Читать книгу ich du er sie es - null DERHANK - Страница 15
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ОглавлениеDu siehst ihn zuerst, den Thomas, der mit nur 20 Minuten Verspätung den Platz betritt. So alt, schon wieder dieses A-Wort, aber Thomas ist wirklich fürchterlich alt geworden, ein drahtig-schlacksiger Methusalem mit weißblonden Struwweln und einem flusigen, aus sich herausgewachsenen Dreitagebart, nichts Gefärbtes darin, man sieht gleich, dass Thomas' einstige Mähne nicht auf die gewöhnliche Art ergraut ist, sondern sich vom ursprünglichen Kastanienbraun in das eigentümlich schlohige Gelb alter Männerhaare verwandelt hat. Alt, aber bunt ist er.
Mit einem Mal wird dir bewusst, dass nur du schwarz-weiß geblieben bist: Wo bei dir bestenfalls die Riemen aus Rindsleder für ein wenig warmes Ocker vor dem Filzgrau deiner Jacke, dem Dunkelgrau deines langen Wanderrocks und dem Lackschwarz deiner Schnürstiefel sorgen, da ist bei Thomas alles von grellbunten Farben, Mustern und Symbolen übersät. Bei ihm baumeln Textilschlaufen, klimpern Metallnippel und schlackern Schnallen aus Plastik. Hut und Jacke sind aus leuchtender Kunstseide oder eher aus diesen neumodischen künstlichen Antischwitztextilien, das Brillengestell ist rot und die Hose grün, kaum mehr als solche zu bezeichnen, so viele Veränderungsmöglichkeiten versprechen die Reißverschlüsse und aufgenähten Taschen. Und er hat ein Ungetüm von Rucksack umgeschnallt, mit dem man den Mond besteigen könnte.
Thomas ist im Alter also ein farbenprächtiger Kerl geworden, wettergegerbter Abenteurer, Bergsteiger, Ozeansegler und Wüstendurchquerer, ohne ihn das fragen zu müssen, ohne seit Jahrzehnten irgendetwas von ihm gehört zu haben, weißt du sofort, dass dieser Thomas längst die ganze Welt hinter sich hat. Dass für ihn der Pilgerweg von O nach M keine Wanderung werden würde, sondern eine Gefälligkeit; eine Gefälligkeit einer alten Dame gegenüber, eine Gefälligkeit dir zuliebe. Dir nichts zutrauend und sich aber nichts draus machend, dir sogar helfen wollen würdend, völlig ignorierend, dass du nicht einen Tag älter bist als er, dass vielmehr er als der um Jahre (so war es dir damals vorgekommen) ältere Sitzenbleiber eines Tages auf die Schulbank neben dich gesetzt worden war.
Thomas!, sagst du, als er dich entdeckt und auf dich losmarschiert, als wolle er dich umrennen, und statt ihm die Hand zu geben, steckst du dir den kleinen Finger dieser Hand ins rechte Ohr, das heute mal wieder besonders verschlagen ist; dieses Ohr, denkst du, statt dich auf ihn zu konzentrieren. Er wird von deiner Reserviertheit ausgebremst, hebt die Arme, was aussieht wie Schulterzucken, und dann sagt er etwas, was du mit dem Finger im Ohr nicht verstehst, weil ausgerechnet jetzt auch das andere Ohr verrückt spielt, aber er wird deinen Namen gesagt haben, oder Hallo oder so etwas, du erschrickst fast wegen des Fingers, weil sich das nicht schickt, du ziehst ihn wieder heraus und reichst ihn, nein, reichst deine ganze Hand deinem Gegenüber, ziehst sie aber, bevor er danach greifen kann, wieder zurück, wischst dir den vermeintlichen Ohrdreck ab und endlich Händeschütteln und Wiedersehensworte, an die du dich schon Sekunden später nicht mehr erinnern kannst, und das nicht, weil du dement bist, sondern weil das alles viel zu aufregend ist, so einen uralten Freund wiederzusehen. Statt also auf den Moment zu achten, geht dir der Tag seines Anrufs durch den Kopf, diese naive Freude, die über dich gekommen war, so überraschend, nach 50 oder mehr Jahren, und du gerade damit angefangen hattest, nicht mehr in Trauerfarben zu gehen, du dich gerade wieder ein wenig frei gefühlt hast, ausgerechnet an diesem ersten warmen Tag im März hat er dich angerufen und über alte Zeiten das Plaudern angefangen. Wie, als wäre alles erst gestern gewesen. Die Schulzeit, diese viel zu kurzen Abende nach dem Hallenturnen, und kein Wort trotz so vieler Worte über jenen einen besonderen Moment damals.