Читать книгу Schatten der Vergangenheit - Das verfluchte Dorf - Norbert Zagler - Страница 13
ОглавлениеOtto hielt sich in der Küche auf. Die letzten Tage des Aprils waren mit einer empfindlichen Abkühlung gekommen. Die Küche war mit einem Ölradiator gut zu temperieren. Das Wohnzimmer konnte nur mit einem Ölofen oder mit zwei Elektroradiatoren beheizt werden. Ölofen, dass es so was überhaupt noch gab. Auch die miese Heizung ein Grund für die günstige Miete. Otto musste sparen, die Küche genügte ihm, wenn es sein musste, konnte er sehr asketisch leben. Hans Moser, der berühmte Schauspieler, fiel ihm ein. Der hatte den ganzen Winter über nur die Hausmeisterwohnung der Villa in Hietzing bewohnt. Der war geizig gewesen. Geld hätte er genug gehabt. Das fehlte Otto. Lustig war das nicht. Dieses Haus mit der abgefuckten Einrichtung bildete aber die optimale Basis für das neue Geschäft. Die Wohngegend war gut, das große Grundstück ideal. Auf diese Tatsachen würde er eine neue Story seines falschen Lebens aufbauen. Ottos flüssige Mittel schrumpften. Er brauchte dringend frisches Geld. Er wusste aus Erfahrung, dass man bei solchen Plänen auf keinen Fall mit der Tür ins Haus fallen durfte. Die richtige Melkkuh hatte er noch nicht gefunden. Der Solitär für einen Mann wie Otto. Verwitwet nach einem Industriellen, vermögend, ohne jede Verwandtschaft, keine scharfe Denkerin, ausgehungert nach Liebe. Vielleicht ergab sich noch was.
Sogar nach Tagen sandte ihm die Redaktion noch Briefe zu. Eine Lehrerin aus Niederösterreich würde er am Samstag treffen. Otto machte nur mehr einen Termin pro Tag aus. Die vielen Schauspielereien ermüdeten ihn. Und bis Samstag musste er noch die bisherigen Kontakte pflegen. Verena Schmidt, die Beamtin, Erika Ponsel, die Witwe nach einem Diplom Ingenieur, und Martina Egger, die beim ersten Treffen nicht viel über ihre Person verraten hatte. Sie jedoch hatte ihn vieles gefragt. Er hatte alle seine erlogenen und auch halb wahren Geschichten erzählt. Nach dem Rendezvous hatte er feststellen müssen, dass er mehr als sie geredet hatte, was ihm nicht behagte.
Wie auch immer. Otto machte seine Notizen. Eine Seite pro bisherigen Kontakt. Jeder Termin, jedes Detail zur Person, jeder Gesprächsinhalt wurde penibel vermerkt. Wie in einem Sitzungsprotokoll. Anders ging es nicht, um nicht durch die eigenen Lügen aufzufliegen.
Verena Schmidt, Alter ca. 50+, ca. 172, vollschlank, brünett, Kostüm von Versace, Magistra, angestellt bei der Stadt Wien. Kein Auto. Intelligent, interessiert an Kultur. Gespräch über das moderne Regietheater, alles verfremdet. Zustände in Wien, Vorfälle und Gewalttaten in den öffentlichen Verkehrsmitteln, Migranten, vermutlich Blau Wählerin. Modisch gekleidet.
Gesprochen über USA, Ph.D.,
Musikwissenschaft, sonst nichts. Kurz angetönt Investmentgeschäfte.
? Wohnungsverhältnisse
? Verwandte
Erika Ponsel, Alter mindestens 65+, ca. 160, korpulent, Witwe nach einem Dipl. Ingenieur. Eigentumswohnung in der Josefstädterstraße. Kein Auto. Schaut viel TV. Abends traut sie sich nicht mehr raus. Nach 2 Stunden schon die Intimität, dass sie nur mehr eine Brust hat. Kleidung sehr konservativ. Vermutlich ÖVP Wählerin. Muttertyp. Gesprochen über USA, usw.…Selbstständig tätig als Architekt. Stiller Teilhaber bei namhafter Firma des Transportwesens. Verwandte: Achtung eine Tochter!!!
Martina Egger, Alter? Irgendwo zwischen 55 und 65, 174, hager. Keine Kosmetik. Trinkt Kaffee mit Milchschaum und wischt den Milchbart nicht ab. Grauenhaft. Lässt Löffel im Häferl stecken. Manieren? War sehr neugierig, ohne etwas über sich selbst preiszugeben. Vermutlich grün oder links.
? Wohnung
? Verwandte
Fünf weitere Kontakte notierte er nur mit dem Namen, dem Datum und der Telefonnummer. Bei allen Einträgen notierte er noch – je nach Einschätzung - rote Fragezeichen, grüne Pfeile und blaue Wellenlinien oder strich sie ganz durch. In Zeiten des Internets war das altmodisch, hatte jedoch Vorteile. Papier konnte man verbrennen, Daten auf einer gelöschten Festplatte konnten von Experten wieder lesbar gemacht werden.
Vier weitere Briefe versah er nur mit einem schwarzen Fragezeichen. Diese Schreiberinnen schätzte er als zu mühsam und uninteressant ein. Otto erinnerte sich an frühere Aktionen. Da hatte er in seinem Profil besonders Kunst und Literatur angeführt. Eine hatte gleich ein sehr sympathisches Foto mitgeschickt. Beim ersten Treffen hatte er wissen wollen, was sie denn lese. Ergebnis – die Kronenzeitung. Die Frau war wirklich hübsch und sie landeten noch am selben Abend im Bett. Otto hatte vermutet, sie wolle ihn nur veräppeln, aber es gab in ihrer Wohnung wirklich nichts zu lesen, außer der Kronenzeitung und einigen Donauland-Büchern. Eher wollte sie ihn ausnehmen. Der Sex mit der Frau war super. Ihre Frage, ob er ihr Geld leihen könnte, befreite ihn aus der sexuellen Verwirrung des Abends.
Otto stand auf, um ein Glas Wein zu holen. Ein elendes Leben. Er, der Witwer einer amerikanischen Millionärin, musste nun so mühsam nach neuen Geldquellen schürfen. Vielleicht hätte er bei seiner Rückkehr nach Europa doch eine vernünftige Arbeit suchen sollen. Schon was Gehobenes. Nicht Sklave eines Büroalltags. Und nicht nur gut zu leben und den großen Mann zu spielen. Seine Aktienpakete und Fondsanteile hatten hervorragende Renditen erzielt und Otto konnte von den Zinsen leben. Das war ein angenehmes Leben gewesen. Bis zur Lehmann Pleite im Jahr 2008. Er hatte zu spät reagiert und war binnen weniger Wochen vom Millionär zu einem unglücklichen Investor geworden, der sich gezwungen sah frisches Geld für den Lebensunterhalt aufzustellen.
Otto stand seufzend auf, um sich für ein neues Date fertigzumachen. Eine Lehrerin, musisch und sportlich, aus dem südlichen Niederösterreich, nahe der Wiener Hausberge. Vielleicht ganz günstig, nicht alle Projekte in Wien abzuwickeln. Wollte er mehrere Quellen anzapfen, konnte eine Streuung nicht schaden. Momentan schoss ihm die Erinnerung an Beate in den Kopf. Wo waren sie damals gewesen? Bei dem letzten Ausflug? Irgendwo in der Nähe des Semmerings, aber der Name des Ortes wollte ihm partout nicht einfallen. Otto schob den Gedanken beiseite. Er musste sich jetzt auf ein neues Opfer konzentrieren.
Regen! Ein trostloses Wetter. Das Wasser klatschte gegen die große Scheibe der Kurkonditorei Oberlaa am Wiener Hauptbahnhof. Es war zwei Uhr nachmittags vorbei. Iphi war schon am Vormittag gekommen, weil sie auch ein Treffen mit einer Wiener Freundin aus Studientagen ausgemacht hatte. Die hatte wegen einer Erkrankung der Mutter in letzter Minute abgesagt. Iphi war durch die Kärtnerstraße geschlendert und dann vor dem Regen in das Uhrenmuseum im Schulhof geflüchtet. Die Sammlung an Taschenuhren von Marie von Ebner-Eschenbach faszinierte sie besonders. Danach hatte Iphi im Café Korb eine Kleinigkeit gegessen und sich durch einen Berg von in- und ausländischen Tageszeitungen gelesen. Auf dem Weg zum Karlsplatz ging sie noch einmal durch die Kärtnerstraße. Die Schaufenster waren verführerisch, aber Iphi hielt sich zurück. Obwohl sie genug Geld hatte. Aber für Schuhe, ein Kleid oder sonst was ein Vielfaches zu zahlen, nur weil es in der Shopping Meile von Wien zu erstehen war, widerstrebte ihrem praktischen Sinn für Geld und Gut. Lieber kaufte sie in den Geschäften und Boutiquen der nahen Bezirksstädte. Da machte ihr das Stöbern mehr Spaß.
Fast halb drei und der Mann war noch nicht erschienen. Iphi spürte den aufsteigenden Ärger und begann im Smartphone nach dem nächsten Zug zu suchen.
„Frau Lewandowski, entschuldigen Sie, aber wegen des Regens und eines Unfalls gab es einen großen Stau.“
Iphi sah auf und ihr Ärger war verflogen. Vor ihr stand ein wirklich gutaussehender Mann mit einem kleinen Strauß Blumen in der Hand. Sie hatten kein besonderes Erkennungszeichen ausgemacht, aber er hatte sie gefunden. Das war ein gutes Omen.
„Es tut mir leid. Zum Trost ein paar Blümchen.“
„Danke, aber setzen Sie sich doch.“
Otto hatte seine Visitenkarte überreicht, heute war er Carl Otto Mertens, Ph.D. Von einem früheren Geschäftsfall hatte er noch Visitenkarten übrig, kein Grund Geld für neue auszugeben. Seine aktuelle Adresse ließ er sowieso nie aufdrucken. Den Otto hatte er immer eingebaut. Sollte er einmal in Begleitung eines seiner Opfer von jemandem angesprochen werden, der ihn von früher als Otto Sedlacek kannte, so konnte er dieses Ärgernis elegant erklären.
Die nächsten Minuten vergingen mit der Schilderung der Widrigkeiten des öffentlichen Verkehrs in Wien, des Wetters und mit der Bestellung von Kaffee.
„Ich traue mich fast wetten, dass Sie in einem Chor singen? Sie haben eine schöne Altstimme.“
Instinktiv traf Otto einen Sympathie erzeugenden Punkt bei Iphigenie. Das Thema war dann das Leben auf dem Land und die Wichtigkeit von Chören und Kapellen für die Erhaltung der österreichischen Volksmusik. Eigentlich war es egal, was sie redeten. Es hätte sich auch um Probleme zwischen Schiiten und Sunniten oder die Ausgrabungen in Ephesos oder den Borkenkäfer drehen können. Ein interessanter Mann und noch dazu gutaussehend. Wenn er den Kopf drehte, erinnerte er Iphi an Georg Clooney. Er wirkte zwar älter als sie erwartet hatte, aber das war kein Problem für sie. Ein wahrer Gentleman. Er stellte kluge Fragen, interessierte sich auch für den Betrieb in der Schule und bedauerte, keinen Wohnsitz in so einer schönen Gegend, wie es das südliche Niederösterreich ist, zu haben.
Zwischendurch läutete sein Handy. Otto entschuldigte sich und ging nach vorne zu den Stehtischen beim Eingang. Verena wollte wissen, ob er morgen Zeit hätte, sie wüsste ein besonders empfehlenswertes Restaurant. Otto sagte zu und schickte noch einige Floskeln der Freude auf ein Wiedersehen nach.
„Es tut mir leid. Ich bin derzeit in einem Projekt des Crowdfunding involviert, da gibt es kein Wochenende, für meine Partner muss ich immer erreichbar sein.“
„Worum geht es denn?“
„Es ist ein Startup, das mit einem revolutionären Konzept zur Rückgewinnung erneuerbarer Energie in Kürze an die Börse gehen wird.“ Was Besseres fiel ihm im Moment nicht ein. Lächerlich, ein Startup an die Börse, gab es das überhaupt?
Iphi gab sich gewandt. „Das heißt, die ganze Sache läuft schon, aber Gewinne gibt es noch keine.“
Sie selbst hatte außer dem Sparbuch ihres Vaters noch ein eigenes, einige Goldmünzen und überwies monatlichen 100 Euro auf einen Sparplan, für Anteile an einem österreichischen Aktienfond.
„Richtig, aber es ist ein wirklich sensationelles Projekt, mehr darf ich nicht verraten.“
Otto hätte auf die Schnelle eh nicht gewusst, was er noch erfinden könnte.
„Da kann man viel Geld machen, wenn man von Anfang an dabei ist, oder?“ Iphi hatte diese Frage in einem Zustand der völligen Vernebelung gestellt, wozu der inzwischen servierte Prosecco beitrug.
Ottos Sensoren schlugen aus.
„Das wird schwierig, die Startphase ist abgeschlossen. Hätten Sie denn Interesse daran?“
„Wenn es eine seriöse Investition ist, warum nicht? Bei den derzeitigen Zinsen wird das Geld am Sparbuch immer weniger.“
„Richtig, oder man investiert in Gold.“
„Aber der Goldpreis bewegt sich auch nicht wirklich.“
Otto war begeistert. Die Frau war empfänglich für seine Schwindeleien.
„Ich bin im Vorstand, ich werde einmal schauen, was ich tun kann.“
Iphi war zufrieden. So einen Mann, so ein Gespräch, das überstieg ihre Erwartungen an den heutigen Nachmittag. Nach etwa drei Stunden, die für Iphi im Flug vergangen waren, musste sie doch an die Heimfahrt denken.
Sie tauschten die Telefonnummern aus und vereinbarten ein baldiges Wiedersehen.
Beide waren zufrieden. Iphi, weil sie einen interessanten Mann kennen gelernt hatte, der Abwechslung in ihr Leben bringen würde.
Otto, weil er sicher war, in Kürze eine neue Geldquelle anzapfen zu können.
Sie verabschiedeten sich mit einer Berührung der Wangen, die alles und nichts bedeuten konnte.
Iphi bestieg den EC nach Wr. Neustadt. Sie hatte sich noch ein Mineralwasser gekauft und löschte damit die Prosecco-Leichtigkeit. Schließlich musste sie noch Auto fahren. Zeit zum Nachdenken. Eine kritische Stimme in ihr meldete Zweifel an. Manches an diesem Mann wirkte irgendwie aufgesetzt. Bei der Unterhaltung über das Projekt war seine Stimme in eine höhere Lage gekommen. Das erinnerte Iphi an ihre Schüler. Wenn einer log, klang es ähnlich. Aber egal. Ein interessanter Mann trotzdem. Vielleicht ein paar Mal ausgehen. Und dann weitersehen.
Iphi konnte nicht wissen, mit welchem dunklen Charakter sie den Nachmittag verbracht hatte.
Das Telefon riss sie aus der Versunkenheit. Eugen, konnte der Gedankenlesen? „Was willst du?“
Iphi hörte seinen Liebesschwüren eine paar Minuten zu. Früher einmal, an einem einsamen Wochenende, wäre sie bei seinen Worten schwach geworden. Heute und in Zukunft sicher nicht mehr.
„Ich habe dir gesagt, dass es aus ist. Nimm das zur Kenntnis! Lass mich in Ruhe!“ Dann drückte sie den roten Knopf. Heute war sie stark. Es gab einen Mann, der sich für sie interessierte, und der war nicht der Einzige! Die mit Eugen vertanen Monate taten ihr nicht leid, aber jetzt war Schluss damit. Ihr Leben würde eine neue Wendung nehmen!
Einige im Kirchenchor glaubten an die Macht der Sterne. Iphi hielt nichts davon. Sie war zu rational geprägt. Das würde sie aber nicht hindern, sich eine neue Wendung des Lebens voraussagen zu lassen. Schaden konnte es nicht. Auch eine Art von Voodoo-Zauber.