Читать книгу Schatten der Vergangenheit - Das verfluchte Dorf - Norbert Zagler - Страница 9

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Verena Schmidt stand nackt vor dem Spiegel im Vorzimmer. Also nicht ganz nackt, Höschen und BH, vor kurzem bei Palmers erworben, hatte sie an. Sie drehte sich hin und her und freute sich, dass die Figur nicht aus dem Leim gegangen war, soweit wollte sie es nicht kommen lassen. Sie war vollschlank, kein am Hungertuch nagendes Haut-Couture-Model, genau jene Figur, die viele Männer liebten. Verena hatte einige Kolleginnen, die ihren Frust über den falschen Mann mit Essen kompensierten. Sie war da anders. Viele Frösche hatte sie geküsst. Ein paar hatten sich in einen Prinzen verwandelt, um nach kurzer Zeit wieder in das grüne Kostüm zu schlüpfen. Ein jeder in der Meinung, die Frau läge ihm nun zu Füßen, jede weitere Anstrengung sei überflüssig. Das glaubten sie so lange, bis Verena mit ihrem Fuß draufgetreten war und das Hüpftier zerquetscht hatte. Sinnbildlich halt.

Sie war nun im fünften Jahrzehnt ihres Lebens und noch immer auf der Suche nach einem Mann, bei dem es Klick machen würde, bei ihr und auch bei ihm. Schlecht war es ihr in den Jahren der Affären nicht ergangen. Manche Verabschiedungen waren einfach, andere etwas schmerzlicher. Dann genoss Verena den Schmerz, gab sich ihm hin. Vielleicht für eine Woche oder auch zwei, aber dann war es vorbei. Also ein Indiz, dass die ganze Sache keinen Tiefgang gehabt hatte. Das beste Mittel gegen Liebeskummer war Shoppen. Eine Tour durch die City, eine neue Bluse, ein neues Kleid, Ohrhänger mit Amethyst oder ein Ring mit Bernstein, alles wirksamer gegen Liebeskummer als Essen oder Beruhigungsmittel. Oder ein Urlaub, bei dem dann ein neuer zu erlösender Frosch auftauchen konnte.

Akademiker, 50+, 184, NR, sucht feminine Begleiterin für kulturelle Veranstaltungen und Wanderung in der Natur. Diese Erlebnisse sollen die Basis für einen Gedankenaustausch und gemeinsame Stunden bilden. Zuschriften unter „13677825“ an die PRESSE.

So war es an einem Samstag in der PRESSE Rubrik – Er sucht Sie - zu lesen. Verena hatte ein kurzes Schreiben verfasst, ohne allzu viel von sich preiszugeben, allerdings hatte sie ihre Handynummer angegeben, sie hatte nichts zu verbergen. Und gegen einen lästigen Anrufer würde sie sich zu wehren wissen. Acht Tage später läutete gegen sechs Uhr abends das Telefon. Verena war ganz Ohr. Eine angenehme, sonore Stimme. Er habe einige Zuschriften erhalten, ihr Brief habe ihm besonders gut gefallen und er würde sie gerne kennenlernen.

Das beruhte auf Gegenseitigkeit und es wurde für den nächsten Sonntag ein Rendezvous im Café Diglas in der Wollzeile vereinbart. Nach Verenas Erfahrungen ein gutes Zeichen, denn verheiratete Männer hatten an einem Wochenende nie Zeit. Als Erkennungszeichen würde die PRESSE am Tisch liegen. Der neue Frosch würde ein dunkelblaues Leinensakko tragen und eine flaschengrüne Krawatte mit schmalen roten Querstreifen und kleinen goldenen Wappen anlegen.

Verena war es recht so. Wenn er ihr nicht gefiel, konnte sie jederzeit das Café verlassen, ohne sich zu erkennen zu geben. Nach dem kurzen Gespräch war sie aufgeregt. Sie wusste nicht einmal seinen Namen. Er hatte sich am Telefon vorgestellt, aber Verena hatte das nicht genau verstanden und wollte nicht nachfragen. Im Moment war es ihr egal. Einen Teil des Abends verbrachte sie vor dem vierteiligen Kleiderschrank in vollkommener Unschlüssigkeit. Das Date war für Sonntag, zwei Uhr, ausgemacht. Heute war Donnerstag, sie hatte also genug Zeit, sich am Freitagnachmittag in der City nach der neuesten Frühjahrsmode umzusehen. Geld sollte dabei keine Rolle spielen.

Das Haus muffelte wie immer, wenn Otto es nach Wochen der Abwesenheit wieder aufsuchte. Kein Wunder, alles war alt, abgewohnt, seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, nichts erneuert. Möbel aus dem vorigen Jahrhundert, für Nostalgiker alles von großem Reiz. Ihm war es egal. Er hatte es für ein Jahr über einen Makler gemietet und im Voraus bezahlt. Der Makler, eine zwielichtige Gestalt, war froh, die Provision in bar zu kassieren. Er hatte das Geld genommen, ohne von Otto einen Ausweis zu verlangen. Der Eigentümer lebe in England und dem sei alles egal, der sei vermögend, wolle nichts investieren, verkaufen jedoch auch nicht. Zuletzt sei das Haus vor zwei Jahren an ein junges Paar vermietet gewesen. Als denen das Geld ausging, mussten sie ausziehen, so erzählte ihm das der Makler. Ein Kabinett war mit einer grellroten Farbe ausgemalt, die in den Augen schmerzte. Egal, Otto musste es nicht betreten.

Das Haus passte sehr gut zu seinen Plänen. Die Miete war günstig, er hatte das Geld von seinem Kapital genommen, das dahin schmolz wie der letzte Schnee in der Märzsonne. Am Zustand des Hauses hatte er nichts geändert. Er hatte nur die Fenster geputzt, Küche, Bad und Klo gereinigt, die Teppiche und Sitzmöbel gesaugt, dann war das Haus benutzbar, vorausgesetzt einer wollte es nicht für den Rest seines Lebens zum Wohnsitz machen. Er öffnete alle Fenster und Türen und ging hinaus in den Garten. Der war, im Gegensatz zum Haus, sehr erfreulich anzusehen. Zumindest nach seinem Geschmack. Ein großes, verwildertes und verwachsenes Areal, in dem sich einer verlieren konnte. Das war eine Umgebung, die zum Verstecken einlud. Sich verbergen vor neugierigen Blicken. Die Gärten mit weiten Rasenflächen hatte er nie gemocht. Die Rückfront bildete die Mauer des Friedhofs Rodaun, rechts und links grenzten Gärten an. Dichte Thujen an den Zäunen aus Maschendraht verwehrten von außen den Einblick in das Grundstück. Vorne an der Kheckgasse, einer stillen Rodauner Seitengasse, boten sich nur die Küchenfront und die Fenster des Klos und Abstellraums dem neugierigen Passanten. Aber da ging sowieso selten jemand vorbei.

Mit einem Glas Zweigelt setzte er sich hinter dem Haus in einen der alten, stoffbespannten Liegestühle. Nostalgie in Reinkultur. Das Leben hier ließe sich genießen, wenn seine Finanzlage nicht so prekär wäre. Für morgen hatte er Termine im Café Mozart und im Café Museum ausgemacht, für übermorgen im Café Diglas und im Prückl. Bei ihm hieß das immer nur Termin, nicht Rendezvous. Schließlich handelte es sich ja um ein Geschäft, irgendwie halt. Auf seine Annonce hatte er in der Vorwoche zwölf Briefe erhalten. Heute hatte er noch ein Sammelkuvert der PRESSE vorgefunden. Nochmals fünf Zuschriften. Er bevorzugte dieses altmodische System der Akquisition. Da konnte er seine wahre Identität leichter verbergen, als wenn er seine Fühler übers Internet ausstreckte. Bei diesen Betrügereien kannte er sich nicht so gut aus. Aus der ersten Welle der Briefe hatte er neun ausgewählt. Nach einem System, das er auf Grund seiner jahrelangen Erfahrungen mit Frauen aufgestellt hatte. Drei Schreiben waren gleich in der Rundablage gelandet. Krakelige Schrift, wenige Zeilen, strotzend von orthografischen Fehlern. Das wollte er sich nicht antun, ein wenig Spaß sollte es doch machen. Die Post von heute würde er sichten. Wenn da weitere interessante Damen dabei waren, konnte er das am darauffolgenden Wochenende erledigen. Und dann die Arbeit im Detail angehen. Zu viel auf einmal erforderte eine genaue Planung. Bei so vielen Namen war es kompliziert. Er war nicht mehr der Jüngste. In der Anzeige hatte er 50+ geschrieben. Heuer hatte er den sechzigsten Geburtstag gefeiert. Also nicht wirklich gefeiert. Es gab niemanden, der ihm gratuliert hätte. Die Feier bestand in einem Besäufnis mit dem teuersten Rotwein, den er in einem Super-Markt hatte finden können. Und mit Erinnerungen an Patricia, an Hongkong, an Gwendolyn, an New Jersey, an das prachtvolle Anwesen in Montvale. Und an vieles andere, an das er nicht hatte denken wollen. Wie auch immer, Geburtstage waren eh nicht interessant. Man glaubt nur, einen gewissen Tag feiern zu müssen. Weil man sich für wichtig hält. Weil man glaubt, für andere wichtig zu sein. Das mit fünfzig plus ging locker durch. Niemand würde ihn auf sechzig schätzen. Als Knabe in der Pubertät hatte er gelitten, weil der Bart nicht sprießen wollte. Alle Freunde konnten am Kinn herum schaben, nur bei ihm tat sich nichts. Nun war die späte Entwicklung ein Vorteil.

Otto Karl Sedlacek war immer ein Schwindler gewesen, ein Angeber. Mehr scheinen als sein. In den letzten Jahren hatte er sein Leben nur durch krumme Geschäfte finanziert. Er hatte schon gearbeitet, aber immer nur den bequemsten Weg gesucht und auch gefunden. Davor hatte er sich von zwei Ehefrauen erhalten lassen. Sein gutes Aussehen und die glatten Manieren, seine Eloquenz und Belesenheit hatten die Frauen fasziniert. Seine Erscheinung war das einzige Kapital, das noch nicht verbraucht war. Und nun war es an der Zeit, es wieder zu nützen. Bevor die Zeit auch das in Falten legen würde.

Der Abend war lau, der Frühling hatte im Garten sein Werk begonnen, aber trotzdem konnte Otto sich nicht entspannen. Er kreiste im Labyrinth des Gartens, weil er ruhelos war. Vom Wein war er noch nicht genug betäubt, um nicht an jenen Tag im Frühling des vorigen Jahres denken zu müssen, an dem sich die unglückliche Affäre mit Beate erledigt hatte. Also nicht direkt durch ihn, aber irgendwie doch.

Otto wollte den Namen aus seinem Gehirn verbannen. Darum hatte er es als Fall B. bezeichnet, als ob es sich nicht um einen Menschen gehandelt hätte, sondern um eine Sache, einen schlecht verlaufenen Geschäftsfall. Diese Frau, mit ihrer maßlosen Überheblichkeit, hatte geglaubt, ihn in die Knie zwingen zu können. Natürlich war sie ihm geistig überlegen. Sie musste seine substanzlose Attitüde des Intellektuellen bald durchschaut haben, aber in ihrer schwärmerischen Verliebtheit hatte sie das lange verdrängt. Nach und nach war ihr ein Licht aufgegangen. Und nicht nur das. Sie hatte begonnen, ihn zu überwachen. Als sie Klarheit über seine Scheinexistenz, Schauspielerei und Verlogenheit gewonnen hatte, war sie ihm gefährlich geworden. Sie wollte ihn blamieren und hatte mit einer Anzeige gedroht. Während einer kleinen Wanderung im Wechselgebiet war es zum Eklat gekommen. Beate hatte ihn mit einer Nagelfeile attackiert. Sie wollte ihm das Gesicht zerschneiden. Er hatte sich wehren müssen. Sein Gesicht war das einzige Kapital, über das er verfügte. Vielleicht war seine Abwehr zu hart gewesen. Beate war auf der Forststraße gestürzt und liegengeblieben. An das, was dann geschehen sein mochte, wollte er nicht denken. Er war bis zum Wirtshaus in dem kleinen Dorf gewandert und hatte sich dort betrunken. Er hatte nichts mehr von Beate gehört. Hatte sie sich wirklich umgebracht? Otto lebte in so vielen Scheinwelten, dass er beliebig an etwas glauben oder es leugnen konnte. Und was war mit den Beweisen für seine Betrügereien, mit denen sie immer wieder gedroht hatte? Die Polizei war nicht bei ihm erschienen. Schuldig fühlte er sich nur in geringem Maß. Und mit dieser Sicht der Dinge beruhigte er sich selbst. Seine immense Fähigkeit, alles zu verdrängen, hatte sich schon früher bewährt. In letzter Zeit jedoch war ihm das schwergefallen. Der Fall B. war doch ganz anders als die unzähligen Affären der letzten Jahre. Eigentlich war es dabei gar nicht um Geld gegangen wie sonst. Der Sex hatte ihn süchtig gemacht. Sie war ein Vulkan im Bett, jede Stunde mit ihr glich einer Lesung aus dem Kamasutra. Otto hatte nie versucht, bei ihr Geld herauszuholen. Er hatte sie quasi als Zweitfrau halten wollen. Aber natürlich hatte er andere Frauen getroffen, die seinem Geschäftsmodell entsprachen. Schließlich musste er Geld verdienen. Beates Eifersucht hatte zu gewaltigen Streitereien geführt. Heute war er von Bad Hofgastein zurück nach Wien gekommen. Dort hatte er eine Zeitlang die Witwe eines deutschen Industriellen hofiert und auf deren Kosten gut gelebt. Er wurde alt. In früheren Zeiten wäre er nach Paris oder sonst wohin geflogen, um mit einer neuen Umgebung neue Projekte zu beginnen. Nun musste Bad Hofgastein genügen. Das Budget gab großartige Reisen nicht mehr her. Jedenfalls waren neue Kontakte dringend erforderlich, um die Finanzlage zu verbessern. Mit diesen Gedanken ging er ins Haus und trank weiter. Der Fall B. musste weggeschwemmt werden. Der ging ihm manchmal doch auf die Nieren.

Montagabends um sieben Uhr Chorprobe. Iphigenie freute es heute gar nicht. Nach Schulschluss hatte sie sich mit Eugen im Café im Nachbarort, etwa 10 Kilometer entfernt, getroffen. Da war sie schon schlecht gelaunt gewesen. Sie hatten eine Weile über die Herausforderungen ihres jeweiligen Schultages geredet.

„Iphi, fahren wir in die Bücherei?“, fragte Eugen und setzte sein charmantes Lächeln auf, dem sie so oft verfallen war. Fesch war er ja, ähnelte ein wenig Joachim Fuchsberger, einem Filmstar der 60-er Jahre. Eugen war fast acht Jahre älter als Iphi. Grau an Haupt und Schläfen, gerade diese Reife hatte sie in seine Arme geführt. Anflüge eines Vater-Komplexes hatte Iphi sich eingestanden. Ihr Vater, Professor für Deutsch und Griechisch, war fast bis zu ihrem dreißigsten Jahr der bestimmende Teil ihres Lebens gewesen. Iphigenie Clarissa war sein Ein und Alles und ihre späte Heirat hatte ihn schwer getroffen. Die Ehe war nur vier Jahre lang gut gegangen, dann hatte die Unreife ihres etwas jüngeren Mannes und ihre eigene Starrsinnigkeit, ein Auf und Ab von Streitereien und anschließenden Versöhnungen letztendlich doch zur Scheidung geführt.

Bücherei war das Codewort für den Parkplatz beim Wanderweg zur Schutzhütte am Lärchenkogel. Den Code konnten sie auch benutzen, wenn sie in einer Runde von Kollegen zusammensaßen. Unter der Woche war kaum jemand unterwegs zur Schutzhütte. Eugen stellte sein Auto etwas weiter weg ab und stieg zu ihr ein. Sie schmusten und vögelten am Rücksitz wie Teenager. Wann immer er seine Abwesenheit für eine oder mehrere Nächte zu Hause mit beruflichen Erfordernissen begründen konnte, war sie ihm nach Wien oder sonst wohin gefolgt. Dann verbrachten sie die Nacht miteinander. War der sinnliche Rausch dieser wilden erotischen Stunden verflogen und wenn sie ermattet nebeneinander im Bett lagen, hatte Iphi immer die Frage gestellt, wann er sich endlich von seiner Ehefrau trennen würde. Die Antwort war immer die gleiche. Sie müsse verstehen, dass er die Kinder nicht allein lassen könne. Er liebe seine Frau nicht, die Ehe sei zerrüttet. Seine Frau und er würden nur wegen der Kinder und seiner Stellung als Direktor des Gymnasiums den Schein wahren. Sobald die Kinder großjährig wären, würde er die Scheidung einreichen. Iphigenie hatte sich beruhigen lassen, hatte sich bereitwillig immer wieder dem Selbstbetrug hingegeben.

Aber heute war alles anders. Gestern abends war sie zu einem Entschluss gekommen.

„Nein, heute nicht und morgen nicht und nie mehr!“ Das kam schärfer heraus als sie beabsichtigt hatte. Es war, als müsse sie ihren Standpunkt durch lautes Verkünden vor sich selbst verteidigen.

„Iphi, was ist denn? Du weißt doch, wie es mir geht!“

Er denkt nur an sich selbst, ging es ihr durch den Kopf.

„Es muss einmal eine Entscheidung geben, entweder für deine Frau oder für mich!“

„Aber gerade jetzt kann ich mich nicht scheiden lassen. Ich habe vorige Woche erfahren, dass ich gute Chancen für die Stelle des Bezirksschulinspektors habe. Eine Scheidung geht jetzt gar nicht!“

Iphigenie überfiel von einem Moment auf den anderen eine Gleichgültigkeit. Wie banal ist das Gerede, dachte sie, wie viele Paare auf der weiten Welt führen diese Diskussion. Warum habe ich mich diesem Mann immer wieder in die Arme geworfen? Nur aus Einsamkeit? Iphi verfügte über genug Selbstkritik um sich einzugestehen, dass auch ihr Bedürfnis nach Sex eine Rolle gespielt hatte. Aber einmal musste Schluss sein!

Sie stand auf und sagte: „Überlege es dir, es ist deine Entscheidung!“, und verließ den verdutzten Eugen und das Lokal.

Sie fuhr schnell weg, als gäbe es hier eine Gefahr für sie. Erst zu Hause fragte sie sich, was heute in ihr vorgegangen sei, fand aber keine Antwort. Vielleicht war es richtig so, vielleicht auch falsch. Iphi war mit sich selbst nicht im Reinen. Und darum war sie schlecht gelaunt, wollte die Chorprobe spritzen. Ihr Pflichtgefühl, auch wenn es nur um die Probe ging, ließ sie ihren Entschluss ändern. Außerdem würde sie auf andere Gedanken kommen. Und noch was ging ihr durch den Kopf. Elli, die Gemeindesekretärin, sang auch beim Chor, die konnte sie zu dem Haus im Wald fragen. Dieser Gedanke war jäh entstanden. Nur fragen halt, nichts weiter. Schließlich sollte man in einem kleinen Dorf die Leute kennen.

Nach neun Uhr abends war die Probe beendet. Ave Verum Corpus von Mozart und Die Waldandacht, ein altes deutsches Lied, und noch einiges anderes, standen für Ostern auf dem Programm. Besonders ersteres machte den Männern vom Bass Probleme. Die Tenöre meisterten alle Passagen müheloser, desgleichen die Damen vom Alt und Sopran, die die Mehrheit im Chor bildeten. Überhaupt waren die Damen die Viferen, merkten sich die Texte leicht, fanden schneller in ein Stück hinein. Elli sang mit glockenheller Stimme das Solo in der Waldandacht, und dann war Schluss für diesen Abend.

Einige eilten nach Hause, der Rest blieb bei dem einen oder anderen Gläschen im Wirtshaus sitzen. Am Stammtisch konnte es eng werden, aber das störte niemanden. So entwickelten sich einzelne Gesprächsrunden, je nachdem, wen man gerade zum Nachbarn hatte. Wie meistens, saß Iphi neben Elli und Jutta. Sie erzählte ihr vom gestrigen Spaziergang, dem alten Haus mit dem seltsamen Mann und dem Brand in der Küche.

„Das hätte aber gefährlich werden können.“

„Ja, drum musste ich dahin!“

„Hast du keine Angst gehabt?“

„Ich habe nicht nachgedacht. Ich habe den Rauch gesehen und bin hinunter marschiert. Der Bertl war ja bei mir.“

„Ob dich der beschützen kann? Du allein mit dem Mann in dem Haus, ich weiß nicht…“

Elli hatte eine lebhafte Fantasie. Kein Wunder bei den Nachrichten, die einem von Zeitungen und TV täglich serviert wurden.

„Wer lebt denn in dem Haus? Weißt du was über den Mann?“

„Nein. So wie du das schilderst, ist das die Nordseite von der Tannleiten, das gehört nicht mehr zu unserer Katastralgemeinde.“

Barbara mischte sich in die Unterhaltung ein:

„Ist das nicht das Geisterhaus?“

„Was?“

„Ja, das könnte es sein“, sagte Jutta. „Meine Großmutter hat das erzählt. Das Haus hat ein älterer Mann aus dem Tal drüben gebaut. Der wollte mit seiner Frau da leben. Die war etliche Jahre jünger und ist ihm bald davongerannt.“

„Und dann hat er sich auf der Veranda aufgehängt und ist erst nach Wochen gefunden worden“, ergänzte Elli.

„Und dort solle es jetzt geistern?“ Iphi war skeptisch. „Also ich habe nichts bemerkt. Der Mann, der jetzt dort wohnt, war durchaus lebendig!“

„Bei Tag sicher nicht, aber in der Nacht…!“

Jede aus der Runde wusste auf einmal etwas zu der gruseligen Geschichte.

„Zweimal haben Leute darin wohnen wollen und sind nach kurzer Zeit wieder ausgezogen, weil sie es nicht ausgehalten haben.“

„Ich glaube nicht an Geister!“

„Gib es zu, der Mann interessiert dich! Wie hat denn der ausgesehen? Ist er fesch?“

Iphi versuchte Elli eine Beschreibung des Mannes zu geben, tat sich aber schwer dabei. Das Bild in ihrem Kopf war diffus. Ein Gesicht voller Falten und Kanten.

„Ich kann es nicht sagen. Er ist nicht mehr jung, noch nicht alt, irgendwie wirkt er verwahrlost. Nein, nicht verwahrlost, eher wie einer, dem es egal ist, was er anhat.“

„Kein Wunder, wenn er allein im Wald haust.“

„Also, der interessiert dich schon, oder?“

Iphi wehrte ab, als müsse sie sich gegen eine unsittliche Anschuldigung wehren. „Was denkst du denn? Der ist mir doch viel zu alt! Es ist nur seltsam, dass sich ein Mensch so ein einsames Leben im Wald aussucht.“

„Spinner gibt es genug. Vielleicht ist der untergetaucht, vielleicht ist er ein gesuchter Verbrecher.“

„Geh, hör auf, was du dir schon wieder ausdenkst. So gefährlich schaut er nicht aus.“

„Na du bist naiv. Glaubst du, man kann einem Menschen im Gesicht ablesen, was für einen Charakter er hat?“

„Das nicht, aber gewisse Eigenschaften kann ich schon bei einem Kind erkennen. Die zeigen sich ganz früh. Aber du hast natürlich Recht. Ein Erwachsener kann sich verstellen.“

„Also sei vorsichtig!“

„Aber ich geh´ doch dort nicht mehr hin.“

„Vielleicht kann ich einmal die Kollegin im Stadtamt fragen, ob die etwas über den Einsiedler weiß.“

„Wie du glaubst, so wichtig ist es ja nicht.“

„Wie heißt der denn, weißt du das?“

„Nein, er hat sich nicht vorgestellt.“

Elli schüttelte den Kopf. Sie machte sich Sorgen um ihre Freundin. Iphi wechselte das Thema. Sie hatten genug zu bereden. Alle wussten von Iphis Verhältnis mit Eugen. So konnte sie ihr Herz erleichtern. Die anderen auch, denn das Leben in einer Zweierbeziehung verlief nie ohne Reibungen. Es wurde ein langer Abend mit vielen Aperol Spritzern.

Schatten der Vergangenheit - Das verfluchte Dorf

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