenden Elfe empfangen. Sorcha kommt ihren Besuchern entgegen, als der Junge, mit dem Kolkraben auf der Schulter, die Bibliothek in Serengard betritt. Die auf den ersten Blick stolz und unnahbar erscheinende, schlanke Frau sieht wieder vollkommen gesund aus. Sie ist die Oberste der Elfen im Norden.
Vor mehreren Jahrhunderten gab es insgesamt fünf verschiedene Regionen, wo Elfen anzutreffen waren. In unzähligen Kriegen gegen die Dubharan verloren viele von ihnen ihr Leben, weshalb sie ihre Gebiete in der Mitte, im Westen, Süden und Osten aufgaben. Darüber ist nicht nur Raban traurig. Er mag Elfen, die hilfsbereit, friedfertig und den Menschen freundlich gesinnt sind. Elfen ähneln den Menschen im Äußeren sehr. Im Gegensatz zu diesen sind sie aber ausnahmslos großgewachsen und schlank. Sie besitzen keine Flügel, obwohl sie in manchen Büchern der Menschen so dargestellt werden. Elfen können sich so schnell bewegen, dass das für das menschliche Auge nicht zu verfolgen ist, weshalb ihnen vermutlich Flügel, als Erklärung dieser Schnelligkeit, angedichtet wurden. Einen großen Unterschied gibt es, der gleichzeitig die Ursache für ihren Rückzug im Land ist: sie leben wesentlich länger als Menschen. Das klingt widersprüchlich, ist aber doch der Grund, da sie wesentlich seltener als Menschen Kinder bekommen. Raban hat sein Wissen über Elfen von Leana, Ileas Mutter, die es von ihrer Großmutter Eila hat. Sorcha steht jetzt fast vor ihm. Darum macht er seinen Kopf von diesen Gedanken frei und konzentriert sich auf das Hier und Jetzt.
Die Elfe lächelt. Der Junge blickt sie etwas verlegen an. Ob sie etwas von seinen Gedanken mitbekommen hat?
Der Kolkrabe hält seinen Kopf schräg. Sorcha sieht gut erholt aus, nach den Strapazen ihrer Gefangenschaft in Munegard, aus der sie durch die beiden Freunde gerettet worden war.
»Ich grüße dich, Oberste der …«, beginnen Raban und Röiven gleichzeitig, als sie auch schon unterbrochen werden.
»Bitte nicht so förmlich. Ihr wisst, dass ich weder Wert darauf lege, noch dass mir das behagt. Ihr seid mehr als Freunde! Ihr habt mein Leben gerettet und dadurch vermutlich auch das vieler rechtschaffener Menschen, Elfen und Fithich. Also sagt einfach nur meinen Namen.«
»Ähem, das haben wir gerne gemacht«, beginnt der Junge verlegen. Die blonde Elfe legt dem kleineren Menschen beide Hände auf den Kopf. Sie murmelt etwas, was Raban nicht verstehen kann, dann verspürt er ein feines Kribbeln auf der Kopfhaut, das langsam seinen ganzen Kopf durchflutet.
»Was …?«, fragt er, als ihn Sorcha unterbricht.
»Das ist mein besonderer Dank an dich. Ich habe dir Elfenwissen aus vielen Jahrhunderten übertragen. Es liefert dir Informationen, die möglicherweise in keinem Buch zu finden sind. Es sind Erfahrungen, die über Generationen gemacht und vererbt wurden.«
Raban schweigt verblüfft. Er weiß nicht, warum die Elfe das getan hat, versteht aber gleichzeitig, dass ihm dies Wissen sehr nützlich sein kann.
Er schluckt und erwidert: »Ich danke dir, Sorcha. Das ist ein großzügiges Geschenk, das ich nicht verdient habe!«
»Doch, das hast du und damit Schluss!«, entgegnet Sorcha energisch. Dann lächelt sie: »Oder soll ich es rückgängig machen? Nein? Das ist auch gut so, da ich das nicht kann.« Sie nickt dem Jungen zu, der zurücklächelt.
»Nun zu dir, mein gefiederter Retter«, beginnt Sorcha, wobei sie den Vogel auffordert, auf ihren ausgestreckten Arm zu wechseln.
Der schwarze Vogel fliegt hinüber und klappert aufgeregt mit seinen Augendeckeln.
»Ich danke auch dir, Röiven. Du hattest sicher großen Anteil an meiner Befreiung.« Nun murmelt Sorcha erneut einige Worte, während Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand den linken Fuß des Vogels berühren. Ein goldenes Leuchten erscheint. Als sie ihre Hand zurückzieht, ist der Fuß beringt. Neugierig beäugt der Kolkrabe den schmalen Reif, wofür er seinen Kopf weit vorbeugen muss.
»Was war das jetzt? Hast du mir eine Nummer verpasst, so wie das manche Menschen bei jungen Vögeln machen?«
»Das glaube ich nicht«, beginnt der Junge. »Ich sehe eine symbolische Sonne darauf abgebildet. Hm. Also besitzt du jetzt den Reif eines auserwählten Zauberers. Habe ich Recht, Sorcha?«
»Da du selbst einen Armreif eines Auserwählten trägst, erkennst du ihn natürlich sofort, obwohl ich ihn für einen Fithich passend, in der Größe verändert habe«, bestätigt die Elfe.
»Wow. Ich … ein Auserwählter … Danke, Sorcha«, krächzt der Rabe verblüfft.
»Das habe ich gern gemacht. Du bist nicht nur ein besonderer Fithich, sondern tatsächlich auch ein auserwählter Zauberer. Durch diesen Reif werden deine Kräfte wesentlich verstärkt. Die werden wir in kommenden Auseinandersetzungen mit den dunklen Zauberern sicher benötigen. Auf unserer Seite gibt es nicht mehr viele Zauberer, während sich die Dubharan offenbar ausbreiten.«
»Es gibt auf jeden Fall zwei von ihnen, vielleicht sogar schon mehr«, stimmt Raban ihr zu. »Morgana ist vermutlich auf der Suche, wie sie ihre Anzahl mehren können.«
Sie gehen nun zu den Sesseln am Kamin hinüber. Sorcha und Raban machen es sich darin bequem, während Röiven auf einer Armlehne bei seinem Freund hockt.
»Morgana ist verschwunden. Ich habe in einer Sequenz gesehen, wie sie kurz vorher eine Figur der Hekate mit einer Flüssigkeit beträufelt und einen Spruch genutzt hat«, berichtet Raban. Dann erzählt der Junge von der gemeinsamen Suche mit seinem Großvater nach Informationen und von den Ergebnissen. »Die Figur habe ich in einem Vogelkäfig verwahrt, der mit Silberfäden überzogen ist. Das ist hoffentlich sicher genug.« Er überlegt kurz, um dann davon zu berichten, was ihm gestern, nach seiner Rückkehr aus dem Museum, widerfahren ist. »Ich konnte keinen Grund für die offene Käfigtür finden. Ich bin sicher, dass sie am Abend vorher noch geschlossen war, wobei der Verschluss zwar nicht verriegelt, aber doch nicht leicht aufzumachen ist. Von alleine kann sich die Tür jedenfalls nicht geöffnet haben.«
»Das ist wirklich seltsam. Aber weder die Figur, noch die gewisperten Worte sagen mir etwas«, erwidert Sorcha. »Die Aufbewahrung in dem Käfig mit silbernem Überzug ist gut gewählt. Silber unterbindet alle mir bekannten Zauberfähigkeiten.« Während dieser Worte wird ihr Blick kurz abwesend, während sie ihre Handgelenke auf ihren Oberschenkeln reibt.
Sorcha kehrt schnell in die Gegenwart zurück und atmet tief ein.
»Die Eule Minerva hatte euch geraten, eine Zusammenkunft aller Zauberer einzuberufen. Unter den Menschen gibt es derzeit mindestens drei Zauberer, von denen du einer bist, Raban. Die beiden anderen, von denen wir wissen, sind Dubharan. Auch wenn die Zauberer des Mondes, so bezeichneten sie sich früher, vor Jahrhunderten auch zu den Versammlungen aller Zauberer eingeladen wurden, kamen sie sehr oft nicht. An dem Versammlungsort herrscht absoluter Frieden, auch zwischen verfeindeten Parteien. Darum sollten wir Gavin und Morgana ebenfalls einladen. Vielleicht lässt sich dadurch ein Krieg vermeiden. Das werde ich übernehmen!«
Die Elfe lächelt in sich hinein. Sie ist auf die Reaktion der dunklen Zauberer gespannt, wenn sie ihnen furchtlos gegenübertritt. Sorcha fährt fort, bevor der Junge, der seinen Mund öffnet, protestieren kann.
»Ich weiß schon, was ich tue, Raban. Vertrau mir. Wenn du möchtest, kannst du mich begleiten, obwohl das nicht notwendig sein wird.«
»Ich komme mit!«, wirft der Junge schnell ein, bevor die Elfe es sich anders überlegen kann.
»Gut. Die Fithich mit Zauberkräften habt ihr bereits vor Wochen ermittelt. Die sollte Röiven also auch informieren.«
»Das geht klar, aber wann und wo treffen wir uns? Außerdem hast du noch nicht berichtet, wie viele der Elfen mit Zauberfähigkeiten du gefunden hast«, krächzt der Kolkrabe.
»Oh. Entschuldigung. Ich dachte, der Versammlungsort wäre bekannt.«
»Coinneamh«, stößt Raban hervor. »Ich kannte den Ort bisher nicht, aber das mir übermittelte Elfenwissen zeigt ihn mir. Ich habe ihn direkt vor Augen.« Der Junge strahlt.
»Das ist richtig«, bestätigt Sorcha. »Das Elfenwissen beinhaltet natürlich diesen Ort. Du könntest jederzeit mittels magischem Sprung dorthin gelangen, besser gesagt, bis in dessen Nähe. Das Wissen ist derart präzise, als wenn du es durch eigene Anwesenheit dort erworben hättest.«
»Halt, mir kommt jetzt auch eine Erinnerung. Die hat mir meine Mutter übertragen. In Coinneamh war ich zwar bisher noch nie, aber ich sehe den Ort auch direkt vor Augen. – Wann treffen wir uns dort?«, fragt der schwarze Vogel.
»Morgen früh. Wir sollten vor Sonnenaufgang eintreffen, damit wir mit dem ersten Sonnenstrahl, also dem Wechsel von der Nacht zum Tag, den Versammlungsort durch den magischen Eingang erreichen können. Das ist zwar täglich, aber jeweils nur zu diesem Zeitpunkt möglich.«
»Das ist soweit klar«, bestätigt Raban. »Aber wie viel Elfen werden außer dir dorthin kommen?«
Das bisher lächelnde Gesicht Sorchas wird ernst.
»Es gibt leider nur noch sehr wenige von uns. Ich sagte euch vor Wochen, dass ich außer meiner Mutter keine Elfe mit Zauberkräften kennen würde. Das war nicht richtig. Eine habe ich gänzlich vergessen, da ich sie schon längst gestorben wähnte: Alveradis.«
»Alveradis«, wiederholt Raban sofort, »die in der Mitte des Landes, in ihrem eigenen, geheimnisvollen Wald lebt?«
»Ja«, bestätigt Sorcha überrascht. Dann lächelt sie verstehend. »Das wusstest du, da ich dir unser Wissen übertragen habe.«
»Möglicherweise«, bestätigt Raban. »Ich hatte aber schon in dem Roman über Eila von ihr gelesen. Sie ist die letzte der Elfen, die dort lebten.«
»Genau. Sie ist auch für eine Elfe schon uralt, aber noch im Vollbesitz ihrer geistigen und magischen Fähigkeiten. Sie ist jetzt eine der oberen Drei und wird morgen dabei sein. – Außerdem habe ich noch zwei weitere Elfen aufgespürt. Ein alter Elf, der sich als Eremit in den äußersten Norden zurückgezogen hat, wird nicht kommen. Er hat schon vor Jahren seine magischen Fähigkeiten verflucht, als ein Hilfeversuch seinerseits völlig daneben gegangen war.
Es gibt noch eine weitere Elfe mit Zauberkräften, die ich am Rande unseres geheimen Waldes angetroffen habe. Sie entstammt einer Familie, die sich seit Anbeginn der Zeit um den Wald kümmert. Ihren magischen Fähigkeiten ist es zu verdanken, dass er geheim und für Menschen verborgen ist. Hineingelangen kann man nur mit dem magischen Sprung oder über den geheimen Weg unseres Außenpostens, den ich bisher nutzte. Außerdem sorgt diese Elfe für das gleichbleibende Klima und das Wohlergehen aller Pflanzen hier. – Sobald sie den Wald verlassen würde, wären ihre gewirkten Zauber sehr schnell unwirksam. Der Wald würde für die Menschen sichtbar und innerhalb kürzester Zeit von ihnen erkundet werden. Was dann aus unserem letzten Zufluchtsort werden könnte, mag ich mir nicht vorstellen. Deshalb wird auch sie der Versammlung fernbleiben müssen.«
»Wenn es nur noch drei Elfen mit Zauberkräften gibt, wird dann die Zeit der Zauberei vorbei sein, wenn ihr sterben solltet?«, fragt Raban bestürzt.
»Es sieht ganz danach aus. Wie dir vielleicht aufgefallen ist, gibt es im geheimen Wald keine Elfenkinder, also existiert derzeit auch nicht die Hoffnung, dass ein junger Zauberer, ob Elf oder Elfe, meinen Platz übernehmen kann. Hätte ich ein Kind, würde meine Zauberkraft nach meinem Tod auf dieses übertragen werden. Ihr erinnert euch sicher an das Ritual im vergangenen Frühjahr. Das funktioniert aber nur in gerader Blutlinie. Mein Bruder käme somit nicht in Frage, der außerdem vor langer Zeit, in der letzten Auseinandersetzung mit den Dubharan, getötet worden ist.«
Eine erste Träne erscheint in Sorchas Augenwinkel und bündelt den Lichtschein des Feuers, das im Kamin flackert. Sie seufzt leise, als sie kurz an Knuth denkt, der ebenfalls vor vielen Jahren gestorben ist. Ihn liebte sie, doch Kinder haben sie nicht bekommen.
Raban und Röiven unterbrechen die Stille nicht. Sie warten, bis die Elfe die Tränen wegblinzelt und fortfährt: »Es könnte sogar sein, dass wir Elfen mit dem Tod des letzten Elfenzauberers aus dieser Welt und aus dem Bewusstsein der Menschen verschwinden. Aber du, Raban, kannst auch zaubern, darum war es wichtig, dir das Elfenwissen zu übertragen. Falls wir Elfenzauberer sterben und ein Elfenkind mit Zauberfähigkeiten geboren werden sollte, musst du ihm unser Wissen weitergeben. Versprichst du das?«
Sorcha blickt Raban fest in die Augen. Der Junge meint, unendliche Traurigkeit darin zu erblicken, aber auch einen Hoffnungsfunken, dass das Fortbestehen der Elfen sicher sei.
»Das verspreche ich. Aber wie könnte ich erkennen, ob ein Elfenkind Zauberfähigkeiten besitzt. Ich meine, wenn es keine Elfe mit Zauberkräften mehr gibt, wer soll es mir dann sagen?«
»Danke für die Übernahme dieser wichtigen Aufgabe. Du nimmst damit eine große Last von mir. Ein Elfenkind mit Anlagen der Zauberkräfte erkennst du daran, dass auf seiner Stirn ein Sonnensymbol zu erkennen ist, auch wenn dieses nur sehr schwach zu sehen ist. – Außerdem gibt es die Fithich. Sie können eine Elfe mit Zauberfähigkeiten erkennen, selbst wenn diese noch ungeübt in dem Kind schlummern. Sie würden dich informieren und auch die Ausbildung des Elfenkindes übernehmen. Aber das wäre nur dann erforderlich, wenn wir anderen gestorben sein würden. Bis zur Geburt dieses Kindes sind die Fithich wichtige Verbündete der Menschen im Kampf gegen das Böse, ob das nun dunkle Zauberer oder andere Kräfte sind. Wenn die Menschen Zutrauen zu ihnen fassen und sie nicht als Boten des Bösen verfolgen, wie das früher oft geschehen ist, können sie ihnen nützlich sein. – Aber nun ist es genug mit düsteren Visionen.«
Mit einer Handbewegung der Elfe stehen Brocken von Schokolade und Haferplätzchen als kleiner Imbiss für sie bereit. Auf dem Tischchen zwischen den Sesseln stehen auch zwei Becher mit dampfender Schokolade und ein Schälchen mit Wasser für den Vogel. Nachdem alles aufgegessen und getrunken ist, brechen sie zu ihrer Mission auf. Röiven verschwindet zuerst, um die Fithich zu informieren.
Sorcha schaut Raban an: »Du bleibst also dabei, du willst mich nach Munegard begleiten?«
»Natürlich. Was ich sage, meine ich auch so.«
»Gut. Dann bringe uns direkt in meine Gefängniszelle. Ich war zuletzt so schwach, dass ich mich nur noch undeutlich an sie erinnere.«
Beide murmeln »Protego« und »Sgiath«, dann spricht der Junge: »Portaro!«
Als das Flirren verschwindet, ist die Bibliothek verlassen.